Professor Ada Aharoni wurde in Kairo geboren und kam 1950 alleine nach Israel. Sie ist Schriftstellerin, Dichterin und Soziologin, unterrichtete an der Universität Haifa englische Literatur und Konfliktlösung am Technion. Sie publizierte 37 Bücher, von denen einige Preise erhielten und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden.
Das folgende Kapitel ist dem historischen Roman „Vom Nil zum Jordan“ (Ivrit, 2021) entnommen, der auf Aharonis Lebensgeschichte basiert. Nach 1948 wurden die Juden aus Ägypten vertrieben. Von 100000 Juden blieben noch fünf Witwen.
Die Hauptpersonen des Buches heißt Clairette, aus Kairo, und ihr Freund Rolf, der aus Nazi-Deutschland geflüchtet ist. Clairettes Vater, Abramino, erklärt seiner Mutter, der Nona Sina, dass sie das Land verlassen müssen, aber die Nona Sina will neben dem Grab ihrer Eltern begraben werden.
Die Bedienstete Na’ima weint. Es ertönt ein gewaltiger Knall, und die traurige Tragödie wird offenbar.
Die Nona Sina
Der zweite Auszug aus Ägypten
Ein schrecklicher Lärm
Ein schrecklicher Lärm ertönte plötzlich aus der Eingangshalle des Haus Mosseri in Kairo, als bräche das ganze Haus zusammen. Danach erschallten ein Schrei einer Frau und der Lärm von zerbrechendem Porzellan. Etwas Schweres stolperte die Treppen hinunter, und danach herrschte eisige Stille. Clara Mosseri und der Koch Abdul eilten zum Eingang, wo sie etwas Schreckliches erwartete. Die Nona Sina, Claras Großmutter, lag reglos am Fuß der Treppe, klein und eingeschrumpft. Um sie herum lagen Porzellan- und Kristallscherben, und das Wägelchen, das offenbar das teure Familiengeschirr trug, lag zerstört daneben.
Clara erbleichte, ein kalter Schauer lief ihren über den Rücken. „Rufe schnell einen Krankenwagen und telefoniere Vater“, sagte sie Abdul, während sie sich bückte, um ihrer Großmutter den Puls zu fühlen. Im Erste-Hilfe-Kurs in der „Maccabi“-Jugendbewegung hatte sie gelernt, dass das Wichtigste ist, den Verletzten nicht zu berühren, bis der Arzt kommt. Nona atmete noch, aber ihr Atem war schwach.
Die Bedienstete Na’ima und der Gärtner Mohammad liefen herein.
„Vielleicht bringen wir sie nach oben ins Bett?“ fragte Na’ima leise.
„Nein, der Arzt muss sie zuerst sehen“, flüsterte Clara mit zitternder Stimme.
„Was ist geschehen?“ fragte Mohammad. „War das ein Unfall, oder hat sich die Nona Sina absichtlich zusammen mit dem Wägelchen mit all dem teuren Kristall hinabgestürzt?“ Na’ima bedeutete ihm, er solle schweigen, nagelte ihn mit einem wütenden Blick fest, der ihm vorwarf, so etwas in Claras Gegenwart zu fragen. Er machte ein Zeichen, dass Clara seine Frage bestimmt nicht gehört habe. Aber er irrte sich. Seine Frage begleitete sie ihr ganzes Leben, sie konnte die Antwort zwar erraten, aber sicher konnte sie nie sein.
Plötzlich öffnete die Nona Sina die Augen, und ihr verschwommener Blick traf den Claras, die neben ihr kniete. Sie versuchte mit Mühe, ihren Mund zu öffnen, um etwas zu sagen, aber schaffte es nicht. Am rechten Ende ihres Mundes, der wie eine Naht eines alten Fußballes aussah, rann ein Tropfen Blut. Clara streichelte sanft das Haar ihrer Großmutter. Schließlich ertönte ihre Stimme, als käme sie von weit her: „Liebe Clara, fahre nach Jerusalem, für mich und für deine Mutter…“, flüsterte sie, mit einem halben, schiefen Lächeln. Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, aber er fiel hintunter auf den Boden und neigte zur Seite. Ihre Augen waren noch offen, aber leblos. Sie waren auf eine blau-weiß Kristallscherbe gerichtet, die neben ihr auf dem Boden lag. Clara spürte, wie ihr Puls in ihrer Hand stoppte. „Nein, Nona!“ weinte sie, hilflos. Die Tränen flossen ihr aus den Augen. „Nein, verlass mich jetzt nicht! Ich brauche dich jetzt, wo sie uns aus Ägypten vertreiben, mehr als jemals! Wir werden zusammen nach Jerusalem fahren…“
Sie erinnerte sich jetzt an die Mund-zu-Mund-Beatmung, die sie Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Sie versuchte verzweifelt, Luft durch die kalten Lippen ihrer Großmutter zu blasen. Sie blies und blies, während die Tränen auf Nonas Gesicht tropften, das immer blauer wurde. Sie hielt erst inne, als ihr Vater und Doktor Misrachi kamen. Der Arzt musste traurig Sinas Tod bestätigen.
