Heute ist Jom HaZikaron, der Gedenktag für die gefallenen Soldaten der Kriege in Israel und Opfer von Terroranschlägen.
Eden Bein, die Freundin des einsamen Soldaten Sean Carmeli, der ursprünglich aus South Padre Island, Texas, stammte und 2014 in Gaza fiel, erzählt die Geschichte von sich und Sean, wie sie sich kennen lernten, wie sie seinen Tod erlebte und wie sie seitdem damit umgeht. Lasst uns ihre Geschichte lesen und uns an Sean Carmeli erinnern. Möge sein Andenken gesegnet sein.
Geschrieben von Eden Bein
Redakteurin und Übersetzerin aus dem Englischen: Leah Grantz
Lektorat: Lena Blank
Revision: Schula Wolffs
Grafikdesign: Eran Luz
Sean Carmelis Freundin über die Trauer und das Leben
Das ist eine Geschichte, wie man auf die harte Tour lernt. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele meine Geschichte nachvollziehen können. Wenn wir jung sind, ist es so einfach, spontan Entscheidungen zu treffen, ohne die Auswirkungen oder Konsequenzen unserer Handlungen zu berücksichtigen. Ich nenne es die Formel für absichtliche Fehler, die für mich im Grunde genommen ein ständiger Zyklus der Selbstsabotage ist, zu der wir eine gewisse Sucht entwickeln, bis der Zyklus unterbrochen wird. Dann können wir aus der schlechtesten Version unserer selbst lernen, die beste Version von uns selbst zu werden.
ABER – Machen wir uns nichts vor, diese Pannen im Leben sind nicht dazu da, um in Reue oder Bedauern zu schwelgen. Bedauern ist ein vorübergehendes Gefühl, das man (so gut wie immer) im Nachhinein erlernt. Es soll uns daran erinnern, dass wir das Produkt unserer Handlungen sind. Wir können entweder in dem peinlichen Gefühl verharren, das es in uns erzeugt, und uns darüber grämen, was wir mal getan oder gesagt haben, oder wir können mit Freunden und Familie darüber lachen und möglicherweise sogar daraus lernen.
Fazit: Bedauern ist Zeitverschwendung.
Meine und deine.
Doch Bedauern hält uns davon ab, aus der Vergangenheit zu lernen und davon zu profitieren. Wir missachten damit unser früheres Selbst.
Heute ist der 31. August 2020, wenige Tage nach meinem 26. Geburtstag. Ich habe viel erlebt, seit ich 2012 nach Israel gezogen bin. Im April oder Mai 2012 hatte ich mich dazu entschlossen mein Medizinstudium zu Gunsten des Militärdienstes bei der IDF (Israelische Armee) aufzugeben. Im August desselben Jahres bin ich bereits von zu Hause ausgezogen und lebte in einem Kibbuz im hohen Norden Israels mit etwa 25 weiteren 18- bis 22-Jährigen, die bis heute meine engen Freunde sind. Die Militärausbildung begann ungefähr im November und ich kann euch jetzt sagen, dass ich keinen Schimmer hatte, was auf mich zukam und ließ mich einfach treiben. Ich war damals eine andere Person. Ich war wild, frei, frech, unausstehlich, sorgenfrei … Aber vor allem unabhängig. UNABHÄNGIG. Zum allerersten Mal.
Meine militärische Ausbildung begann und sie war hart, wenn man bedenkt, dass ich mich als Kämpferin in der Artillerie hatte einziehen lassen. Ich war in keinster Weise darauf vorbereitet; im Grunde konnte man meinem Po noch immer die Couchabdrücke meines Luxuslebens in New York ansehen. Im April 2013 war ich mit meiner Ausbildung schon ziemlich weit fortgeschritten, als ich einem Golani-Soldaten namens Sean Carmeli aus South Padre Island, Texas, vorgestellt wurde. Ein äußerst gut aussehender Amerikaner, Sohn israelischer Eltern, die in den USA leben. Im Alter von 16 Jahren hatte er beschlossen, nach Israel zu ziehen und ein sogenannter “lone soldier”, also ein einsamer Soldat zu werden. Er hatte definitiv einen stärkeren amerikanischen Akzent als ich. Es machte sofort Klick. Er hatte diese Natur, jederzeit für andere da zu sein, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Er half immer bei alltäglichen militärischen Aufgaben rund um die Kaserne, auch wenn es niemand verlangte. Stand um vier Uhr morgens auf, um mir beim Wachdienst Gesellschaft zu leisten, nach frischem Eau de Cologne duftend.
