Durch das Buch „La Manita muerte – kleine Geschichten von einer großen Diktatur“ erlebt die Leserin und der Leser das Leben unter der Diktatur in Chile, nach 1973.
Die Geschichten basieren auf wahren Ereignissen und ergeben zusammen eine Handlung, die den Versuch beschreibt, das Leben weiterzuführen, angesichts der Gefahren und dem Verlust der elementarsten Rechte. Die Geschichten sind aus dem Blickwinkel von Frauen und Kindern erzählt, denn die Historiographie ist meistens eine männliche. Die fast zweihundert Jahre gepflegten demokratischen Werte Chiles wurden plötzlich in einem Tag zerschlagen, durch einen militärischen Putsch, der bis aufs Kleinste geheim geplant und von ausländischer Hand finanziert wurde, doch das Buch warnt nicht vor einem plötzlichen Schlag, sondern vor der allmählichen, alltäglichen, langsamen und fast unsichtbaren Zersetzung der persönlichen Rechte, die nicht weniger gefährlich ist.
Daniel Silbermann kam als Zehnjähriger aus Chile, wo er geboren wurde, nach Israel, nachdem alle Versuche, David, den Vater der Familie, zu finden. David Silbermann wurde von der Pinochets Geheimpolizei entführt, gefoltert und ermordet und gilt bis heute als verschollen. Daniel Silbermann gründete „Humans Write“, einen internationalen Kurzgeschichtenwettbewerb zum Thema Menschenrechte.
Die Geschichte „Jose Domingo Canas“, von der hier ein Teil auf Deutsch erscheint, ist die Geschichte des Hauses, wo sein Vater gefoltert wurde und zum letzten Mal von Augenzeugen gesehen wurde. Das Haus, das seine Funktion während der Jahre vielmals änderte, ist heute ein Museum zum Andenken an die Opfer, die darin gefoltert wurden.
Jose Domingo Canas
von Daniel Silbermann
Übersetzung: Uri Shani
Ich bin ein Haus. Genauer gesagt – ich war ein Haus, bevor man mich abriss und das Gelände zu einem Parkplatz für einen Spielwarenladen machen wollte, aber ich beginne von hinten; ich werde noch darauf zurückkommen.
Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle: Mein offizieller Name ist Jose Domingo Canas Nummer 1367, und ich stehe im Wohnviertel Nunoa, in Santiago de Chile, wo vor allem Familien des Mittelstandes wohnen. Ich bin ein uraltes und großes Haus, aber nicht riesig, angenehm für eine große Familie. Ich habe einen großen Garten und ein bescheidenes Schwimmbecken darin, was mich besonders schön und attraktiv macht. Meine relevante Geschichte beginnt zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Dos Santos, ein brasilianischer Staatsbürger vor der politischen Verfolgung in seinem Land nach Chile flüchtete, denn er bewunderte die sozialistische Regierung des neu gewählten Präsidenten Salvador Allende. Seine Freunde in Brasilien lachten ihn aus – wie lange wird es dauern, sagten sie, bis auch in Chile ein Militärputsch die Regierung stürzen wird, und dann musst du wieder fliehen? Solches Gerede ärgerte ihn. Er vertraute auf die Regierung Allende, auf die grandiosen Reformen, die sie einführte und auf die glorreiche sozialistische Zukunft, die das Land und den ganzen Subkontinent erwartete. Als angemessene Antwort auf die Hänseleien seiner Freunde und um ihnen zu beweisen, dass er auf die lange Tradition der chilenischen Demokratie baute, beschloss er, mich zu kaufen, als Aussage und Stellungnahme: Ich verwurzle mich hier. Er konnte sich nicht vorstellen, dass unser Roman kurzlebig sein wird.
