Rami Bar-Adon, Tel-Aviv, Würstchenstand, Kurzgeschichte

Hans, der Jecke vom Mugrabi-Platz

„Balkon zum Meer“ (Yediot, 2011) ist eine Geschichtensammlung von Rami bar Adon, die das Tel-Aviv der 50-er Jahre beschreibt: Arbeiterviertel, Neueinwanderer, Arbeitsplätze, alles in einem sehr kleinen Umkreis rings um den alten Hafen von Tel-Aviv, den „Atzma’ut“-Park, den Jarkon-Fluss, „die Baracke von Awigdor“ und die „Disengowa“-Straße.

Rami bar Adon ist vor 69 Jahren in Tel-Aviv geboren, stammt aus einer Familie, die seit drei Generationen in Jerusalem gelebt hatte. Nach einigen Jahren im Militär und im Kibbutz Magal kehrte er zur Stadt zurück und entwickelte das Mode-Business, insbesondere das der Badekleider. Er gilt als einer der führenden Manager in diesem Business, bekannt vor allem durch die Marke „Turkiz“ und „Pilpel“. In den letzten Jahren widmet er seine Zeit vor allem der Literatur und der Musik, er schreibt Geschichten, Gedichte und vertont sie, und das meiste basiert auf seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen.

„Wenn jemand aus einer anderen schöpferischen Richtung kommt, und ohne es eigentlich vorzuhaben, ein Buch schreibt, ergibt sich plötzlich eine Gelegenheit. Rami Bar-Adon kommt aus der Modewelt. Seit vielen Jahren entwirft er Badekleider, seit Jahren investiert er seine schöpferischen Kräfte in den Körper der Frau. Der Körper der Frau als Text. Und siehe da, ohne Ankündigung entspringt es aus ihm, während sein Bruder im Sterbebett liegt, und wie Scheherezade kommt er zu ihm ins Krankenhaus mit noch einer witzigen Geschichte aus ihrem familiären Lexikon und aus den Erinnerungen des Tel-Aviv der Fünfziger und Sechziger Jahre.“ (Dr. Dorit Silbermann)

Hans, der Jecke vom Mugrabiplatz

von Rami Bar-Adon

Übersetzung: Uri Shani

„Ich sage Dir: Wenn du noch einmal Trefe bei diesem dicken Jecken isst, dann erzähle ich alles Papa, und dann bist du im Eimer!“

Ihre Stimme, die normalerweise bei solchen traumatischen Gelegenheiten einige Dezibel lauter wird, blieb dieses Mal still und eindringlich. Überhaupt, immer wenn sie mit dieser Stimme zu mir sprach, tanzten meine Dingsda Stepp vor lauter Angst…

Dieses Ritual ereignete sich jedes Mal am Samstagabend, nach Ausgang des Schabat, immer wenn sie mich dabei erwischte, wie ich eine halbe Lira aus ihrer Geldbörse stahl.

„Ima, nu, hör auf damit, wirklich! Hans verkauft glatkoschere Würstchen! Und außerdem fahre ich zum ‚Verzweifelten‘ in der Pinsker-Strasse, esse Falafel und trinke eine Brause. Ich schwörs dir!“ [Glatkoscher ist superkoscher, und der ‚Verzweifelte‘ war ein bekannter Falafelstand in der Pinsker-Straße in jener Zeit. U.S.]

„Ich zeig dir gleich, was glatkoscher ist! Tfu! Scheigetz verkauft er den Leuten, dieser Jecke, und nicht glatkoscher!“ [Tref und Scheigetz sind Synonyme für ’nicht koscher‘. U.S.]

Immer stieg ihre Stimme zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs um zwei Oktaven, und für mich war das ein klares Zeichen, dass die Gefahr vorüber war.

Ich rannte ins Treppenhaus und rutschte auf dem Geländer hinunter. In der Jarkonstraße bog ich rechts ab und rannte zur Bushaltestelle der Nummer 4 an der Ecke Nordau-Allee.

Den ganzen Schabat lang zählte ich die Minuten und drei Sterne und noch einen, zur Sicherheit, stibitzte aus ihrer Geldbörse die halbe Lira, die mir gesetzmäßig zustand und rannte zum Mugrabi-Platz. Stracks zum Würstchenstand des dicken Hans.

Manchmal, aber nur selten, ergriff mich an der Ecke Pinsker eine Reue, dann sprang ich vom Bus und ging zum Falafel des ‚Verzweifelten‘. Aber das geschah meistens nicht. Die Geruchswolke, die vom Stand des Hans, dem Jecken, aufstieg, erreichte mich schon an der Keren-Kajemet-Allee. [Heute: Ben-Gurion-Allee. U.S.]

