Alex leidet an einer unheilbaren Krankheit und beschließt, nach Zürich zu fliegen, wo er mit Hilfe von EXIT seinem Leben ein würdiges Ende setzen kann. Das Buch „Hast alleine gepackt“ beschreibt seine letzten Stunden, in denen sich Trauer, Sehnsucht und eine stille Freude über das Leben, das er hatte, vermischen. In Alex‘ Geschichten verweben sich die Geschichten der anderen Figuren, deren Leben Alex‘ Leben berührten: Freunde, Geliebte, verschiedene Tiere und Passagiere im Flugzeug.
Im Folgenden zwei „Kostproben“: das Vorwort, das die Welt beschreibt, in der es kein Leben mehr gibt; und ein Teil eines Kapitels über die Passagiere im Flugzeug. In diesem Kapitel erscheint plötzlich der Erzähler, offenbar ein ehemaliger Klassenkamerad einer der Passagiere im Flugzeug.
Asaf Schurr ist 1976 in Jerusalem geboren, erhielt 2009 den „Bernstein“-Preis für sein Buch „Amram“, und im selben Jahr den Premierministerpreis für hebräische Literatur. Sein Buch „Motti“ ist 2010 in deutscher Übersetzung erschienen.
Hast alleine gepackt
von Assaf Schurr
Übersetzung: Uri Shani
Die Sonne wird weiterhin scheinen, das heißt – brennen. Explodieren, ohne Unterbruch. Die Zeit wird vergehen, auch ohne dass jemand sie misst. Das Licht wird sich in tausend beglückenden Färbungen auf dem nassen Stein spiegeln. Und keine Bewegung, nur die des Windes, der in der Bewegung der trockenen Halme spürbar ist, wenn er durch sie hindurchzieht, und keine Stimme, nur das Rascheln dieser Halme, und dann, oben, die nackten, trockenen Äste, die sich auf dem Hintergrund des Himmels wie Spitzen bewegen, oder wie dünne, raschelnde Papierschnitte, aber das Papier ist schon längst zerbröselt.
Über all diesem, auf der Linie des Horizontes, hängt eine dünne, rosarote Wolke wie eine Falte, die riesige Finger in den blauen Himmel gekniffen haben. Die Berggipfel unter ihr, und die Berge selber, bewegen sich in ihrer langsamen geologischen Bewegung wie seit Urzeiten. Die Balken des zerfallenen Hauses, ein Haufen von totem Holz, liegen zwischen den toten Baumstämmen, die noch stehen, stumm ruhend, aber von Stunde zu Stunde geht das Licht an ihnen vorüber, zieht sich in einer sauberen Diagonale dahin, spült sich über sie von Kopf zu Kopf, hält inne und zieht sich dann zurück; sie werden schwarz, nach einer Weile neigt sich die Nacht über sie, und sie versinken in der Dunkelheit. Die Sterne erleuchten nacheinander wie unendlich viele Lampen in fröhlichen und fernen Häusern. Sie fliegen dahin in ihrer komplizierten Flugbahn. Dann verwischt die Dunkelheit an einem Ende des Himmels, als hätte jemand Kohlenstaub weggeblasen und den rosaroten Untergrund freigelegt. Und wieder die Sonne, wieder der Wind, wieder die Bewegung des Lichts auf den Balken, die Dunkelheit, die Sterne, die Nacht vergeht, und alles beginnt von vorne.
Und niemand weiß, wie viele Male all dies fast ohne Änderung geschehen ist. Aber dann, im Herzen all dieser herrlichen, schrecklichen Leere, wand sich trotzdem ein Etwas. Es richtete sich langsam empor, blass grün, auf dem Hintergrund eines weißen Knochens, als niemand da war, der ihn hätte Knochen heißen können, und deshalb war er nur ein Stein unter all den Steinen. Es bewegte sich langsam, langsam. Die Hartnäckigkeit des sich entfaltenden Lebens, ein Funke, der sich vielleicht noch entzünden wird, und alles wird von vorne beginnen.
…
…
Sie saßen in der ersten Reihe in der Abflughalle, mit dem Blick auf die große Glaswand. Die Beine des Knaben bammelten über dem Fußboden. Jariw, sagte seine Mutter, wir sollten jetzt auf die Toilette gehen. Danach kannst du nicht mehr bis nach dem Abflug.
Ich muss aber nicht, sagte der Knabe.
Vielleicht versuchst dus trotzdem, sagte die Mutter. Janai, kannst du ihn bringen?
Was willst du von ihm, Wered, sagte der Vater. Er sagte, er muss nicht auf die Toilette.
Janai, sagte die Mutter, entweder jetzt, oder er macht nachher in die Hosen. Bitte, bringe ihn zur Toilette.