Dos Santos war nicht besonders an mir interessiert. Er investierte nicht in mich, machte keine besondere Renovation, er wechselte nicht einmal die Möbel. Er war zu sehr mit seiner sozialen und politischen Aktivität beschäftigt, und ich war ein bequemes Gefäß, ein Ort, wo er des Nachts seinen Kopf hinlegen und ausruhen konnte. Am 11. September 1973, dem Tag des Militärputsches, verstand er, dass sein Leben in Gefahr war, klopfte an die Tür des Konsulats von Panama, bat um politisches Asyl und erhielt es.
In den ersten Tagen des Militärputsches wurden Menschen in den Straßen, an den Arbeitsplätzen und zu Hause verhaftet und hingerichtet, und zwar jede und jeder, die verdächtig waren, mit dem Regime von Allende verknüpft gewesen zu sein oder auch nur eine Sympathie dafür gezeigt zu haben. Fast 3500 chilenische Staatsbürger und Staatsbürger anderer Länder belagerten die Konsulate von südamerikanischen und europäischen Staaten und baten um politisches Asyl. Unter den Staaten, die diese erste humanitäre Hilfe gewährten, waren Argentinien, Mexiko, Venezuela, Frankreich, Italien, Holland und Schweden. Und auch das kleine Panama. Das Konsulat von Panama befand sich in einer Wohnung im Zentrum von Santiago, nicht größer als 150 Quadratmeter, und deshalb wurde Chiquito, der Konsul von Panama, von seinem Außenministerium angewiesen, nicht mehr als fünfzehn Asylanten aufzunehmen. Aber die Welle der Flüchtlinge wird immer stärker. An jedem Tag erschienen Dutzende von Menschen in Panik, die Eintritt forderten, und innert einer Woche befanden sich in der Wohnung schon mehr als dreihundert Menschen, darunter Kinder, schwangere Frauen und zwei Epileptiker. Die Verhältnisse waren prekär, die Menschen saßen im Turnus, und schlafen konnte man jeweils zwei Stunden, denn das Liegen nahm noch mehr Platz als das Sitzen ein. Die Flüchtlinge befanden sich in unaufhörlicher Angst, dass das Militär oder Anhänger paramilitärischer Banden die Wohnung stürmen würden. Die reguläre Arbeit des Konsulates konnte natürlich nicht weitergeführt werden. Nach einigen weiteren Tagen brach eine Grippewelle aus, die die meisten überfiel. Es war klar, dass es so nicht weiterging, nicht einmal ein paar Tage lang.
Da trat ich wieder auf den Plan. Dos Santos hatte die Idee, mich zum Konsulat anzuschließen, mir diplomatischen Status und Immunität zu geben, und so würden die meisten Flüchtlinge bei mir Platz bis zu ihrer Ausreise finden. Aber alle fürchteten sich vor dem Weg. Wie sollten sie sicher zu mir gelangen? Der Konsul von Panama berichtete dem Militär über die gefährliche Situation im Konsulat, was zu einer Epidemie im ganzen Zentrum der Stadt führen könne. Das Militär schickte eine medizinische Kommission, um das Berichtete zu verifizieren, und die Kommission bestätigte. In einem außergewöhnlichen Akt, inmitten des Chaos des Putsches, wurden mir diplomatischen Status und Immunität anerkannt, gültig für das gesamte Gelände des Hauses und des Gartens, und ich und mein Garten befanden sich jetzt förmlich in Panama. Die Asylanten wurden in sieben Bussen vom Militär und mit gewaltigem Polizeiaufwand transportiert. Viele befürchteten, dass es sich um eine Falle handle, aber der Konsul besänftigte alle, dass die Presse in seinem Land und in der ganzen Welt alle Augen offen habe, und dass das Militär sich einen Überfall auf sie nicht erlauben könne. Drei Offiziere begleiteten die Flüchtlinge in die Busse und schrieben ihre persönlichen Daten auf. Die Straßen waren gestopft voll, auf beiden Seiten, von bewaffneten Soldaten und Hunden, und von weitem bewachten zwei Panzer das Ganze. Die Flüchtlinge sahen wie ein Haufen Zombies aus einem Horrorfilm aus, hinkend, krank und übernächtigt.