Dieser Hans, der dicke Jecke mit seinen Würsten, der weißen Schürze und der Kochmütze, strahlte eine Anziehung auf mich aus, der ich nicht widerstehen konnte.

„Na, gut, gutes Kind, was willst? Würstchen? Soll Senf dazu? Vielleicht ein bisschen Sauerkraut oben? Was meinst, gutes Kind?“

„Nein, nein, Herr Hans! Nur ein Würstchen! Ohne dieses Suru-suru! Aber gib Senf dazu, viel!“

Ich mag dieses heiße Kraut nicht, das Herr Hans bei andern ausgiebig auf das ganze Brötchen verstreute.

Jetzt errötete, wie immer, das Gesicht des dicken Hans wie das des Mannes vom Witmann-Eis in der Allenby-Straße. Er verstand nie, warum die Kinder sein Kraut nicht mochten. Schnell verpackte er mit genauen Bewegungen das heiße Brötchen in ein Pergamentpapier und reichte es mir.

„Bitteschön, gutes Kind. Das Stück Würstchen fantastisch mit ein bisschen Senf, ohne Sauerkraut, das gutes Kind nicht mag.“ Er zog eine Fratze, richtete seine weiße Kochmütze auf und wandte sich dem nächsten Klienten zu.

An einem Samstagabend war ich wieder auf dem Weg zum dampfenden Würstchenstand am Mugrabiplatz, als meine Beine plötzlich kreischend bremsten und verwurzelt stehenblieben. Moment… das war nicht das Gesicht des dicken Jecken Hans… wer ist dieser neue Verkäufer?

„Entschulllldigung, Herr… ist das nicht der Würstchenstand des dicken Hans?“ Ich wandte mich flehend an einen Unbekannten, der mit dem Rucken zu mir steht. Er drehte sich um, starrte mich mit Blick Nummer acht an und seine dicken Augenbrauen näherten sich aneinander.

„Meinst du Herrn Hans, den Würstchenverkäufer? Nun, mein Kind, der verehrte Herr Hans, der zufälligerweise auch mein Onkel ist, war niemals dick! Er war ein Schlob [=Grobian]! Und dieser geschätzte Schlob, mein Onkel, ist vor einer Woche gestorben, und ich vertrete ihn. Verstehst du, Junge? Willst du ein Würstchen?“

„Machs mir wie immer“, warf ich ihm hin und begann, aus der Tasche der kurzen Hosen das Geld herauszuklauben. Nur einen Augenblick hatte ich nicht hingeschaut, und schon hatte ich den Mist… die Hand noch in der Tasche, und schon hatte mir der Verkäufer die Wurst mit einem Haufen Sauerkraut versaut.

Nicht nur, dass ich das Wort Schlob nicht verstand, auch die Übelkeit, die mir wegen des Gestankes des Sauerkrautes hochkam – nicht einmal der anziehende Geruch, der aus dem Schornstein des Standes herunterwehte, änderte meine Meinung – und so rannte ich von dannen, so schnell ich konnte.

Und seither bin ich nie mehr zum Würstchenstand des Herrn Hans, der Jecke vom Mugrabiplatz, zurückgekehrt.

Die Jahre vergingen, und ich flog anfangs Neunziger Jahre an jedem Jahr nach Düsseldorf, wo die Weltausstellung der Badekleider stattfand, die Zigtausende von Käufern, Verkäufern und Hersteller aus aller Welt anzog.

„Nehmen wir uns ein Glas Altbier?“ Zwika, ein Geschäftsfreund, brauchte sich nicht zu bemühen, um mich zu überzeugen. Ich hörte ‚Alt‘ und sah schon diese düstere und unglaubliche Flüssigkeit, die dir am angenehmsten den Hals runterfließt, und mein Mund füllte sich mit Speichel.

„Gute Idee, Zwika, aber vor dem Bier müssen meine Zähne unbedingt in ein deutsches Würstchen – verflucht solln sie sein! – beißen.“

„Klar“, bestätigte Zwika und winkte ein Taxi heran, das vor dem Eingang der Ausstellungshallen wartete.

Und so kamen wir zu früher Abendstunde zur langen Hauptstraße der Düsseldorfer Altstadt. Im Moment, wie ich das Bein aus dem Taxi streckte, sah ich ihn an der Straßenecke. Großgewachsen, etwa sechzig Jahre alt, weiße Schürze und Kochmütze, stieß er langsam einen dampfenden Würstchenstand vor sich her.

