Herzl hat gesagt

von Yoav Avni

Übersetzung: Uri Shani

„Herzl hat gesagt“ ist der dritte Roman von Yoav Avni, israelischer Schriftsteller und Übersetzer. Er geht von einer imaginären historischen Situation aus: Dass der britische Vorschlag, einen jüdischen Staat in Uganda zu gründen (der sogenannte Uganda-Plan) zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommen wurde. Kfir und Ari (die beiden Namen bedeuten beide „Löwe“) sind zwei israelische Soldaten, und nach Beendigung ihres Militärdienstes machen die beiden nach dem Militärdienst eine Reise in den Osten, genau wie junge Israelis es in unseres nicht-imagniären Welt machen, nur reisen eben Kfir und Ari in den Nahen Osten. Der Roman führt vom afrikanischen Staat Israel in die Region von Palästina.

„Herzl hat gesagt“ gewann 2012 den israelischen Gefen-Preis als bestes Buch in der Kategorie „phantastische Literatur“.

„Ich war begeistert von der Idee von jüdischen Siedlern an diesem Ort, im Dschungel, unter Wilden und Wildtieren, Juden, die auf primitive Art in Schlammhütten leben, sich hier ansiedeln, neues Leben kreieren und die Geschichte unseres Volkes verändern.“

Nachum Wilbusch, „Die Ugandaexpedition“ (S. 56 im Original)

Erster Teil Tel-Aviv – Jaffa

Rüssel oder Rohr?

Ha, dort! Irgendwas pendelte langsam hin und her, auf der anderen Seite der Grenze, und Kfir zögerte –

Ein Elefant oder ein Panzer?

Es war schwierig einzuschätzen. Die Sonne senkte sich über die Savanne, und in ihrem pfauenen Licht war es Kfir, wie wenn sogar die Davidsterne alle paar Minuten ihre Farben änderten. Das strahlende Blau versiegte in ein Violett, leuchtete rot auf, füllte sich mit Orange.

Er strengte seine Augen an und musterte erneut den Horizont, der von den langen Regenfällen des Augusts funkelte. Sein bester Freund half ihm nicht besonders. „Alarmiere nicht umsonst die ganze Kompanie“, sagte er.

Von sechs bis zehn – die leichteste Zeit zum Wache schieben, ihr letztes Wacheschieben, und Ari musste unbedingt sogar dieses letzte Mal die Befehle brechen – er schaute nicht durch das Fernglas, und auf dem Betonboden des Wachturms liegend erlaubte er sich sicher zu sein, das sei nur ein Elefant. „Heute ist unser letzter Tag“, sagte er.

Kfir wusste das, natürlich wusste er es, aber die Entlassung – sogar diese Bezeichnung – war etwas Mysteriöses und Verschwommenes wie dieses Etwas am Horizont.

Entlassung wovon? Entlassung wohin? Es war schwierig zu definieren, und er erlaubte sich, nur dieses eine Mal, das auf morgen zu verschieben.

Kfir drückte das Fernglas fest auf die Augen und strengte sich an. Sein Blick schweifte Richtung Süden – über die Nationalfahnen und die Ziegeldächer von Kfar Darom hinweg, über die Flüchtlingslager der Massai, die die Siedlungen des Landstreifens belagerten. Er prüfte die entmilitarisierte Zone von der Grenze mit Tansania und bis zu den Akazien. Hinter diesen Akazien versteckte sich der Elefant, oder vielleicht der Panzer – das Fernglas gab seine Identität nicht preis und rundete die Ecken der Realität ab.

„Meinst du, wir sollten Bescheid geben?“ fragte er, während er das Funkgerät testete.

„Ich meine, wir sollten das Mückenschutzmittel finden“, sagte Ari und befreite sich von seiner Schutzweste. „Ich hab vergessen, mich einzuschmieren, und gleich ist dunkel. Ich will nicht mit Malaria nach Hause kommen.“ Er stand auf und griff nach der Leiter, die nach unten führte. „Komm gleich wieder.“

„Wart mal!“ rief Kfir. „Ich hab was hier. Du willst doch nicht, dass man dich ausgerechnet heute erwischt.“

Ari setzte sich auf eine Munitionskiste und prüfte den Spray, den sein Freund ihm gab. „Apfel-Zimt? Der Geruch von diesem Mist vergeht nie.“

„Das war es, was sie im Materiallager hatten.“

„Und viel ist nicht übrig“, stellte Ari fest, während er den Spray schüttelte.

