Edna Gorney beschäftigt sich mit Naturschutz und ökologischer Forschung im Bereich des Vogelzugs und des Vogelgesangs. Sie hat einen Doktortitel in Verhaltensökologie und unterrichtet Gender studies in der Universität Haifa. Sie ist Redaktorin in der hebräischen Zeitschrift „Ökologie und Umwelt“ und zuständig für die Rubrik „Gesangs der Umwelt“. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter.
In ihrem ersten Buch (Pardes, 2011) entwickelte sie eine ökofeministische Theorie im israelischen Zusammenhang. 2014 publizierte sie einen Gedichtband, und der folgende Auszug ist aus ihrem dritten Buch „Zoologisches Porträt: Lexikon“. Es ist ein Buch über die Beziehungen der Autorin mit anderen Menschen und mit anderen Tieren, kleinen und großen. Die kurzen Kapitel des „Lexikons“ bewegen sich zwischen Poesie, poetischer Prosa und kritischem Essay und beschreiben den tiefen Abgrund zwischen Menschen aus verschiedenen Gruppen und zwischen den Menschen und den Tieren, zwischen Beziehungen von Liebe und Solidarität, zwischen Ausbeutung und Blindheit und Schönheit. Hier, folgend, drei solcher Kapitel, zwei kurze, und dazwischen ein längeres.
Übersetzung: Uri Shani
Mauersegler (Apus apus)
Mauersegler gehören zur Familie der Apodidae (den Beinlosen). Ihre winzigen Beine dienen ihnen, um sich in der Brutperiode an Mauern und Felsen festzuhalten. Außerhalb dieser Zeit befinden sie sich ihr ganzes Leben in der Luft, deshalb meinen einige, dass der Mauersegler eher der Luft als einem Vogel gleicht. Sie essen in der Luft, vermehren sich in der Luft, schlafen sogar in der Luft und sind fähig, die eine Hälfte des Gehirns „abzuschalten“, während die andere Hälfte aktiv bleibt. Vielleicht erklärt das das Schaukeln, während sie schlafen, wie ein Säugling in der Wiege.
Wir waren Vögel. Davor waren wir Dinosaurier. Und vor dem Dinosaurier waren wir ein Wassertropfen. Nach dem Dinosaurier waren wir ein Baum, eine Bakterie, ein Walfisch, ein DNA-Molekül. Und vor all dem waren wir ein Meteor, ein Komet, ein Planet. Ein roter Riese und ein weißer Zwerg. Wir waren Flockenblumen, Hyazinthen, eine Pfeifente. Eine Nutria (kein Otter, häufige Verwechslung). Ein Wanderfalke, eine Hirundo, die Milchstraße, Ziegenmilch. Ein Eisberg, eine Wolke, ein Fluss in den Bergen, eine Träne. Granitstein, Sedimente, im Wind verwehter Sand, in den Amazonaswäldern niedergegangener und dort die Bäume befruchtender Saharastaub.
Ich bin eine Frau. Eine zufällige Ansammlung von Atomen und Molekülen, die sich vorübergehend von den anderen getrennt haben, in Haut eingefasst. Im Körper meiner Mutter war ich eine befruchtete Eizelle, wurde ein Klumpen von Zellen, die Morula genannt wird, weil er der (wohlschmeckenden) Frucht des Maulbeerbaums (Morus) ähnelt, dieser hat 308 Chromosomen, im Vergleich zu den sechsundvierzig menschlichen – was weiß der Maulbeerbaum, was wir nicht wissen? Die Morula wuchs und wurde eine Blastula, die wie ein verkehrter Strumpf zu einer Gastrula wurde. La-la-la, so geht das Lied. Ich wurde geboren und ich starb. Wurde zu organischem Müll. Vielleicht zu einem Fossil. Und ich werde noch viele spannende Reisen und Verwandlungen durchgehen. Ich werde als atmosphärischer Stickstoff aufsteigen und durch symbiotische Bakterien, die in den Wurzeln des wunderschönen Altreier Kaffees aus der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler leben, fixiert werden. Und vielleicht mutiere ich zu einem Erbsensamen (den aschkenasischen Juden sind die Erbsen während der Pessachwoche verboten, aber die sephardischen dürfen sie essen). Dann werde ich gegessen werden. Vielleicht verfaule ich, noch bevor ich gegessen werde. Vielleicht werde ich in einem Nobelrestaurant in den Eimer geschmissen. Daraufhin werde ich als Mineral aus der Erde durch die Wurzeln des Küstenmammutbaums bis zu einer Höhe von einhundert fünfzehn Meter in die Wipfel des höchsten Baumes der Welt hinaufsteigen. Ich werde in den Wolken schweben, als Regen niederkommen, als Gnitze fliegen, die ein Mauersegler einfangen und seinen Nestlingen im Nest in Finnland bringen wird. Ich werde zu einem Beta-Keratin mutieren, das der Baustein der Flügel ist, und werde als Flugglied wachsen. Während zweihundert Tagen, ohne Unterbruch, während unserer Flugreise und unserem Aufenthalt in Afrika, werden wir fliegen und schweben, tags und nachts. Und so werden wir eine Entfernung von fünfundneunzigtausend Kilometern in einem Jahr durchfliegen. (Ich habe von anderen Forschern über einen Mauerflieger gehört, der zwanzig Jahre lang lebte und während seines Lebens fünfmal die Entfernung von der Erde zum Mond durchflogen hat!) Mit dem Federwechsel im zweiten Winter unseres Lebens in Afrika werde ich zur Erde abfallen. Und das Ganze von vorn.