Ich muss nicht, sagte der Knabe wieder. Ich muss nicht ich muss nicht ich muss nicht.
Dann machst du halt einen Spaziergang mit Papa zur Toilette und wieder zurück.
Janai, jetzt beginnt gleich das Boarding. Mach mir den Gefallen. Bitte. Sei so gut.
Er sagt, er muss nicht! wiederholte der Vater, diesmal lauter.
Schrei mich nicht an, sagte die Mutter.
Ja, wirklich, Entschuldigung! Meine Stimme ist tatsächlich das Problem jetzt. Was für schöne Ferien du uns bereitest, Wered. Wirklich, danke für die angenehme Stimmung.
Die Mutter antwortete nicht.
Komm, Jariw, sagte der Vater. Komm mit Papa zur Toilette.
Ich muss nicht, wiederholte der Knabe hartnäckig.
Ich habe nicht gefragt, ob du musst oder nicht, Jariw, ich sagte, du kommst jetzt mit mir, und darüber wird jetzt nicht mehr diskutiert.
Der Knabe stieg gehorsam vom Stuhl. Hinter den Theken bereiteten sich die Stewardessen vor. Es bildete sich eine Schlange auf dem grauen Teppich. Eine der Stewardessen flüsterte einer anderen etwas zu, die sich zu ihr hinneigte, eine Grimasse zog, sich dann wieder aufrichtete und mit der Hand durchs Haar fuhr, das mit zwei oder drei schwarzen Haarnadeln am Kopf befestigt war. Der Vater blickte sie an, dann seine Frau. Sie riss die Augen auf und gestikulierte mit der Hand: geht schon.
Der Vater prustete ärgerlich. Komm, sagte er zu seinem Sohn.
Ich verstehe nicht, was es hier zu überlegen gibt, Wered, hatte ihre Mutter gesagt, als sie ihr erzählt hatte – nach ausgiebigem Druck, unglaublich wie hartnäckig diese Frau sein konnte – dass sie sich überlege, sich vielleicht von Janai zu trennen. Er ist ein anständiger Mann, Wered, hörst du mich? Und dahinter widerhallte, ohne es zu sagen (wie eine Saite, die in einem anderen Zimmer gespannt worden war und niemand hatte sie gezupft, aber sie war genau auf diesen Ton gestimmt) „Wer sonst wird dich noch nehmen“.
Fünf Jahre waren seither vergangen. Manchmal denkt sie noch darüber nach. Was war schlecht daran gewesen, allein zu sein? Ehrlich gesagt, fast alles. Sie hasste es. Ein ganzes Leben alleine – und man kann sich nicht daran gewöhnen. Und trotzdem, trotz allem, was ihre Mutter ihr gesagt und auch sie selber gefühlt hatte, manchmal hatte die Hochzeit in ihrer Erinnerung einen zahnstumpfenden Geschmack, der ihr hinten im Mund saß, auch wenn sie vor Freunde geweint hatte und die Freundinnen von der Arbeit sie herzlich umarmt hatten und erregt waren, auch als sie ihn unter der Chuppah geküsst hatte, und alle hatten geklatscht. Auch als sie linkisch getanzt hatten.
Jetzt blickte sie ihn manchmal an, wenn er im Wohnzimmer fernsah, und sie wollte alles stehen und liegen lassen und gehen; hinlegen, was sie gerade in den Händen trug – den Waschkorb, ihren Teller oder den von Jariw, die Mahlzeittasche für den Kindergarten, ihre Tasche, die Schuhe – und verschwinden. Ohne Drama, ohne Tür zuknallen. Still. Erst wenn er schlafen ging, würde er bemerken, dass sie schon nicht mehr da war. Sie war nicht oberflächlich. Sie hatte nicht wirklich ein Problem mit seinem Haarausfall oder mit seinem schwachen Kinn. Das Problem war nicht ihr Problem damit, sondern sein Problem damit. Tatsächlich betrachtete sie ihn manchmal, wenn sie im Wohnzimmer saßen, abends, und dachte, na ja, du bist ja auch keine Schönheitskönigin. Und sie hätte wirklich kein Problem damit, wenn er sich den Kopf kahl rasieren würde. Auch nicht, wenn er ihn nur kurz schneiden würde. Überhaupt nicht. Was sie rasend machte, und nicht zugeben wollte, war, dass sein Haar im Nacken, über den karierten Hemden, die er hartnäckig trug, obschon sie ihm nicht schmeichelten, rar wurde. Das ist der Lauf der Dinge, auch im Nacken, dachte sie, ich habe es aufgegeben, etwas darüber sagen. Ich habe es aufgegeben, und deshalb habe ich dich gewählt. Wer sonst wird uns noch nehmen.