Kfir hielt wieder Ausschau. Er hielt das Fernglas fest an die Augen. Seine Hände umfassten die beiden Rohre, und die Finger drehten langsam am Mitteltrieb der Scharfstellung.

„Und du?“, fragte Ari.

„Hab schon.“

„Ich meinte, so allgemein.“ Er schob die Ärmel rauf und begann, sich abzusprayen. „Ich zum Beispiel würde nicht auf diese Stellung mit dem Fernglas bestehen. Du weißt, dass das Glas nicht mit uns geht morgen, ja?“

„Sei mal ernst.“

„Ich meine es ernst, Kumpel. Du bist es, der darauf besteht, Panzer auf den Bäumen zu suchen.“

„Wir schieben Wache, Ari, also wache ich.“

„Was bewachst du? Die Grenze? Hast du noch nicht verstanden, dass wir nicht dafür hier sind. Zum tausendsten Mal – wir sind hier nur wegen der Siedler.“

„Dann halt zum 1001. Mal – sie sind Bürger unseres Staates wie Du und ich“, sagte Kfir, „und sie sind nicht das Problem. Niemand zwingt diese Mambo-Jambos, Ziegen mit versteckter Sprengladung zu schicken und sich hinter Kindern zu verstecken. Sie sind es, die mit vergifteter Sprengladung auf den Speeren und mit Kuhscheiße im Hinterhalt sitzen, nicht wir.“

„Und ziemlich mit Recht, wenn du mich fragst. Sie sind Nomaden, die wegen uns nicht mit ihren Herden herumziehen können. Wenn ich wie sie unter Besatzung leben würde, würde ich auch versu- “ Ari zerquetschte eine Mücke, die auf seinem Handrücken gelandet war. „Siehst du? Noch so Selbstmörder. War es das wert?“ fragte er die zerquetschte Mücke. „Macht nichts, all das ist bald vorbei.“ Er spritzte sich nochmals ab und gab Kfir den Spray zurück.

All das ist bald vorbei – Kfir versuchte sich vorzustellen, wie genau, aber vergebens. Er war nicht sicher, ob Ari den einseitigen Abkoppelungsplan meinte, oder die bevorstehende Reise, und er mochte es nicht, wie sein Freund über die Siedler sprach. Afrika war der Ursprung der Menschheit, und nicht ein Patent von Herzl. Als die ersten Einwanderungswellen kamen, begrüßten die neuen Nachbarn die Einwanderer nicht besonders herzlich und luden sie nicht zu einem Glas Zuckerrohrsaft ein. So einer aus Tel-Aviv wie Ari konnte leicht vergessen, dass dort vorher Massai waren, eine Menge Massai. Aber Kfir sagte nichts. Politische Diskussionen verwirrten ihn, und meistens fand er sich auf der Gegenseite seines Gesprächspartners, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin kam – Gespräche mit Ari schoben ihn auf die rechte Seite, und wenn er mit seinem Bruder sprach, zum Beispiel, rutschte er links ab.

Aber das ist jetzt wirklich egal, dachte er, sie sind immer noch Soldaten, mindestens bis morgen, und heute Nacht, bis zehn, dieses Stück Horizont war in ihrem Verantwortungsbereich – mit all seinen Elefanten oder Panzer. Kfir hielt wieder Ausschau. Er liebte das Wache schieben – die Grenze gab seiner Welt eine Bedeutung. Sie bezeichnete die Abgrenzung zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können.

Israel, Kenia, Tel Aviv, Afrika
mit freundlicher Genehmigung von Yoav Avni

Der Himmel wechselte Farben, und die Nacht wurde mit einem Sternenmantel überzogen. Die Bäume hinter der Grenze verschwärzten sich, und verwirrende Schatten wuchsen aus ihnen. Das Fernglas hatte keine Chance. „Ich verlange Feldbeleuchtung“, gab er bekannt.

