Der Roman „Was oben geschrieben steht“ (Ssifriat Poalim, 2004) hat eine Handlung, die sich über sieben Jahrhunderte, Dutzende von Figuren und eine Fülle von Geschichten ausbreitet. Er hat zwei Teile:
Im ersten Teil erzählt Michael Frankfurter Naama Cavallero seine Lebensgeschichte, bis zu dem Tag, an dem sie in seiner Wohnung erschien, während darin verschiedene Kapitel seiner Familiengeschichte hineingewoben sind, von der Geschichte seiner Vorfahren im mittelalterlichen Frankfurt und bis zum letzten Brief, den sein Vater schrieb, im heutigen Jerusalem (die folgende Kostprobe).
Im zweiten Teil schreibt Naama Cavallero einem Empfänger, dessen Identität sich erst später offenbart. Ihre Liebesgeschichte mit Michael, die ihre traditionelle Familie erschütterte, vor dem Hintergrund der Geschichte der Familie Cavallero: Vom Spanien und Portugal des 15. Jahrhunderts, über Marokko und die Türkei, bis zur Stadt Bat-Yam der Gegenwart, in Israel. Die beiden Teile zusammen eine reichhaltige Landkarte des Schicksals, auf deren Wegen die beiden Hauptfiguren vorangehen, jeder mit dem, was ihm oben vorgeschrieben steht.
Etty BenZaken ist Konzertsängerin und multidisziplinäre Künstlerin. Sie führt vor allem Kompositionen auf, die speziell für sie komponiert wurden, und widmet sich der Interpretation traditioneller Lieder der verschiedenen ethnischen Gruppen Israels. In ihren eigenen Arbeiten integriert sie mehrere Disziplinen, vor allem Theater, bildende Kunst, Literatur und Musik. Sie ist Preisträgerin des Landau Kunstpreises 2018. Das Buch „Was oben geschrieben steht“ ist eins von drei ihrer Bücher, die bisher erschienen.
Was oben geschrieben steht
von Etty BenZaken
Übersetzung: Uri Shani
Meine lieben Yaeli und Michael,
bitte verzeiht die unleserliche Handschrift. Die kleinen Schläuche, die von meinen Händen herunterhängen, die unangenehme Lage, die Schwäche, sind schuld an den krummen Buchstaben. Ein unseliges Ende für jenen, der in der dritten Klasse den ersten Preis für Schönschrift erhielt!
Ich schrieb „Ende“, obschon Eure Mutter und die Ärzte, und Ihr, meine Kinder, versuchen mich zu überzeugen, dass ich auch diese Herzoperation heil überstehen werde. Ist das nicht ein wenig überheblich? Die Kräfte des Menschen, sein Lebensquell, haben eine Grenze, sein Leben ist irgendwann vollendet. Ich hege keinen Zorn, empfinde keine Wut und beschuldige niemanden und nichts, und ich bin rein von Sünde. Was ich erreicht habe, habe ich erreicht, wo ich Fehler gemacht habe, da waren Fehler, und ich nehme das Ende meines Lebens hier ohne Groll hin. Liebe Kinder, es gibt nichts Trauriges an diesem Ende, außer der Trauer der Trennung.
Ich werde mit Pillen vollgestopft, die mich benebeln, sodass ich mit Schreiben aufhören musste und ein bisschen schlief. Viele Erinnerungen kamen bei diesem Schlaf hoch, und viele Bilder meines Lebens erschienen in meinem Bewusstsein: Meine Mutter und Grete kaufen Kleider bei „Tietz“ am Alexanderplatz, und hier ist Grete schon groß, und sie ist verliebt, aber in den falschen Mann, und im selben Augenblick treffen wir uns, Else und ich, im Hafen von Jaffa, und Else bittet mich um Hilfe bei der Suche nach ihrer Kiste, die verlorenging. Wir werden einen Kaiserschnitt machen müssen, sagt ihr der Arzt und holt aus ihr die kleine Yaeli heraus, gerade als Michael zum Militär geht. Und dazwischen, die Häuser von Berlin und Jerusalem, Winter hier, Winter dort, und tausend kleine Details, keine wichtigen, füllen die Bilder. Wenn die Details unwichtig sind, warum sind meine Erinnerungen voll von ihnen, und wenn jedes Detail eine Bedeutung hat, was ist sie?
Die bleichen Krankenhausbettlaken bringen mich in eine philosophische Stimmung. Die Wurzeln meiner Familie, in Frankfurt am Main im Mittelalter, beschäftigen mich: Ich stelle mir meine Vorfahren vor, nicht alt, sondern jung, sehr jung, Kinder, Säuglinge, gerade erst geboren. Wann kamen sie von Frankfurt nach Berlin? Warum? Waren sie gewiefte Kaufleute, die größere Einnahmen erwarteten, oder arme Verfolgte, die vor dem Schicksal flohen? Und während diesen Gedanken beklage ich die Tatsache, dass es keine Tagebuchpflicht für jeden Menschen gibt, auch nicht für mich, natürlich, denn dann könnten wir aus dem Schicksal unserer Vorfahren lernen.