Es schien, dass die ganze Welt um sie herum beruhigt aufatmete, als sie schwanger wurde. Es stellte sich heraus, dass alle – ihre Mutter, natürlich, aber auch die ganze Großfamilie, das Volk, der Staat, und das nationale Bewusstsein – ein Interesse am Kind hatten, und deshalb an ihrer Schwangerschaft, und deshalb an der Fruchtbarkeit und der Befruchtung, und deshalb an ihrem Sexualleben und ihren Genitalien. Ihr könnt mich mal, dachte sie damals. Nimmt mein Kind und erstickt damit.
Wir trafen uns auf dem Platz vor dem Museum, ein paar Wochen nachdem sie erfuhr, dass sie schwanger ist, ein paar Tage nach der Hochzeit, ein paar Monate nach jenem Gespräch mit ihrer Mutter, ein paar Jahre vor dem Jetzt, im Flugzeug. Man sah ihr noch nichts an, und sie erzählte es mir natürlich nicht. Sie kam zum Museum mit Verwandten aus dem Ausland, die ihr Vater zur Hochzeit eingeladen hatte, Verwandte, die ich von meiner Kindheit in angenehmer Erinnerung hatte, und sie waren ein paar Tage im Land geblieben, um es sich ein wenig anzusehen. Ich war gekommen, um einen Schulausflug meiner Tochter zu begleiten. Im Museum war eine Reise in die gemeinsame Geschichte von uns allen zu sehen, mit einer eindrucksvollen Multimediashow für jedes Alter. Ein einmaliges Erlebnis. Die Kinder gingen hinein, und ich blieb einen Moment draußen, um mir ein wenig die Beine zu vertreten und mit jemandem am Telefon zu sprechen. Ich erkannte sie kaum. Sie war so dick geworden. Die Verwandten gingen noch ein Stück weiter, zu den Skulpturen, und sie stand zwischen zwei Pinien und schaute blickte zu Boden. Wered? Fragte ich. Sie drehte sich um und stand für einen Moment ausdruckslos da, doch dann erkannte sie mich und lächelte zögernd.
Wir standen da, zwischen den Bäumen. Ich erzählte ihr über meine Töchter, und sie sagte, dass sie soeben geheiratet habe. Ich fragte sie über jemanden, die mit uns in der Schule und ein bisschen eine Freundin von uns beiden gewesen war, aber sie waren nicht mehr in Kontakt, und sie fragte mich über zwei andere, über die ich Bescheid wusste. Hast du von Assaf gehört? fragte sie schließlich. Traurig, so zu sterben. Ich kann mich nicht mehr richtig an ihn erinnern. Ich nickte. Wir haben dieses Alter erreicht, dachte ich, wo der frühzeitige Tod immer noch überrascht, aber schon keine Schlagzeilen mehr macht. Am Schluss standen wir da und schwiegen. Gut, sagte ich, ich muss jetzt mal, ich begleite die Klasse meiner Tochter. Die in der ersten Klasse ist, nicht die ganz kleine. Sie nickte. Aus den Baumwipfeln am Ende der Allee stieb ein Schwarm Vögel in den Himmel, und alle Vögel zeichneten synchron miteinander eine Flugbahn wie ein wuchtiger Pinselstrich am Himmel, als schlugen sie alle mit demselben Flügel. Wir betrachteten sie. Wir standen dort wie zwei Überlebende einer Katastrophe, an die sich außer uns niemand mehr erinnerte. Und warum Katastrophe, von wegen. Wir waren ja nur zusammen in der Schule.
Als der Schulausflug zu Ende war, stiegen wir alle in den klimatisierten Bus. Der Fahrer hatte auf uns gewartet und die Klimaanlage betätigt. Ich saß mit der kalten Luft im Gesicht. Ich schälte die Nylonfolie vom Sandwich meiner Tochter und dachte, ich habe mich kreiert, so wie ich bin, mit kleinen Schritten. Wenn ich nur genug Zeit habe, kann ich, mit kleinen Schritten, auch jemand anderer sein.
Wieviel Zeit habe ich noch? Das ist immer die Frage.
wunderschöne Geschichte, und sehr schön übersetzt! Die Frage ist tatsächlich immer “wieviel Zeit habe ich?” und nicht die des Buchtitels “selbst gepackt?”, die am Flughafen gestellt wird – daher steht sie ohne Fragezeichen da, als Aussage. Die Obsession, Kinder zu haben, ist ein großes Thema in Israel. Und Sterbehilfe ein großes Tabu. Man kann das Leben nicht alleine anfangen oder beenden – aber hoffentlich gibt es dazwischen etwas Spielraum, je nachdem wieviel Zeit man noch hat…