„Hans! Vom Mugrabiplatz! Mit den Würstchen!“ schickte ich einen Schrei in die Luft und zog hinter mir den verdutzten Zwika her. Dieser Zwika, was hat er schon mit dem Mugrabiplatz am Hut, das ist ein Jecke, der vor zehn Jahren aus der Schweiz nach Israel eingewandert ist, und sein Hebräisch war noch mehr deutsch als hebräisch.

„Was für ein Hans?“ fragt Zwika. „Das ist ein Bratwurststand! Die besten Würste in Deutschland!“

„Bratwurst, Schmatwurst, gleich siehst du, wie ich mit diesem Hans kommuniziere, du wirst es nicht glauben!“ Und noch bevor der erstaunte Zwika piepsen konnte, stand ich schon neben dem deutschen Verkäufer und umarmte ihn heftig vom Profil.

„Ahalan, Hans, wie geht’s, ja-Ssachbi? Mach mir einen Gefallen, bring uns dalli zwei Würste in jedem Brötchen, mit viel Senf und ohne Suru-suru. Verstanden?“ Ich haute den dicken Deutschen mit Hebräisch in die Pfanne und zwinkerte Zwika zu. Der Geruch aus dem Schornstein betörte mich. Noch nie hatte ich so einen dichten Dampf gesehen.

 „Rami… aber das sind Bratwürste… Würste aus Schweinefleisch…“ Gleich platzte Zwika der Kragen. Jetzt geh und erkläre Zwika, dass Würste aus Schweinefleisch das Beste auf der Welt ist!

„Von mir aus sollen sie die Würste aus Schweine-, Ochsen-, Kuh- und Kalbfleisch machen. Riechst du es denn nicht?“

Der Deutsche wandte sich mir zu, und es schien mir, dass ich einen Schein eines Lächelns sah. Er beugte sich über die kleine Nirosta-Tonne, diejenige neben der großen, nahm schnell zwei rauchende Würste heraus und zwängte sie professionell in den offenen Rachen des Brötchens. Dann packte er es in Windeseile in Pergamentpapier ein, wie Hans der Jecke vom Mugrabiplatz und gab es mir. Ich spritzte eine gehörige Portion Senf auf die Würstchen und biss ihnen ihren rosaroten Kopf ab, der herauslugte.

Wow…. wie lecker….

Zwika, der nicht von gestern ist, und wahrscheinlich waren Schweinswürste im Standardmenü bei seinen Eltern zu Hause, machte dem Deutschen ein Zeichen, und dieser machte ihm dieselbe Portion, aber mit Suru-suru. Also Sauerkraut.

Während wir die Würstchen verschlangen, sah ich, dass der Deutsche andere Klienten bediente und für sie Würstchen aus der großen Tonne nahm. Zwika machte mir ein Zeichen, und ich sah ein Fragezeichen in seinen Augen.

„Lass es, Zwika, ich ersticke gleich, muss ein Alt haben, um die Würstchen runterzuspülen.“ Ich fasste ihn beim Arm und zog ihn hinter mir her zur Bar auf der anderen Seite der Straße.

Und so, an jedem Abend, als wir aus der Ausstellungshalle traten, nahmen wir ein Taxi zur Altstadt und gingen zum Würstchenverkäufer. Ich erklärte ihm auf Hebräisch, wie genau ich die Würstchen wollte, er nickte mit einem Lächeln, und von dort eilten wir zur Bar auf der anderen Straßenseite.

„Sag mal, Rami, findest du das nicht ein wenig merkwürdig, das Ding mit deinem Hans?“

„Welches Ding, Zwika?“

„Nu, das Ding, dass er für uns Würstchen aus der kleinen Tonne daneben holt, und für alle Deutschen – verflucht solln sie sein – holt er Würstchen aus der großen Tonne.“ 

Ich versuchte gerade, ihm eine Erklärung dafür anzubieten, aber ein lautes Rülpsen meinerseits zog einen freundschaftlichen Schlag von seiten Zwika auf meinen Nacken mit sich.

„Du, du bist ein… du verhältst dich ja wie diese Nazis.“ Zwika wandte sich verabscheut von mir ab und spülte den Rest seines Biers in einem Schluck runter.

„Entschuldige bitte… Zwika… das ist mir rausgerutscht… das Bier…“

Am letzten Tag der Ausstellung, auf dem Weg zum dampfenden Würstchenstand in der Altstadt, konnte sich Zwika nicht mehr zurückhalten.