Welche Lehre zieht Ihr, meine Kinder, aus meinem Leben? Was wisst Ihr über mich, und was weiß ich über Euch? In den meisten Eurer Lebensjahren sprachen wir wenig miteinander. Zuerst, weil Ihr noch jung wart und nur Kindersprache verstandet. Danach, weil Ihr älter wurdet, und man es verschweigen musste. (Kinder müssen nicht über Deutschland hören, sagte Eure Mutter, und ich war mit ihr einverstanden. Man verherrlicht nicht sein geliebtes Elternhaus, nachdem dieses über seinem Kopf zusammenbrach.) In Euren Jugendjahren wollten wir schon drüber reden, wenigstens in allgemeinen Worten, aber dann wart Ihr es, die Euch vor uns versteckt habt, wie es in jenem Alter üblich ist. Und so entfernten wir uns voneinander, bis es peinlich wurde, sogar die Tatsache, dass ich Euch liebe, sehr sehr liebe, laut auszusprechen. Dieser Teufelskreis der Kluft, des Unwissens, des Neuanfangs jeder neuen Generation, vielleicht ist er es, der es der Menschheit verunmöglicht weiterzukommen. Nicht im Bereich der Technologie, sondern in dem der Ethik, des Geistes, der Lösung des Lebensrätsels. Wenn ich mehr über den Vater meines Großvaters wüsste, über seine Lebenserfahrung und die Konsequenzen, die er daraus zog, wären mir vielleicht ein paar Fragen erspart geblieben. Aber ich weiß nichts über ihn, nicht einmal an meinen Großvater erinnere ich mich, denn er starb schon, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Großvater wird für mich immer jung bleiben, mit prächtigem Anzug und vielen Knöpfen, etwas zwischen einer Uniform und einem festlichen Anzug, so wie er im „Samson und Co, Photo-Atelier, Berlin“ fotografiert wurde. Neben ihm seine junge Frau, Sophie, Oma Sophie, und die drei kleinen Kinder, der mittlere davon mein Vater. Zu Füßen der Kinder, mit den polierten Schuhen und den langen Strümpfen, liegt eine alte Ziehharmonika. Sie war schon damals alt, und trotzdem wählte sie der Fotograf als originelle Schmückung des Familienfotos aus.
Ich habe wieder eine Pause eingelegt, diesmal einen ganzen Tag, aber ich bestehe darauf weiterzuschreiben. Ich möchte den Brief beenden, bevor die Operation beginnt. Wer weiß, ob ich sie überlebe. Und deshalb besteche ich die Krankenschwester mit einem Lächeln, und sie erlaubt mir zu schreiben. Und wenn sie es nicht tut, befehle ich ihr, selbst an Euch zu schreiben.
Ich schlafe viel, und manchmal wache ich auf und finde Eure Mutter neben mir. Sie hat viel durchgemacht mit mir, und auch jetzt im Krankenhaus. Als wir noch jung waren, kritisierte sie mich, dass ich mich zu sehr um Grete kümmere. Oh, wie viele Streitereien vergeudeten wir darauf! Sowohl die Streitereien als auch der Kummer scheinen jetzt überflüssig gewesen zu sein. Grete kam zurecht, integrierte sich in Israel sogar noch mehr als ich, und obschon sie nie heiratete und keine Kinder hatte, war sie immer fröhlich und aktiv und tatkräftig. Sie hat mich mit ihrem Aktivismus nicht angesteckt. Etwas vom Immigrantendasein, das Schmerz und Verlust mit sich bringt, machte mich schwerfällig, betäubt von einem Nebel aus Fremdheit. „Papa in kurzen Hosen!“ riefst Du einmal erstaunt, Michael, als Du mich sahst, wie ich einen Schaden in der Küche behob. Am selben Tag verstand ich, wie seltsam ich bin, sogar in den Augen meiner Kinder, immer mit Anzug und Zylinder, sich weigernd, Sonnenblumenkerne zu knacken, da es ein so vulgärer Brauch sei, darauf bestehend, dass Eure Ellbogen den Tisch nicht berührten. Deine Kinder, Yaeli, sind schon befreit von diesen Gesetzen, und ich weiß nicht, ob es ihnen besser geht oder nicht. Und was ist „gut“? Gibt es einen optimalen Plan, gemäß dem man sich gut fühlt? Ich habe nie an Gott geglaubt. Die Synagoge besuchte ich nur am Jom Kippur. Wenn jemand von oben auf uns hinunterblickt, dann mischen sie sich auf jeden Fall nicht ein. Was ist also die Antwort? Ein Menschenleben ist ziemlich lang, und auch wer es voll genießt, wie ich, wird am Ende voller Fragen zu Grabe gehen. „Das ganze Leben lernen wir, und am Ende sterben wir dumm“, sagte mein Vater immer.