Hast du jemals jemanden getroffen, der so selbstlos war? Also ich nicht, bis ich Sean traf. Er liebte um des Liebens willen. Und das war wirklich alles, worum es Sean ständig und immer ging. Lieben, um zu lieben. Er liebte es, sich zu kümmern, zu hoffen, etwas zu erreichen und zu träumen.
Nach seinem Geburtstag im Mai nahm alles eine schlimme Wendung. Ich hatte gerade eine fantastische Überraschungsfeier für seinen Geburtstag im Haus seiner Schwester in Tel Aviv organisiert, seine Mutter und ich hatten so viel Essen und Knabberzeug bestellt, dass unsere einzige Sorge war, er könnte es nicht schaffen, rechtzeitig zu kommen, weil er vom Hermon anreisen musste. Er hatte uns erzählt, dass sich die Lage am Gazastreifen zuspitzte und er mit seiner gesamte Brigade aus dem Norden zu einem Stützpunkt beim Gazastreifen ziehen musste. Er schaffte es trotzdem zu seinem Geburtstag und alles war großartig. Bis alles dann nicht mehr großartig war und sich der Gazastreifen nicht wie sonst beruhigte.
Dann verschwanden drei Jungs.
Bei der militärischen Suche “Shuvu Achim” (Kommt zurück, Brüder) ging es um drei Teenager, die von Arabern beim Trampen entführt worden waren. Sie wurden tot aufgefunden und der Gaza-Konflikt Operation Schutzschild begann im Juni. Sean und seine Truppe bereiteten sich gemeinsam mit vielen anderen Brigaden anderer Infanterieeinheiten an der israelischen Grenze vor. Zu dieser Zeit war ich zwei Monate lang als Begleiterin bei Chetz V’Keshet tätig, einem Sommerprogramm für amerikanische Teenager in Israel, und daher war ich nicht in meiner Kampfeinheit.
18. Juli: Sean ruft mich an, um mir mitzuteilen, dass sie gerade erfahren haben, dass sie in dieser Nacht in den Gazastreifen ziehen, und alle Soldaten haben ein paar Minuten Zeit, um vorher mit Familie und Freunden zu sprechen. Ich habe nur ein kleines bisschen geweint, weil es zwar schon eine gefährliche Situation war, aber ob ich in Panik geraten bin – nein, überhaupt nicht. Ich glaube, ich hatte nicht genug Lebenserfahrung, um zu verstehen, dass diese Situation Panik erforderte.
Am 19. Juli wachte ich um 00.50 Uhr morgens plötzlich in kalten Schweiß gebadet auf. Am Tag zuvor war in den Nachrichten gerade ein Beitrag über den ersten Soldaten veröffentlicht worden, der im Krieg getötet worden war. Ich schrieb Sean direkt eine Textnachricht, dass ich mir nicht vorstellen könnte, wie die Freundin sich fühlen musste, falls der Soldat in einer Beziehung gewesen war. Ich schrieb ihm, wie sehr ich ihn liebe, aber ich weiß, dass er diese Nachricht nie gesehen hat.
Am 20. Juli, Sonntag Morgen, mache ich mich mit unseren Reisegruppen auf den Weg zum Holocaust-Gedenkmuseum Yad Vashem. Von dort aus setzen wir die Tour zum Herzl-Berg fort, einem riesigen und wunderschönen Friedhof für Tausende IDF-Soldaten, die im Laufe der Geschichte der Kriege Israels gefallen sind.
Als die Gruppe ihre Tour in Yad Vashem beendet hatte, wartete ich auf dem Vorplatz, um weiter zum Herzl-Berg zu fahren, wo jede Begleiterin und Begleiter sich darauf vorbereitete, die Geschichte eines der gefallenen Soldaten zu erzählen, die dort begraben waren, und ich hatte mich für Michael Levin entschieden. Er war ein Amerikaner, der im Jahr 2002 Aliyah (=Einwanderung nach Israel) gemacht und darauf bestanden hatte, Armeedienst zu leisten. Als 2006 der Zweite Libanonkrieg ausbrach, kehrte er aus dem Urlaub in den USA zurück. Er fiel im Kampf für das Land, das er liebte. Sean und ich waren auch beide lone soldiers, also sogenannte einsame Soldaten, und es schien die perfekte Geschichte zu sein, um über das Leben als einsamer Soldat in der IDF zu berichten. Während ich also auf dem Vorplatz wartete, kamen Anrufe und Textnachrichten herein.
