Alter, Alzheimer, Familie, Roman, Israel
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Ende und Anfang

Michal ist eine 39 Jahre alte alleinerziehende Mutter eines 14-jährigen Sohnes. Sie hat eine komplizierte Beziehung mit ihrem Ex-Partner, es fehlt ihr der Lebensfunken, sie will eine Äderung, kann sich nicht vorstellen, dass Seew, ihr Vater, ein Mossadagent auf dem Höhepunkt seiner Karriere und in der Mitte seines Lebens, plötzlich an Alzheimer erkrankt, sodass er seine Familie und sich selbst vergisst, und sie macht sich auf den Weg nach der Suche nach einem neuen Leben.

Shelly Zichlinski ist verheiratet, Mutter von vier Kindern, eines davon adoptiert, und arbeitet als Sozialarbeiterin. „Ende und Anfang“ (2020) ist ihr erstes Buch.

Ende und Anfang

von Shelly Zichlinsky

Übersetzung: Uri Shani

Seew war enttäuscht von den C.T.-Ergebnissen, die keinerlei Tumor oder Blutung in seinem Kopf ergaben, wie es Dr. Ewen Chen erwartet hatte. Die Lösung konnte vielleicht bei einer Neurologin gefunden werden. In ihrer dringenden Überweisung schrieb sie: „Still, reagiert auf die Umwelt, vergisst Dinge.“

Trotz der dringenden Überweisung erhielt er einen Termin bei der Neurologin erst nach zwei Wochen.

In der Klinik von Dr. Jacqueline Marcia gab sich Seew Mühe, alle Wörter zu verstehen, aber es gelang ihm nur, die Fragen aus dem Zusammenhang zu verstehen.

„Sechzig Jahre alt“, sagte er. Dr. Marcias Augen erinnerten ihn an die Augen seiner Mutter, es strömte eine Wärme und Milde aus ihnen, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Die identischen goldigen Bilderrahmen der Würdigungsdokumente an der Wand nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch, er versuchte zu lesen, was da in kleinen Lettern stand und verstand, dass Dr. Marcia eine Spezialistin für Gedächtnisprobleme war. Er war plötzlich von einer großen Kraft erfüllt und war sicher, dass ihm Dr. Marcia werde helfen können.

„Wissen Sie, wo Sie sind?“

„Ja, in ihrem Zimmer.“

„Und wo sind wir?“

„Im Beilinson-Krankenhaus, eigentlich heißt es heute Rabin“, antwortete er, stolz auf die Detaillierung, die er demonstrieren konnte.

„Und welcher Tag ist heute?“

„Donnerstag.“

„Und das Datum?“

„Der 15. November.“

„Können Sie auch das Jahr angeben?“

„2012.“ Seew hatte ein gutes Gefühl. Er war ausgezeichnet. Aber vielleicht war das eigentlich nicht so gut. Wenn er alle Fragen richtig beantwortete, dann hatte er vielleicht kein Problem, das die Frau Doktor behandeln konnte.

„Können Sie für mich rückwärts von 100 zählen, mit Abstand von sieben, bitte?“

„Sicher. 100… 93…“ Schnell wurde sich Seew bewusst, dass es gar nicht so einfach war. Er strengte seinen ganzen Körper an, sodass seine Muskeln zu schmerzen begannen. „…66…“

Er spürte, wie sein Hirn begann zu brennen, er wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte, aber er konnte an keine andere Zahl als an 66 denken.

„86“, sagte Iris. „Er meinte 86.“

„Bitte sehr“, wandte sich Dr. Marcia an sie. „Lassen Sie ihn selber die Aufgabe beantworten.“

„77….54…“

„Danke, Seew“, sagte Dr. Marcia. Seew war wütend auf sich selbst, dass er es nicht geschafft hatte weiterzuzählen, auf Iris, dass sie sich eingemischt hatte, und auf Dr. Marcia, dass sie zu ihm wie zu einem kleinen Knaben sprach. Sein Blick war auf ihr pechschwarzes Haar, nach hinten gezogen und mit einem Gummi zusammengefasst, gerichtet. Er hatte immer schon eine Schwäche für langes Haar gehabt. Iris hatte ihr Haar gegen seinen Willen geschnitten, in ihrer geistlichen Phase, als sie beschlossen hatte, an ihrem fünfzigsten Geburtstag, dass die Kinder schon genug alt seien und es an der Zeit sei, etwas für sich selbst zu tun, und zwei Monate lang Indien und Tibet bereist hatte. Und seither blieb sie mit einer etwas mannhaften Frisur.