Flügel und Spatz (Passer domesticus)
Bartolomeo Cristofori erfand für die Familie Medici das Klavier im Jahr 1699 in Firenze. Im Flügel ist das mechanische System horizontal, im stehenden Klavier ist es vertikal. Auf italienisch heißt das Instrument Piano-forte, schwach-stark, denn man kann daraus unterschiedlich laute Töne erzeugen, in verschiedenen Sprachen heißt es Piano, eine Abkürzung des italienischen Namens.
Das Wort „Psanter“, wie das Instrument auf Hebräisch heißt, erschien zum ersten Mal im Buch Daniel, das übrigens auf aramäisch geschrieben wurde und nicht, wie die meisten Bücher des Alten Testaments, auf Hebräisch. Und im Buch Daniel erscheint dieses Instrument zusammen mit anderen Instrumenten und heißt dort Psanterin, was aus dem Griechischen stammt, Psalterion, oder aus dem Persischen Santor. Der europäische Name des Buches „Tehilim“, Psalme, das in Begleitung einer Leier gesungen wurde, stammt auch vom selben Ursprung.
Der Spatz heißt auf Hebräisch „Dror“, was zugleich „Freiheit“ bedeutet. Auf Deutsch heißt er offiziell Haussperling. Er ist ein sehr verbreiteter Singvogel, der sich an die Nähe von Menschen gewöhnt hat. In einer Höhle neben Bethlehem wurde eine fünfhundert Tausend Jahre alte Fossile seiner Art gefunden. Er kam ursprünglich aus dem Nahen Osten, wurde aber vom Menschen auch nach Amerika, Süd-Afrika und Australien gebracht und so zum häufigsten Vogel auf der Welt. In den letzten Jahren verringert sich weltweit die Zahl der Spatzen, besonders in Europa. Außerhalb der Nestlingszeit leben die Spatzen in großen Kolonien und schlafen zusammen in den Bäumen. Um sich von Hautparasiten zu reinigen, baden sie sich häufig in Wasser, Sand oder der Sonne. Der Spatz hat sich so sehr in die menschliche Umgebung eingelebt, dass ihn manche den ultimativen Opportunisten nennen, unser Vogelschatten [Jennifer Ackerman: The Genius of birds (London: Corsair, 2016), p. 280].
Es ist zehn Uhr nachts, in der Bahnstation „Savidor“. Ein Mann mit kurzem weißem Haar, schwarzen Hosen, einem weißen Hemd und einem schwarzen Kapuzenpulli mit gelbem Bauch spielt auf dem Flügel, der in der Eingangshalle steht. Ein junger Mann in blauem Hemd steht neben ihm und schaut auf die Finger, die über die Tasten huschen. Zusammen mit einem Spatz fliegen die Klänge in der Halle und suchen den Ausgang. Der ältere Mann hält inne und kehrt zu seiner Arbeit zurück – er arbeitet in der Bahnstation, hilft den Passagieren, die mit den Barrieren und der Fahrtkarte oder dem „Rav-Kav“ nicht zurechtkommen. Der junge Mann nimmt sofort seinen Platz ein. Er spielt schlechter. Der gelbe Bauch inspiziert die Abfahrtsanzeige, die orangefarbig und blau-lila leuchtet. Darunter blinken die Barrieren rot und grün, wie eine von der Sonne beleuchtete Vitrage.
Auf dem Weg zur Toilette gehe ich an der leeren Kantine vorbei. Ein Kellner zieht braun und gelb befleckte Tische zueinander und stellt sie aufeinander. Ein müder Passagier sitzt auf einem letzten Stuhl an einem letzten Tisch. Die automatische Spülung überrascht mich, als ich mich vom Toilettensitz erhebe. Eine Putzfrau kommt aus der Männertoilette, hält eine mit benutztem Toilettenpapier gefüllten Plastiktüte in der Hand. Ihr Haar ist blond gefärbt, die Müdigkeit ist ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hätte schon längst in den Ruhestand gehen sollen.