„Entschuldigen Sie bitte“, wandte er sich in perfektem Deutsch an den Jecke-Verkäufer. „Vielleicht können Sir mir sagen, bitte, warum Sie Allen die Würstchen aus dieser Tonne hier herausziehen, und nur mir und meinem Freund aus dieser hier?“

Ich habe zwar keinen blassen Schimmer in der deutschen Sprache, aber da Zwika auf die beiden Tonnen gezeigt hatte, verstand ich seine Frage ganz genau.

Der dicke Deutsche nahm tief Atem, blickte uns lange an, schaute nach rechts und links und neigte sich dann zu Zwika hinunter. „Wollt ihr wissen warum?“ fragt er zu unserem Erstaunen auf Hebräisch. „In einer halben Stunde machen ich hier Schluss und treffe euch in der Bar da gegenüber.“ Er schaute nochmals nach rechts und nach links und zwinkerte uns zu. Zwika und ich waren verdattert.

Wir stolperten zur anderen Straßenseite und besetzten in der Bar den Tisch, der am nächsten zur Straße stand, damit dieser merkwürdige Deutsche uns nicht abblitzen sollte… Der hatte uns gehörig durcheinandergebracht mit seinem Hebräisch.

Genau nach einer halben Stunde, nachdem er das Gas ausgemacht, den Schornstein bedeckt, den Stand zugeklappt und abgeschlossen hatte, überquerte er die Straße und kam schnell zu uns.

„Drei Altbier, kalt bitte“, wandte er sich an die junge Kellnerin. Diese kam nach einer Minute mit sechs Gläsern, drei in jeder Hand, zurück. Drei stellte sie auf den Nachbartisch und drei bei uns. „Diese Kellnerinnen – Meister! Hast du das gesehen, wie sie zehn Liter-Gläser mit zwei Händen balanciert?“ sagte ich zu Zwika und trank einen langen Schluck von dieser deutschen Flüssigkeit, verflucht solln sie sein.

„Schlomo Rosenzweig“, stellte sich der Deutsche mit lauter Stimme und einem breiten Lächeln vor.

„Wie… Schlomo.. bist du nicht Hans?“ Ich und meine blöden Fragen…

„Nein. Ich bin Schlomo, wohne hier in Düsseldorf schon seit vierzig Jahren und verkaufe den Nazis Würstchen, solln sie ersticken daran!“ Den Schluss des Schlusses spuckte er mit Abscheu aus. Bevor wir uns erholt und versucht hatten, das zu verstehen, schaute er wieder nach rechts und links und fuhr dann leise weiter.

„Ich war vierzehn, als der Krieg zu Ende war, und kam mit der Jugendalija nach Palästina. Direkt in ein Internat im Kibbutz.

„Sie waren … im Kibbutz…“ Ich versuchte zu verstehen.

„Ja, ja, im Kibbutz. Danach Militär und danach direkt hierher zurück.“

„Warum?“

„Ich wollte Überlebende meiner Familie finden.“

„Und haben Sie welche gefunden?“

„Gurnischt. Niemand. Alle sind durch die Schornsteine verdampft.“

Er nahm tief Luft und einen kleinen Schluck aus seinem Glas. Wir konnten sehen, dass es ihm schwerfiel weiterzufahren.

„Warum bist du denn nicht zurück nach Israel, Schlomo?“ fragten Zwika und ich gleichzeitig.

 „Denn ich hatte geschworen, Rache zu nehmen“, sagte er leise und neigte den Kopf.

„Und wie nimmst du Rache, Schlomo?“ Ich verstand noch immer nicht.

„Ich verpflege diese Schweine mit Würstchen!“

„Würstchen…“

„Ja, Würstchen. Nein, nicht das, was ihr gegessen habt. Gott behüte! Vierzig Jahre bin ich hier, und ich erkenne jeden Juden oder Israeli. Ihr habt Kuhwurst gegessen. Koscher unter Aufsicht des Rabbinats von Düsseldorf. Hier, schaut!“ Er neigte sich ein bisschen und zog aus seiner Schürze ein Papier hinaus. „Was ich diesen Nazis gebe, aus der großen Tonne, das sind Würstchen, die speziell für mich in Ungarn hergestellt werden.“

„Was meinst du, speziell für dich?“

„Speziell. Siebzig Prozent Ross, zwanzig Esel und zehn Schwein, für den Geschmack.“

„Und warum Ross, und Esel? … Ist Schwein nicht genug?“ Wie waren baff…

„Warum? Ich sag euch warum! Als die Nazis, verflucht solln sie sein, zu uns nach Hause kamen, wir wohnten in einem Dorf in der Nähe von Arnsberg, stießen sie mich und meine drei kleinen Geschwister auf einen Karren…“ Schlomo Rosenzweig hielt einen Moment inne, füllte seinen Brustkorb mit Luft und ließ sie langsam hinaus. „Der Gidele, drei Jahre jünger als ich, Gite-Lea, die Schöne, mit den Zöpfen, nach unserer Großmutter benannt, und die kleine Chanale… nur drei Jahre alt…“ Er konnte nicht weiterreden.