Dalya, Seans Mutter, rief mich völlig panisch aus Texas an und sagte, dass Seans Vater Alon wegen der Situation wie ein Tiger im Käfig durchs Haus lief und sie sich überhaupt nicht beruhigen könnten und nicht wüssten, was sie tun sollten. Ich sagte ihr mit vollster Gewissheit, dass ich an Sean glaube, er ist unser Held, ihm kann rein gar nichts passieren, und ich glaubte es wirklich. Ich sagte das nicht nur so, um sie zu beruhigen, ich war wirklich davon überzeugt.
In ein paar weiteren Textnachrichten von Freunden erkundigten sie sich, ob es mir gut gehe, worauf ich mir keinen Reim machen konnte. Eine meiner besten Freundinnen rief mich an und seufzte: „Eden?“ Ich fragte sie, ob sie ok sei und ob was passiert sei, und dann hörte ich sie an ihrem Telefon herumfummeln und auflegen. Aus irgendeinem Grund habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht.
Und dann rief Seth an, aber ich konnte kein Wort verstehen. Er war so hysterisch, dass es einen Moment dauerte, bis er die Worte sagte: „WhatsApp“, „Liste“, „tote Soldaten“, „Sean auch“.
Alles wurde schwarz.
Kleine grüne Knöpfe knallen auf den Boden.
Ein Schmerzensschrei entfuhr meinem Mund.
Ich bin 19 und er ist 21. Nun … war 21.
Ich hatte gerade Gal, Seans Schwester, angerufen und sie sagte, ich solle nach Ra’anana kommen. Als wir dort ankamen, konnte man geradezu den Stress in der Luft, die wir einatmeten, spüren. Der Stress nahm eine fühlbare Substanz an und war so quälend, dass ich mich daran erinnere, wie sich alles sehr schnell bewegte. Eine Stunde verging und ein Krankenwagen hielt unten vor dem Haus an. Gal sah, wie er vorfuhr und fürchtete, dass sie uns wahrscheinlich über Sean informieren würden, und ich sagte, dass vermutlich jemand im Gebäude einen medizinischen Notfall hatte.
Sie behielt Recht. Denn einen Moment später klopfte es an der Tür. Ich habe noch nie mit solcher Angst auf eine Tür geschaut. Um ganz ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht einmal daran, zur Tür geschaut zu haben. Aber ich habe die Tür nicht nur angeschaut, sondern auch geöffnet.
Drei Offiziere.
Ein weiterer Schmerzensschrei entfuhr mir. Dann saßen die Beamten mit einem offenen Ordner und einer Akte auf der Couch und schilderten, wie Sean Nissim Carmeli am 20. Juli um 00.50 Uhr morgens erschossen worden war.
Ich begann abzunehmen. Mein Vater war zufällig gerade in Israel und dann wechselten meine Mutter und er sich ab. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was in dieser Zeit passiert ist. Ich weiß noch, dass meine Mutter mit meinen Vorgesetzten telefonierte und mit wem auch immer sie sprechen musste, damit ich so oft wie möglich zu Hause bleiben konnte, bevor ich zur Kaserne zurückkehrte. Ich blieb ungefähr einen Monat mit meiner Mutter zu Hause, bis sie zurückfliegen musste. Rückblickend war es eine wirklich traurige und unglückliche Zeit für mich.
Und dann machten sie Sean zu einer Ikone. „Sie“, die Medien. Da ja bekannt war, dass Sean ein einsamer Soldat war, verbreitete sich die Nachricht, dass wir als das Volk Israel ihn nicht alleine sterben lassen könnten. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Vater und zwei guten Freunden zur Beerdigung kam. An die Beerdigung selbst kann ich mIch nicht erinnern, wohl aber vergesse ich das Gefühl nicht, wie voll es sich anfühlte.
Ich kam fast nicht durch vor lauter Leuten, und alles, was ich hörte, war ein Flüstern: „Oh mein Gott, das ist Seans Freundin.“
20,000 Menschen.