Am Ende des Tages hatte das Militär 365 Namen registriert. Alle fanden bei mir Platz, und so begannen meine drei schönsten Monate. In mir ist dreimal so viel Platz wie in der Wohnung des Konsulats, und der anfangende Frühling ermöglichte es vielen, den Tag über an der freien Luft zu verbringen. Das leere Schwimmbecken war der populärste Sitzplatz, dort gab es fast zu jeder Stunde des Tages erregte Gespräche über die politische Situation.
Eine hohe Mauer umgab mich und trennte mich von den Nachbarn, und das schwarze Eisentor war so verschlossen, dass alle Asylanten sich sicher fühlten und furchtlos im Garten verweilten konnten. Nach wenigen Tagen spannten einige der neuen Bewohner eine Stoffplane über das Schwimmbecken, und so wurde sie eigentlich zu einem zusätzlichen Schlafzimmer. Es gab solche, die es bevorzugten, auf Matratzen an der frischen Luft zu schlafen, unter den Bäumen des Gartens. Im Vorratsraum, der sich neben dem Schwimmbecken befand, wurde eine Krankenstation installiert, wo die Flüchtlinge Pflege und Medikamente erhalten konnten.
Das Gerücht verbreitete sich schnell, und noch mehr Asylbewerber kamen zu mir – der neuen Adressen des Konsulats von Panama. Aber sie konnten nicht durch das Tor hinein, denn dort standen zwei Polizisten, vierundzwanzig Stunden am Tag. Die neuen Asylanten kamen zumeist in der Nacht, kletterten auf den hohen Baum und sprangen zu mir in den Garten hinein. Chiquita geriet in Panik, denn die Anweisungen, die er hatte, waren immer noch, nur fünfzehn Asylanten zu akzeptieren, da sie verstanden, dass diese dann nach Panama abgeschoben würden. Nach einem Monat waren es schon mehr als 400. Unter den Flüchtlingen entwickelte sich ein interner Humor, und viele erhielten Spitznamen, abgeleitet vom Weg, wie sie mich erreicht hatten. Es gab zum Beispiel die drei Notare, die diesen Spitznamen wegen dem mutigen und raffinierten Weg erhielten, den sie gewählt hatten: An jedem Tag kamen zu mir Notare, die den Asylanten halfen, ihre finanziellen Angelegenheiten vor der Abreise aus Chile zu ordnen: Vollmachten, Güterüberschreibungen und ähnliches. Eines Morgens erschienen diese drei am Tor vor der Stunde, zu der normalerweise die Notare kamen, gaben eine falsche Identität an und wurden eingelassen. Dieser Fall ärgerte Chiquita so sehr, dass er den Asylanten untersagte, das Telefon zu benutzen, sodass dieser Kontakt mit der Außenwelt abgebrochen wurde, aber jetzt wurden Steine in meinen Garten geworfen, eingewickelt in Papiere mit Nachrichten von Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen und über sie. Man witzelte, dass man sich jetzt nicht mehr vor den Schüssen der Soldaten, sondern vor den Steinen hüten müsse. Die Bedienstete der Nachbarn, eine Sechzehnjährige, begann, mit den Flüchtlingen durch die Mauer zu sprechen und sagte, dass sie in jeder möglichen Art helfen wolle. Zuerst befürchteten die Eingeschlossenen, dass es sich um eine Agentin der Polizei handele, aber mit der Zeit beruhigten sie sich, denn sie brachte Medikamente, Zeitungen und Zigaretten, und überbrachte sogar Nachrichten an die Familienangehörigen der Asylanten. Ihre Arbeitsgeber waren ein älteres Paar, das offenbar wenig von dem mitbekam, was geschah. Der Mann und die Frau machten zu Mittag eine Siesta, und die junge Frau benutzte dieses Zeitfenster, um zusätzliche Asylbewerber durch das Haus ihrer Arbeitsgeber einzuschleusen, unter dem Vorwand, sie seien zum Tee eingeladen, und dann kletterten die „Gäste“ über die Mauer. Ein Dutzend Verfolgte überquerten auf diese Weise die Mauer, inklusive eine Familie mit zwei Kinder. Die Bedienstete nahm ein immer größeres Risiko auf sich, mit jedem Tag, der verging, bis die meine Flüchtlinge sie warnten, dass das Militär nicht so dumm sei und die Soldaten irgendwann Verdacht schöpfen würden, denn viele Gäste betraten das Haus ihrer Arbeitsgeber und verließen es nie. Sie würden bemerken, dass die Bedienstete Unmengen von Nahrungsmittel kaufte, viel mehr, als was ein älteres Paar brauchte, und es wurde beschlossen, das Einschleusen von zusätzlichen „Gästen“ für eine Weile einzustellen. Dann verließ die junge Frau ihre Arbeit; vielleicht hatte sie die Angst gepackt, oder ihre Arbeitsgeber hatten herausgefunden, was sie machte und sie gefeuert. Auf jeden Fall wurde sie nicht mehr gesehen, und da niemand sie jemals nach ihrem Namen fragte, ist sie bis heute anonym geblieben.