„Schade, du blendest den Elefanten“, sagte Ari. „Lass es, glaub mir.“ Er zückte seine IDF-Machete und begann, den Mango zu schneiden, den er zum Wachposten geschmuggelt hatte. „Wieviel Uhr ist es überhaupt?“

„Noch zwei Stunden“, gähnte Kfir gegen seinen Willen. Seine Lider waren schwer, er zog sie hoch, zückte eine Wasserflasche und trank den ganzen Inhalt.

„Dann kannst du dich ausruhen. Hier geschieht nichts bis zum Abzug.“

Kfir schwieg. Sein Vater hätte Ari jetzt verbessert und „Abriss“ gesagt.

„Alle warten“, sagte Ari und lehnte sich zurück. „Alle wollen zusehen, wie wir die Suppe auslöffeln, die wir uns hier eingebrockt haben.“ Er wischte die breite Klinge an seiner Weste ab und stand auf. „Jetzt lass mal ein bisschen los und gib mir das Glas. Man sieht sowieso schon nichts mehr.“ Den geschnittenen Mango reichte er seinem Freund mit einem Lächeln. „Magst ein bisschen Oranges?“

Kfir lächelte nicht. Na gut, vielleicht ein bisschen. Ari nahm an, dass das bestimmt genetisch sei, aber Kfir gehörte nicht wirklich zu den Orangen (das war die Farbe der militanten Siedler) – er befürchtete nicht, dass die einseitige Abkoppelung eine Katastrophe für Israel sei oder den Massai beweisen würde, dass man uns wirklich alle zu den Krokodilen werfen könne, und trotzdem, jedes Mal wenn er vom Wachturm auf die Siedlungen schaute, die im Landstreifen verteilt waren – hartnäckige Linien von geometrisch genauen Steinhäusern inmitten des explodierenden Chaos‘ der halbfertigen Hütten aus Stroh und Kuhmist – da fühlte er sich mit den Siedlungen verbunden.

Es ist kein Abzug. Es ist tatsächlich ein Abriss. Und das ganze Programm soll in einigen Stunden abgerissen werden. Und auch er reißt seinen Dienst ab (die Bezeichnung Entlassung war ja merkwürdig genug, aber der umgangssprachliche „Abriss“ war schon ein Rätsel!) – nach dem Wache schieben eine Dusche, ein bisschen lesen, bis der Schlaf in sein Bett hineinschleichen und ein Kissen auf das Gesicht des vergangenen Tages legen wird. Sein Bewusstsein wird den Weg im dunkeln Tunnel der letzten Minuten des Tages abtasten, und was dann?

Kfir fürchtete sich vor dem Blind Date mit sich als Zivilperson. Er wusste nicht, ob sie wirklich auf ihn wartete, so wie sie auf Ari wartete, oder ob sie nur da sein wird, weil er zufällig das passende Alter erreicht hatte. Und heute Nacht, als alle Tage seines Militärdienstes abgezählt vor ihm hab acht standen, hatte er das Gefühl, dass sogar die Siedler noch Zeit hätten, während er morgen der erste sein wird, der abreißt. Seine Militärbasis war seine Burg, das Wacheschieben bewachte ihn.

„Weißt Du noch, warum Elefanten einen Schwanz haben?“ fragte plötzlich Ari und legte sich wieder auf den Boden des Wachturms.

Kfir ergriff schnell das herumliegende Fernglas und stellte die Nachtsicht ein. Im Sternenlicht sahen die fernen Akazien wie phosphorgelbe Reißnägel aus, die die Savannah-Erde festhielten. So auch das kleine Elefantenkalb, das jetzt am Horizont zwischen seinen Eltern stand.

„Damit sie nicht plötzlich enden“, sagte Ari und holte noch einen Mango hervor. Kfir war sein bester Freund. Ari verzichtete auf das „hab’s dir doch gesagt“.

Yoav Avni, Herzl, Israel, Uganda, Roman
Yoav Avni (Photo von Nathan Yakobovitch)

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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