Wer sind diese Menschen? Und woher kennen sie mich?
In meinem Kopf geschah und bewegte sich zu dieser Zeit alles sehr schnell. Ich vergaß, was ich vor, während und nach der Beerdigung tat. Ich erschien in so vielen Nachrichten, Interviews, Zeitungen und auf Titelseiten. Rückblickend machen mich die Bilder und Aufnahmen von mir schaudern und ich schaue nicht wirklich gerne zurück. Ich möchte die Reporter schütteln, weil sie nicht mehr Erbarmen mit mir haben. Ich spie ihnen Informationen aus, ich brauchte jemanden, irgendjemanden, der mir zuhörte, und ich wusste, dass sie das wollten. Aber meinen Freunden und meiner Familie gegenüber war ich nicht offen, weil ich wirklich besorgt war, ihnen zur Last zu fallen. Ich wollte nicht das Gefühl haben, dass man sich um mich kümmern müsse, obwohl es das war, was ich von ganzem Herzen wollte.
Ich habe meine Freunde vor einigen Jahren gebeten, mir Geschichten darüber zu erzählen, was passiert war, nachdem Sean gestorben war. Sie alle erzählten mir Dinge, von denen ich noch nie gehört, gedacht oder gar gewusst habe, dass ich sie wirklich getan habe. Anscheinend ertönten während des Krieges Sirenen in Tel Aviv und ich war während dieser Woche bei einem Freund. Eine ganze Woche. Entweder war ich die ganze Zeit betrunken, was wahrscheinlich auch der Fall war,, aber mein Gehirn sagte nur Nein, und die Erinnerungen an diese Woche waren einfach weg.
Eine andere dieser Geschichten erzählte von der Beerdigung. Während der Beisetzung starrte ich fast die ganze Zeit verständnislos in die riesige Grube. Am Ende des Begräbnisses war das Grab mit Tausenden von Blumen, Maccabi Haifa-Schals und Schmuckstücken bedeckt, und ich fing an, in der Erde zu graben und all die Gegenstände wegzuschieben, die die Menschen darauf gelegt hatten. Schließlich musste ich weggezogen werden. Ich erinnere mich an das Loch, aber nichts weiter als das.
Als ich gebeten wurde, diesen Artikel zu schreiben, habe ich mir gedacht, dass es eine Chance für mich sein könnte, meine Heilung zu beginnen. Meine eigene Heilung. Abgesehen von der Tatsache, dass ich seit fast sechs Jahren in Therapie bin, könnte es Zeit für eine echte Unabhängigkeit sein. Aber dann griff ich auf meinen gewohnten Vermeidungsmechanismus zurück: Ich möchte mich nicht damit auseinandersetzen, ich möchte nicht, dass die Leute über mich Bescheid wissen, ich schäme mich für mich selbst, vielleicht fällt mir ja eine gute Ausrede ein, aus dieser Angelegenheit herauszukommen und so weiter und so weiter. Aber ich muss mich immer wieder daran erinnern, was mein Ziel ist. Und mein Ziel ist es, offener mit der Trauer und ihren Folgen umzugehen.
Die Folgen sind anstrengend und grausam, aber es wird immer einen Lichtblick geben. Und dieser Lichtblick kann zum schlimmsten Zeitpunkt aus dem Nichts kommen. Ursprünglich war dieser Lichtblick Yoav, mein heutiger Freund. 2015 haben wir uns bei der Arbeit in einem Restaurant kennengelernt. Er brachte mir bei, wie man Kaffee macht, und der Rest ist Geschichte. Yoav hat die Geduld, die meine aufgewühlte Seele brauchte. Ungefähr zwischen 2015 und 2016 war ich auf dem Höhepunkt meines Problems mit meinen Aggressionen. Ich war gerade zum ersten Mal in meinem Leben in eine ernsthafte Kneipenprügelei verwickelt, in der ich gegen zwei Frauen „gewann“.