Der kühle Wind aus der Klimaanlage hinter ihm betonte Dr. Marcias Brustwarzen, die fast aus ihrem roten enganliegenden Hemd ausbrechen. Ihr runder und beachtlich großer Busen war so völlig anders als Iris‘ kleine Brüste, an die er so gewöhnt war. Seine Lust ist noch nicht ganz verschwunden, dachte er, und schämte sich, dass er sich darüber bewusst war, während er ja selbst von Dr. Marcia untersucht wurde.

Die Ärztin bat ihn, Bilder zu ordnen, Sätze zu lesen und geometrische Formen zu kopieren.

„Das Letzte, was ich Sie bitten will:“, sagt Dr. Marcia – Seew wollte diese Teste unendlich lang fortsetzen – „Gehen Sie bitte zur linken Schublade, entnehmen Sie daraus ein weißes Blatt Papier und einen Stift und zeichnen Sie eine Uhr.“

Viele Dinge sagte Dr. Marcia, dachte er. Er musste Ordnung schaffen. Sie sagte Schublade, und er erahnte die richtige. Er nahm ein weißes Blatt Papier und einen Stift daraus, setzte sich und legte Papier und Stift auf den Tisch.

Eine Uhr. Das war das Ding, das er immer am Handgelenk gehabt hatte. Er wusste schon lange nicht mehr, wo seine Uhr war, und empfand ihr Fehlen nicht. Er hatte ja sein Handy. Manchmal gab es auch solche Dinger an der Wand. Er schaute sich um, aber sah nur die eingerahmten Würdigungen, die seinen Blick vorhin gefesselt hatten.

Seew zeichnete einen mittelgroßen Kreis und war stolz. Er wusste, dass die Ziffern fehlten, und wusste auch, welches sie waren, er sagte bei sich: 3, 6, 9, 12. Jedes Kind kennt die Ziffern der Uhr, aber er war erstaunt, dass er vergessen hatte, wie sie anzuordnen waren. Mit großer Mühe versuchte er sich zu erinnern, wohin jede Ziffer gehörte, und schließlich sagte er, um sich der Blöße zu entziehen: „Das ist eine Uhr, man muss die Ziffern einfügen.“ Aber jetzt konnte er plötzlich auch nicht mehr sagen, welche Ziffern, und legte den Stift auf das Blatt.

Iris musterte ihn und dann Dr. Marcia und wieder ihn. Sie rügte ihn: „Na dann schreib sie hin, und was ist mit den Zeigern?“ Sie war ungeduldig. „Denn die Ärztin bat dich, eine Uhr zu zeichnen.“

Was zum Teufel waren Zeiger? Er war wütend auf Iris, dass sie sich einmischte, aber versuchte nachzudenken. Nein, das machte keinen Sinn, man brauchte sie nicht, wenn man die Uhr am Handgelenk hatte. Er versuchte, schnell nachzudenken, bevor Iris und die Ärztin die Geduld verlören und er im Test versagte.

Iris verstand, dass die Lage schlimm war. Seew war ein Perfektionist, er war auf die kleinsten Details in seinem Leben und vor allem in seiner Arbeit bedacht, und davor, wenn man ihn gebeten hätte, eine Uhr zu zeichnen, hätte er nichts vergessen, Ziffern, Zeiger und auch den Firmennamen.