Der Richter Abramino fiel auf den Sessel, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah Clara ihren Vater leise weinen.
„Ich bin schuld“, murmelte er. „Ich wollte sie zwingen, den „zweiten Auszug aus Ägypten“ zu akzeptieren, aber sie wollte hier begraben werden, neben ihren Eltern, und neben ihrer Tochter, deiner Mutter, Isabelle…“
Clara empfand, dass etwas in ihm, wie auch in ihr, zerbrach. Ein bittersüßer Geschmack füllte ihren Mund. Vom Versuch, sie wiederzuleben, blieb Claras Blut auf ihren Lippen und für immer in ihrer Erinnerung.
Die Nona Sina wurde im jüdischen Friedhof von Bassatine in Kairo neben ihrem Vater und ihrer Mutter begraben, so wie sie es wollte. Die ganze Familie Mosseri von weit und breit, sowie unzählige Freunde und Bekannte, begleiteten sie auf ihrem letzten Weg. Sogar von Alexandria und von Port-Said kamen viele, um sich von der beliebten und bewunderten Sina Mosseri zu verabschieden.
Für die meisten war das ein letztes Zusammenkommen, und sie wussten es. Das Wissen darum war ihnen auf das Gesicht geschrieben, als sie hinter dem schwarz-goldenen, mit weißen und lilafarbenen Blumen bedeckten Sarg schritten. Eine tiefe Trauer erfüllte alle. Die Trauernden wussten, dass sie nicht nur Sina Mosseri begruben, sondern dass zusammen mit ihr, in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts, kurz nach der Gründung des Staates Israel, die jüdische Gemeinde Ägyptens mit ihrer prachtvollen dreitausendjährigen Tradition begraben wurde.
Nachdem der Richter Mosseri das Kaddisch gesagt hatte und die Leiche mit Erde bedeckt wurde, legte Clara auf das Grab ihrer geliebten Großmutter lila Blumen, in der Farbe, die die Nona Sina so geliebt hatte, und sie flüsterte ihr mit erstickter Stimme zu: „Ich verspreche Dir, Nona, dass ich auch für dich nach Jerusalem gehen werde, wie du mich gebeten hast….“ Danach ging sie zum Grab ihrer Mutter und legte darauf einen Kranz weißer Blumen. In ihrem Herzen versprach sie beiden: ‚Ich werde nach Israel gehen, für euch beide, Mama und Nona, und für meine zukünftigen Kinder. Ich werde mich dem ägyptischen Kibbutz Nachschonim anschließen, werde mit aller Kraft mithelfen, Israel aufzubauen, und niemand wird uns mehr sagen können: Juden, geht weg von ihr, ihr gehört nicht hierher! Vom „zweiten Auszug aus Ägypten“ wird etwas Gutes erstehen – ich werde dazugehören, werde endlich in meinem wahren Zuhause sein…“
Sehr schoen! Zwei Fragen an den Uebersetzer und eine an die Autorin:
1) du schreibst, nach 1948 blieben keine Juden in Aegypten. Ich denke, das stimmt so nicht – Abd el-Naser hat nach der Offiziersrevolution in den 1950er Juden vertrieben und in den 1960ern gab es das „Esek Bisch“, wo die verbleibenden juedische Gemeinde imvolviert war.
2) Du hast spaeter – in den 1990er Jahren, oder? in Kaieo gelebt. Spuert man dort noch etwas von der juedischen Vergangenheit?
3) Frage an die Autorin: waren Sie jemals wieder auf Ahnenreise zurueck in Aegypten?
Meine Antworten: zu 1) Du hast recht. Ich habe übersetzt, was die Autorin schrieb, wobei ich wusste, dass es nicht richtig ist…. zu 2) stimmt, ich habe 1994-1995 in Kairo gelebt. Es gab damals noch eine alte Jüdin im alten jüdischen Quartier inmitten des riesigen Chan Al-Chalili. Ich habe mich aber während dieses Jahres nicht besonders für die jüdische Vergangenheit interessiert. In Alexandria habe ich eine schöne, große Synagoge gesehen, die betreut wird.
Antwort der Autorin auf die dritte Frage: „Ja, ich war in Kairo und besuchte das Haus, wo ich geboren und aufgewachsen bin, und es geschah mir dort sogar ein „Chanukka-Wunder“, und ich habe dazu ein Gedicht geschrieben, das auch vertont und auf Englisch übersetzt wurde. Hier die englische Uebersetzung: https://www.jewishrefugees.org.uk/2014/01/an-israeli-re-visits-her-home-in-cairo.html