Wut beherrschte alles, was ich tat, jeden Gedanken. Sie war überwältigend, jede Entscheidung entstammte der Wut auf die Welt und der Ungeduld mit ihr, alles schien gegen mich zu sein. Ich geriet ungefähr ein Jahr nach meinem Treffen mit Yoav in diese Prügelei. Es fing damit an, dass eine betrunkene Frau an unseren Tisch kam und Yoav anmachte, weil sie dachte, dass er sich über sie lustig mache. Sie kam ihm ganz nahe und das war der Auslöser für mich. Ich stieß ihr Gesicht weg und sie geriet ins Stolpern. Ihre Freundin kam zur Verstärkung, also zwei gegen eine. Ich war in totaler Trance vor Wut bis zu dem Punkt, als ich nur noch schwarz sah. Nachdem fünf Barkeeper und Yoav vergebungslos versucht hatten, mich von den beiden Mädchen wegzuhalten, war es vorbei. Ich hatte sie beide in den Magen getreten, während ich sie würgte. Ich habe nie meine Hand gegen einen anderen Menschen erhoben, geschweige denn zwei, außer in der militärischen Ausbildung. Vielleicht kamen die Instinkte der Armee heraus, ich weiß es nicht. Ich erzählte meiner Therapeutin diese Situation und sie legte sie so aus, dass ich meine Freunde und meine Familie übermäßig beschützen möchte und es wahrscheinlich immer tun werde, nachdem ich Sean nicht vor dem Sterben hatte „retten“ können. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben.
Nicht lange nach dieser Prügelei, ich werde den Moment nie vergessen, sah Yoav mir in die Augen und sagte: „Ich kann mir vorstellen, dass wir eine langjährige Beziehung haben werden, aber wenn du deine Wut nicht unter Kontrolle kriegst, ist es das Ende.“ Jeder hätte die selben Worte zu mir sagen können, aber es hat etwas in mir bewegt, als er es sagte. Plötzlich legte sich ein Schalter in meinem Kopf um, und obwohl es vielleicht nicht so schien, weil ich immer noch ein ziemlich wütender Mensch war, wurde mir bewusst, dass ich meinen Ärger kontrollieren muss. Statt den Ärger mich benutzen zu lassen, benutze ich ihn als Antrieb für anderes.
Ungefähr im Mai oder Juni 2015, am Anfang von Yoavs und meiner Beziehung, als er zum ersten Mal in meine Wohnung kam, sah er auf meinem iPad viele Fotos, die ich noch von früher hatte. Er stieß auf eins von Sean und fragte mich: „Woher kennst du Sean Carmeli?“
Ich hatte einen Filmriss. „Ich … äh … nun … er ist … mein Freund.“ Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass ich von Sean in der Gegenwart sprach.
Einen neuen Freund zu haben ist sonderbar. Besonders wenn der Ex tot ist (so seltsam!).
Was sich als ein Hauptproblem für mich herausstellte, ist, worauf ich mich überhaupt beziehe. Betrüge und verrate ich Sean und was wir uns gegenseitig versprochen haben? Werde ich ihn vergessen, wenn ich mit jemand anderem ausgehe? So viele Gedanken schwirren in meinem Kopf und es gab keinen, der das nachvollziehen und mich verstehen konnte.
Es gibt eine Organisation im Rahmen des Verteidigungsministeriums namens Girlfriends of Fallen IDF Soldiers, die sich um Frauen wie mich kümmert. Aber natürlich hatte ich jede Verbindung zu denen total abgelehnt. Ich kam in eine Therapiegruppe mit anderen Frauen, die in der gleichen Situation wie ich waren, einige haben sogar ihren Freund kurz vor ihrer Hochzeit verloren. Ich hatte kein Interesse daran, mich mit ihnen auszutauschen. Ich habe mich nicht um ihre Probleme gekümmert, ich habe mich nur um mich selbst gekümmert. Die Leiterin der Organisation, Rina Kahan, ist wie die Mutter und Großmutter für alle. Ihre Entschlossenheit, allen zu helfen, übertrifft alles, was ich mir hätte vorstellen können. Sie war für mich da, als ich einen Therapeuten finden musste. Sie half mir bei so vielen Dingen, die ich brauchte und nicht hatte. Das war auch das erste Mal, dass ich Sean als meinen Ex bezeichnete und nein, es hört sich noch immer komisch an (tut mir leid, aber es tut mir nicht leid).
Wir alle müssen irgendwelche Hürden in unserer Zeit auf dieser Erde nehmen. Egal ob ihr daran glaubt, dass dieses Hindernis geplant war oder nicht, wir müssen es annehmen. Das Schlimmste, was ich jemals hätte tun können, war, mich selbst aufzugeben.