Dr. Marcia versuchte zu beruhigen. „Verehrte Iris, Sie müssen ihn nicht rügen, vielleicht hat er es vergessen, und vielleicht erinnert er sich in ein paar Sekunden.“

Jetzt fühlte Seew, dass er sich wirklich in die Ärztin verliebte. So weiblich und verständnisvoll. Iris war sehr ungeduldig, ihm gegenüber, und er fühlte sich meistens schuldig und bedroht.

Iris wollte fliehen, aber konnte nicht. Sie empfand eine riesige Wut auf ihn und es schien ihr, dass er sich nicht genug Mühe gab.

Nach ein paar zusätzlichen Fragen und noch ein paar Zeichnungen, die er zeichnen sollte, begann Dr. Marcia ihre Zusammenfassung: „Ich glaube, Seew steht am Beginn einer Demenz.“ Sie wandte sich an Iris, als sei er nicht im Raum.

„Was ist das genau, eine Demenz?“ fragte Iris.

„Haben Sie von Alzheimer gehört?“

„Ja“, sagte Iris. „Seews Großmutter hatte Alzheimer, aber sie 86.“

„Dann kann das ein Teil der Erklärung sein“, sagte Dr. Marcia. „Die Alzheimer-Krankheit ist eine Art von Demenz – mit der Zeit wird er seine Erinnerung und seine Identität verlieren. In der Vergangenheit dachte man, dass demente Menschen verrückt oder geistesgestört seien.“

Dr. Marcias Stimme schwebte im Zimmer. Sie war zwar sehr angenehm, aber ihre Worte machten den Eindruck, als rezitiere sie einen Vortrag in der Universität.

„Heute weiß man, dass die Krankheit gewisse Teile des Hirns schädigt, die absterben und sich nicht erneuern.“

„Ja, aber was sagen sie hier eigentlich?“

„Das ist es, woran meiner Meinung nach Seew leidet, aber wir müssen die Diagnose noch mit einigen zusätzlichen Tests untermauern. Die Alzheimer-Krankheit entwickelt sich langsam und führt zu Änderungen im Hirn, lange bevor man klare Symptome im Gedächtnis, im Denken, im Gebrauch von Wörtern oder im Verhalten erkennen kann. Deshalb ist es gut möglich, wenn die Tests, die ich soeben gemacht habe, wovon eine Mini-Mental-Status-Test heißt, eine schlechte Bilanz ergeben, dass der Patient schon eine Zeit lang krank ist.“

„Können Sie und ein wenig mehr erklären, was das heißt, und was wir tun sollten?“ bat Iris.

„Ja, sicher. Diese Krankheit ist heute leider unheilbar. Das Hirn degeneriert in einem langsamen, stetigen und unwiderruflichen Prozess. Zunächst vermindern sich die kognitiven Fähigkeiten – Gedächtnis, Orientierung, Sprache, Verständnis, Beurteilung, und weiteres, später können auch Verhaltensstörungen auftreten.“

Sie wandte sich an Seew: „Seew, Sie haben gesagt, dass Sie Finanzberater sind, ich glaube, Sie sollten sich überlegen, in Ferien zu gehen; es ist in ihrem Zustand nicht angebracht, dass Sie sich mit großem Geld für Investitionen beschäftigen.“

Er schaute auf Iris, und beide wussten: Es ist schlimmer, als sie denkt, aber sie schwiegen.     

„Die Alzheimer-Krankheit verändert den Menschen fortwährend“, fuhr die Ärztin fort und wandte sich wieder Iris zu. „Am Anfang wird er Menschen und Ereignisse vergessen, dann wird er beginnen, sich selber nicht mehr zu erkennen, dann wird er vergessen, wie man spricht, wie man geht, wie man isst, und zuletzt wird das Hirn vergessen zu atmen und zu leben. Das Problem mit einigermaßen jungen Patienten wie Seew, ist, dass bei ihnen die Krankheit schneller fortschreitet als bei älteren. Bei älteren Patienten jeder Prozess im Körper ist langsamer als bei Sechzigjährigen, die für diese Krankheit als jung gelten.“

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
2 Jahre

Auch in der Uebersetzung sehr deprimierend…

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