Im Laufe der nächsten Monate wurden die Asylgesuche bewilligt, die einen von Panama, die anderen von anderen Staaten, und es begann eine neue Routine: Alle paar Wochen füllte sich die Straße mit Soldaten und Polizisten, deren Aufgabe es war, die Flüchtlinge zum Flughafen zu begleiten, von wo sie in ihr Exil flogen. Die Mitarbeiter des Konsulats waren immer dabei, um die Sicherheit der Abgeschobenen zu gewähren. Ende Januar 1974 verließen mich die letzten Asylbewerber, unter ihnen Dos Santos, ohne dass er sich darum bemüht hätte, mich an einen Erben zu übertragen. So beendete ich meine diplomatische Mission. Die Mitarbeiter des Konsulats kehrten in die kleine Wohnung im Zentrum der Stadt zurück, und ich blieb leer, verlassen und wusste nicht, was mit mir geschehen würde. Aber nicht lange. Das schrecklichste Kapitel meiner Geschichte sollte jetzt beginnen.
Im August 1974 missbrauchte die chilenische Geheimpolizei Dos Santos‘ Abwesenheit, enteignete mich und machte mich zu einem Folterzentrum, einem der vielen im Lande. Das Militär war darauf bedacht, als strategischer Schritt, Häuser im Herzen von Wohnvierteln zu Folterzentren zu machen, und machte keine Bemühung zu verheimlichen, was dort geschah. Es sah darin einen doppelten Erfolg: So konnte es leicht die große Menge der Verhafteten „bearbeiten“ und zugleich die anliegenden Bewohner terrorisieren, damit es alle wissen: Die Schreie, die ihr in der Nacht hört, das sind Gegner des neuen Regimes, die ihren Schmerz in den Himmel schreien. An diesem Weg, an dem ihr zur Arbeit fährt, zur Schule oder zum Einkaufen geht, hier, das sollt ihr wissen, in diesem Haus, werden Menschen gefoltert. Gebt acht, dass ihr nicht als nächste an die Reihe kommt.
…
Sehr schoen geschrieben und auch uebersetzt! Frage an den Uebersetzer: wie kam das Buch in Israel an?
Das ist eine gute Frage, die übrigens auch bei anderen Büchern hier gestellt werden kann. Ich habe den Autor gefragt. Hier seine Antwort: „Das Buch wurde gut aufgenommen, weil es hauptsächlich den menschlichen Aspekt behandelt. Am Ende des Buches habe ich auch ein klares politisches statement zum Zustand der Demokratie bei uns hier im Land hinzugefügt, insbesondere was das Verhältnis zu den Palästinensern betrifft, und hier sind die Reaktionen geteilt. Manche fühlen sich dabei unwohl, andere unterstützen meine Aussage, aber vom literarischen Standpunkt erhalte ich immer wieder sehr viel Liebe und Unterstützung.“
Danke, sehr interessante Antwort!