Die Bahnstation leert sich, ruht sich von der Anstrengung aus, wischt ihre Schminke ab und enthüllt ihre Haut. Trauer rinnt von den Tischen, von den zerbrochenen Blumentöpfen, die die Kantine eingrenzen, vom Flügel. Der Kummer eines Ortes, der etwas anderes sein möchte, eher eine Kathedrale als eine Bahnstation, oder vielleicht eher eine Bahnstation, von der die Menschen in die Ferne fahren, wie in Europa. Auch ich will anders sein. Ein bisschen gescheiter, weniger selbstlos, ein bisschen voller, weniger tollpatschig, weniger hölzern und geschmeidiger, ich fühle die Verkrampfung, den Stich. Und wer nicht? Wer will nicht noch einen Tropfen mehr vom Leben ausquetschen, bis zum letzten Tropfen ausquetschen, wie aus dem Lappen, mit dem die Putzfrau den Boden hin und zurück und wieder hin und wieder zurück wischt. Ich möchte ihr den Mopp mit dem Putzlappen aus der Hand reißen, die Kaffeeflecken wegwischen, die Blumentöpfe flicken und frische Blumen hineinpflanzen. Ich möchte schreien, schnauben, aus der Reihe fallen. Mit Klavierbegleitung tanzen.
Außerhalb der Bahnstation hat man ein neues geometrisch viereckiges Stück Rasen gepflanzt, mit Wegen aus roten Steinen, begrenzt durch weißen Kies und blühenden Petunien in zur Seite neigenden Töpfen, und Palmen. Eine Fälschung einer billigen Nachahmung. Die Versailles-Gärten in der Größe einer Briefmarke. Eine fremde Prothese, die den Zusammenbruch, das erbärmliche Gebäude und die Brutalität der Absperrung mit den drei Stachelkarussellen am Ausgang betont. Eine künstliche Beleuchtung bestrahlt Spatzen, die Brösel picken, dort wo während des Tages der Stand mit den Sesambagel steht. Ich glaube, unter ihnen den Spatz von vorhin zu erkennen.
Sechsflügliger Engel (Seraph seraph)
Die Engel fliegen nicht, sie haben nicht irgendeine Schwerkraft aufgehoben, nur Beobachter der irdischen Welt wissen es nicht besser zu denken. (Franz Kafka, Oktavhefte)
Die Flügel sind ein physiologisches Charakteristikum von Engeln, Dämonen, Fledermäusen und Vögeln, und nicht nur eine allegorische Ausdrucksweise der Möglichkeit des Fliegens. Engel haben keinen Bauchnabel, denn sie schwammen nicht in der Gebärmutter einer Frau, und sie haben keine Knie, deshalb stehen sie immer und sitzen nie. Sie teilen sich in neun Ordnungen auf. „Die erhabensten sind die Seraphim. Sie brennen in ihrer Liebe zu Gott und stehen ihm näher als alle anderen Engel. Die Seraphim lieben Gott, die nächsten sind die Cherubim, die alles über Gott wissen. Das heißt, die Liebe steht über dem Wissen; kann es sein, dass ich das vergessen habe?“ [Annie Dillard: Holy the Firm (New York, HarperCollins, 2003 [1977]), p. 45]
Mit Stiefeln und Ledermantel bekleidet trat er ins Zimmer, sein Kopf im Himmel. Seine Augen waren feuerfarbig, und eine warme goldene Aura hüllte ihn ein. Ich kann mich genau erinnern, wie er sagte: „Wo ist Schles?“ und verschwand. Vielleicht fragte er überhaupt: „Warum ist Jeremy nicht da?“ Seine Flügel sah ich nicht. In der Erde im Hof lösten sich plötzlich die Stiefelabdrücke in Nichts auf, und wo der letzte Abdruck gewesen war, blieben verbrannte Baumblätter.
Im Laufe meines Lebens hörte ich viele Menschen sagen: „Wo ist Liora?“ oder „Wann kommt Michael zurück?“, aber seine feurigen Augen brannten sich in mir ein. Die Antworten werde ich selber suchen müssen, ohne seine Hilfe. Nicht mir ist er erschienen. Seine Botschaft hat er nicht mir übergeben. Ich werde Bescheidenheit lernen müssen, nicht mutmaßen, dass es klar oder sicher ist, dass jemand mich bemerkt, mich beachtet. Er verließ uns auf Windrädern (William Harley und Arthur Davidson waren Jugendfreunde und bauten das erste Motorrad im Jahr 1903). Vielleicht war er ein Dämon oder ein Höllenengel (Höllenengel fahren bekanntlich nur auf Harley-Davidsons), der im Feuer in den Himmel stieg, und ich fing Feuer, ich war seine Gefangene. Der Arm, der in seine Richtung wies, hatte Brandwunden dritten Grades, die alle Hautschichten und den Muskel verletzten und bis zum Knochen durch gingen. Ich verbrachte Jahre in ärztlicher Behandlung und mehrmalige Hospitalisierung. Jetzt ist eine Narbe geblieben, die ein wenig einer Feder gleicht, und ein Juckgefühl.
Sehr schoen geschrieben, man spuert die Poesie in der Prosa!“ So wie Meir Schalew kombiniert sie Bibel, Flora und Fauna sowie die „menschliche Kondition“ zu einer wunderbaren Melange…