„Schlomo… mach mal eine Pause…“ Ich reichte ihm sein Glas Bier und nahm einen Schluck von meinem. Der Geschmack war mir plötzlich fade. Die Sonne verschwand hinter den Häusern, und eine Kühle des beginnenden Herbstes machte sich breit.

„Ja, Freunde, so ist das Schicksal…“ stöhnte Schlomo und nahm tief Luft. „Alle jüdischen Kinder wurden auf Eselskarren, eine lange Kolonne, gestoßen. Die Erwachsenen, darunter auch meine Eltern, und auch das nichtjüdische Kindermädchen Fanja, die polnisch war, mussten hinterher zu Fuß marschieren. Und so ging es los. Einen ganz Tag und eine halbe Nacht. Von hinten wurden die Erwachsenen von Reitern mit schwarzen SS-Uniformen angetrieben. Wer fiel, wurde von den Pferden zu Tode getrampelt.. so ging es den ganzen Weg…von unserm Haus bis zum Bahnhof von Düsseldorf.“

Zwika und ich blickten einander an, und unser Unbehagen drückte sich in kleinen Bewegungen aus. Ich schaute diesen großen Mann an und fühlte, wie sein Blick irgendwo hinter meinem Rücken in die Ferne ging, seine starke Stimme wurde leise und monoton. Resignierend.

„Eine endlose Kolonne von Pferden, Karren und Esel, den ganzen Weg, bis zum Transport, der nach Ausschwitz ging.“ Schlomo Rosenzweig nahm einen kleinen Schluck von seinem Bier und vergrub seinen großen Körper in seinem Stuhl. Mein ganzer Körper erschauderte.

„Seit ich hierher zurückkam“, sprach er weiter, „schwor ich, dass alles, was die Deutschen von mir erhalten sollen, Pferde und Esel sein soll.“

Es wurde langsam wirklich kalt. Ich näherte mein Glas an meine Lippen, schaute auf das Bier und schüttete es dann auf die Pflanze neben mir. Zwika schaute still in meine Richtung, stieß sein Glas von sich und bat die Kellnerin um die Rechnung.

„Entschuldige bitte, Schloime….“, sagte ich nach einer langen stillen Minute. 

 „Ja..“, wandte er sich mir zu.

„Entschuldige bitte, vielleicht ist es nicht angebracht, wenn ich das ausgerechnet jetzt frage, aber… aber… wie kommt es, dass aus deinem Schornstein ein so dicker Rauch steigt?“

Zwika trat mich heftig mit seinem Bein, unter dem Tisch.

„Ahhh…. Das ist ganz einfach.“ Schlomo lächelte, und seine Augen leuchteten plötzlich auf. „Jeden Morgen fülle ich den Ofen mit Holz- und Fettstückchen.“

„Du verbrennst Fett mit dem Holz?“

„Ja. Damit kein Deutscher, der hier vorbeikommt, vergisst, was ich drei Jahre lang in Auschwitz gerochen habe. Den Geruch der Krematorien…“

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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BR
BR
4 Jahre

Wow! Starke Geschichte! Die Gegend um den Mugrabi-Platz (wo ein Prachtkino stand, heute ist da ein Parkplatz), vor allen die Ben-Jehuda-Strasse, war als DIE Gegend der Jeckes – deutscher Juden – bekannt, die – wenn sie nicht bei Hans Wuerschtchen oder das fantastische Eis von Wittmann genossen – im Cafe Mersand sassen und die deutschsprachige Zeitung bei Kaffee deutscher Art mit Streuselkuchen lasen. Im Gegensatz zu Mugrabikino, Hans und Wittmann gibt es das Cafe Mersand noch (die Gaeste sind schon lange keine Jeckim mehr) – ein letztes Ueberbleibsel einer deutsch-juedischen Symbiose, die einer Hass-Liebe aehnelte, wie auch in der Geschichte hier…

Yarin
Yarin
4 Jahre

Interessante Geschichte. Und schön übersetzt!

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