Ich hätte nie gedacht, dass diese Worte aus meinem Mund kommen würden:
Ich bin glücklich. Ich verdiene es akzeptiert, respektiert und geliebt zu werden, ich bin all das, was ich aus dieser Tragödie aus mir herausholen konnte und mehr. Unsere Vorstellung von unserem Selbst, unserer Identität und Wahrheit liegt lediglich bei uns allein. Aber wir müssen unsere Last nicht alleine schleppen. Wir haben Freunde und Familie, die uns unterstützen können, und sie wollen helfen. Ich arbeite immer noch daran, mich zu öffnen, ich bin sehr schlecht darin, aber jedes Mal fühle ich mich leichter und freier, es ist wie frische Luft.
Hier kommt die Formel des absichtlichen Fehlers ins Spiel. Vor und nach Seans Tod gab es nie jemanden, der nicht gefragt hat, ob ich je bereut hätte, nach Israel gekommen zu sein und mein luxuriöses Leben in New York hinter mir gelassen zu haben, besonders nach allem, was geschehen ist. Auch wenn man bedenkt, dass Israelis oft meinen, die Vereinigten Staaten seien eine Art Utopie, bereue ich es nicht, wo ich heute bin.
Ich liebe, wo ich heute bin. Es ist mir eine Ehre, dort zu sein, wo ich heute bin. Ich bin dankbar, heute hier zu sein.
Viele Leute fragen, ob ich weitermachen oder loslassen konnte. Ich empfehle, niemals ganz loszulassen. So schrecklich diese Situation auch ist, der Tod ist der einzige gemeinsame Nenner für uns alle, arm oder reich, schwarz oder weiß, religiös oder nicht. Der Tod ist hier, um uns daran zu erinnern, realistisch zu sein und dass die Welt eine große Überraschung ist und nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Das ist leichter gesagt als getan, besonders da ich seine Freundin und nicht seine Familie bin.
Dies ist Teil meiner Geschichte, und es wäre eine Schande, loszulassen, nur weil es wehtut. Ich werde niemals seinen Sinn für das Leben loslassen und was seine Präsenz dem israelischen Volk bedeutet. Unsere Ängste, unsere Schmerzen und unser Bedauern sind Bausteine, die uns ermöglichen, eine bessere Version unserer selbst zu werden. Sie braucht nur Zeit, um sich zu formen und zu erkennen, dass es passiert. Ich glaube auch nicht, dass ich jemals zu meinem alten Ich zurückkehren werde, denn wenn ich das täte, hätte ich nichts gelernt. Und das gilt für alle auf der Welt, die den Tod erleben.
Wenn wir das Ende eines anderen erleben, heften wir uns von diesem Punkt an ein großes Fragezeichen über den Kopf, da unser Konzept von Leben und Tod völlig erschüttert ist und überhaupt nicht mit dem übereinstimmt, was wir angenommen haben.
Es gibt keine Tipps und Tricks, um Trauer zu finden. Keine Abkürzungen. Trauer ist der tückischste und täuschendste Berg, den du jemals besteigen wirst. Gleichzeitig ist es schön, dass die Trauer um jemanden, den du geliebt hast, die höchste Form des Respekts gegenüber einem verstorbenen Mitmenschen oder Tier ist. Das Weinen und Schluchzen über ein schönes Leben, das zu Ende geht, ist insofern faszinierend, da unser Gehirn versucht, das Konzept von dem Ende zu erfassen, wenn es für uns gleichzeitig überhaupt keinen Sinn ergibt, beides geschieht gewaltsam. Wenn überhaupt, hoffe ich, dass man viel mehr über den Tod aufklären sollte und dass er kein unaussprechliches Thema mehr sein sollte. Das Leben auf der Erde ist ein kontinuierlicher Kreislauf und der Tod führt zu neuem Leben. Das Rad dreht sich, und mal ist man oben und ein anderes Mal unten.
Sechs Jahre sind inzwischen vergangen, und ich kann euch jetzt sagen, dass ich mein Lichtblick bin.
Und du bist dein Lichtblick.
Wir hoffen, Ihnen hat dieser Artikel gefallen! Die englische Version zu dem Artikel finden Sie hier.
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Dieser Artikel ist an manchen Stellen so „ehrlich“ das ich ein leichtes Schaudern gespuert habe…Baruch dayan haemet!+Lechaim!!!