Yaeli und Michael, ich durfte im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte alt werden. Ich betrachtete meine Umwelt eingehend und verfolgte verblüfft die Änderungen in meinem Körper, während mein Geist ohne Alter blieb und in mir gleichzeitig all die Menschen mit sich trug, die ich war: Erich, der deutsche, höfliche Junge, der von den Entwicklungen im Elternhaus besorgt war. (Die meisten Zimmer im Haus wurden plötzlich an Fremde vermietet. Papa, Mama, Grete und Erich begnügen sich mit zwei davon, und Papa, der seine Arbeit im Kaufhaus verlor, hat Mühe sich aufzuraffen.) Und Erich, der energetische junge Mann, der als Verkäufer in einem Laden für Männerbekleidung arbeitet. (Papa und Mama sind sich einig, dass er zusammen mit Grete Deutschland nach Palästina verlassen müsse. Sie haben auch für sich selbst Visa beantragt, diese wurden ihnen aber abgeschlagen.) Und wieder Erich, der junge Mann, jetzt in Palästina, ersäuft sein Leid in harter Arbeit und in wilden Partys in der Nacht. (Er will sich nicht an seinen Vater erinnern, der sich auf dem Weg nach Buchenwald umbrachte, und auch nicht an seine Mutter, die im Lager ermordet wurde. Er will sich an niemanden von seinen Onkeln und Tanten erinnern, die in Theresienstadt ermordet wurden, und auch nicht an den einzigen Zweig der Familie, der in Deutschland überlebte, ein christlicher Zweig, der einen Frankfurter SS-Offizier hervorbrachte.) Und neben ihm steht Erich, der Mann, den Else mit ihrer Schönheit und Liebe überwältigte und zum Ehemann und Vater machte. Er wird erfüllt von Verantwortung, Sorge, und wird langsam zu einem anderen Erich, einem erwachsenen. Er hat jetzt schon Enkel, und bei den familiären Zusammenkünften ist er schon längst nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er wird schweigend alt, neben dem verantwortungsbewussten Mann, dem jungen Party-Burschen, dem kleinen, höflichen Knaben. Niemand sieht sie, außer Else. Auch seine eigenen Kinder sehen sie nicht, und er fragt sich, ob er sich weiterhin verstecken oder allen verraten sollte, wer er wirklich ist.
Yaeli und Michael, ich ergieße mich in Worten. Ich wollte Euch ja nur um eines bitten: Versteckt Euch nicht vor Euren Kindern. Erzählt ihnen von Euch selbst, von Eurer Kindheit. Zeigt ihnen das Familienalbum und schreibt die Namen der Fotografierten neben die Fotos. Hier, Mama und ich, wir haben drei Dutzend Fotoalben aus Berlin vom Beginn des 20. Jahrhunderts – die Frankfurter liebten es offenbar, sich zu fotografieren – aber leider sind die Hälfte der Bilder anonym: eine Frau mit einer schönen Frisur und langem Kleid, ein Mann in der preußischen Uniform, zwei Frauen mit breitkrempigen Hüten, ein rothaariges Kleinkind im Schoß seiner Mutter. Wer sind sie?
Liebe Kinder, liebt Else, Eure Mutter. Auch wenn sie einmal alt sein und ihr Rücken sich krümmen wird, seht durch ihre Falten hindurch, durch ihre krummen Finger, sie ist doch die wunderhübsche junge Frau vom Hafen in Jaffa, mit den besorgten Augen, da sie ihre Kiste nicht findet. Nein, nein, sie ist keine Frau, sie ist das Mädchen mit Sommersprossen im Matrosenanzug, so lieblich und mit süßen Lippen. Schaut sie durch die Zeit hindurch an, und nicht nur sie, seht das Kind in jedem alten Mann, und den alten Mann in jedem Kind. Vielleicht wird es Euch schwerfallen, all die Erinnerungen aufzunehmen, die durch diese menschlichen Geschichten entstehen, die immense Gnade, die Euer Herz erfüllen wird, die Liebe zu jedem Menschenwesen. Aber weicht deswegen nicht zurück, Kinder, das Herz kann sich erweitern.
Euer Vater
Sehr schoen geschrieben! Wer sich fuer Ety Ben-Zakens Musik interessiert, kann diese auf der Webseite von ihr und ihrem Mann Eitan Steinberg ersehen: https://www.benzaken-steinberg.com/
Und hier ein Link zum Familienstammbaum der Familien Frankfurter und Cavallero: https://ettybenzaken.wordpress.com/2014/05/10/%d7%a2%d7%a5-%d7%94%d7%9e%d7%a9%d7%a4%d7%97%d7%95%d7%aa/
Frage an die Autorin: sind die Familien von existierenden Familien inspiriert?