Bne Brak, religiös, Israel

Umzug

Maurice Tszorf ist Übersetzer, Journalist und Autor und lebt seit 1991 in Israel. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

Die Zahl 1, die letzte des Countdowns, erschien vor Rafaels noch geschlossenen Augen, sobald er aufgewacht war. Groß und gold-glänzend schien sie in der Mitte des abgedunkelten Raums zu schweben, im eingerahmten Spiegel an der Wand gegenüber dem Bett reflektierend. Rafael öffnete seine Augen und blieb unter der dünnen und warmen Sommerdecke liegen. Das große, weiche Kissen stützte seinen an die hohe altmodisch hölzerne Kopfleiste des Bettes lehnenden Rücken. Die Welt vor dem Fenster war noch in Nacht getaucht, wie er durch den grauen Rolladen hindurch erkennen konnte, obwohl er lückenlos geschlossen war, weil Yael sonst nicht einschlafen kann. Er kannte diese Stunde. Es ist die Uhrzeit der morgendlichen Läufe während der heißen Sommermonate. Er liebte es, das Haus in die Dunkelheit hinein zu verlassen, lange vor der Unruhe und dem Lärm des morgendlichen Auto- und Busverkehrs.

Der Atem Yaels, seiner Frau, drang an sein Ohr, tief, ruhig, auf ihrer Seite des schmalen Ehebettes, das noch aus den ersten Jahren ihrer Ehe stammte. 140 cm, das ist die Breite, die einem jungen Ehepaar ausreichte, als noch keiner von beiden Anstrengungen unternahm, der Berührung des anderen auszuweichen.

Er wandte ihr seinen Kopf zu, sein wildes und immer dünner werdendes ergrautes Haar wirr über seiner Kopfhaut liegend, von der jeden Monat mehr zu sehen war. Yael lag auf der Seite, wie immer, ihr Rücken ihm, ihr Gesicht dem halb geöffneten Fenster zugewandt. Ihre dank eines großen Haarfärbemittelherstellers schwarzen Locken umrahmten ihren Kopf auf dem Kissen. Ihre vollen dunklen Lippen waren leicht geöffnet, ihr Atem flach und leise. Er beobachtete ihr Gesicht, ihre zierliche Nase, die langen Wimpern, die dünne, zarte Behaarung ihrer Wangen. Ein zärtliches Gefühl erfüllte sein Herz. 35 Jahre und sie ist noch immer da, dachte er. Doch das schmale, warme, von der Erinnerung an die Leidenschaft ihrer ersten Ehejahre erfüllte Bett, war mit den Jahren kalt, schmal, lästig geworden. Jede ihrer Bewegungen störte seinen Schlaf, jedes noch so leichte von ihm geäußerte Geräusch bedeutete das Ende ihrer Nacht. Wozu?

Heute passiert es. Er schaltete sein Mobiltelefon ein und blickte auf die Uhrzeit. Es gibt junge Menschen, dachte Rafael dabei, die keine analoge Zeigeruhr mehr lesen können. 7:47 Uhr. Sie hatten zugesagt, um 9:00 Uhr anzutreten.

Rafael schlug die karierte Bettdecke in einer routinemäßigen, unbewussten Bewegung seiner kräftigen Hand zurück. Er schloss seine graublauen Augen mit seinen schweren Wimpern, stellte seine Füße auf den kalten Fliesenboden und schwang seinen Oberkörper in die Sitzposition auf der Kante des alten Holzbettes. Gute Qualität. Nur die Matratze haben sie zehn Jahre zuvor auswechseln müssen. Dort blieb er sitzen, den Kopf nach vorn gebeugt, die Arme aufgestützt, die letzten Minuten der Nachtruhe genießend. Sein runder Bauch, der ihm außerhalb seiner Kontrolle und trotz seiner Sportlichkeit gewachsen war, fiel nach vorn und bedeckte sein Geschlecht. Er schlief stets nackt, Yael hingegen niemals. Sie ihres Nachthemds zu entledigen war in ihren frühen Jahren der spielerisch erregende Auftakt zu ihrem Liebesspiel. Die immer wieder neue Entdeckung ihres Körpers zählte für ihn zu den schönsten Momenten. Rafael blickte auf seinen grau behaarten Bauch und kratzte die trockene Haut. Nicht mehr das, was es mal war, dachte er. Geräuschlos, um Yael nicht zu stören, erhob er sich schwer von seinem Bett, schlüpfte in seine Strümpfe und schob seine Füße in die rasch wärmenden synthetischen Hausschuhe. Entgegen seiner Gewohnheit zog er noch vor dem Duschen Unterwäsche, eine bequeme Tageshose und ein Frotteehemd an und verließ das Schlafzimmer.

Zehn Minuten später, den ersten heißen Morgenkaffee in der Hand, starker Filterkaffee mit Milch ohne Zucker in einem hohen Becher, den er von ihrer letzten Reise aus Venedig mitgebracht hatte, betrat er den benachbarten Raum, das Kinderzimmer. Der Raum war völlig leer. Knapp zwei Monate zuvor war ihr ältester Sohn Yuval nach England gezogen. Er würde nicht mehr ins Elternhaus zurückkehren, sein Zimmer war ungenutzt, und bei allem Trennungsschmerz und der Sehnsucht hatten sie beschlossen, Kinderbücher, Spielsachen, Stofftiere, Zeugen von Yuvals Kindheit und Jugend, auf den Dachboden auszulagern und das leerstehende Zimmer zu nutzen. Rafael war froh gewesen, als sie es hinter sich gebracht hatten. Der Anblick des von Dingen gefüllten aber leblosen Zimmers hat ihn stets sentimental und melancholisch werden lassen. Es lag dem Schlafzimmer gegenüber, war etwas kleiner, ausgelegt mit einem alten, beigefarbenen Bodenteppich, der die nackten Kinderfüße in den kurzen aber kalten Wintermonaten geschützt hatte. Zunächst hatten sie vor, es in ein Arbeitszimmer umzugestalten, doch sie haben bald begriffen, dass dafür kein Bedarf bestand, da sie sich beide längst an anderen Orten in der Wohnung eingerichtet hatten. Platz gab es genug, nachdem die Kinder nacheinander das Nest verlassen hatten. Beide Töchter waren nach ihrem Militärdienst nicht mehr nachhause zurückgekehrt. Yifat hat sofort nach der Entlassung geheiratet, Ruthi studierte Medizin in Rumänien.

Um 9:00 Uhr würden das Bett, der Tisch, und einige weitere Einrichtungsgegenstände angeliefert werden. Sie hatten sie in einem Kaufrausch in der 10 Minuten von ihrem Wohnviertel im Süden der Stadt entfernt gelegenen Niederlassung eines großen schwedischen Möbelherstellers erworben.

Er bereitete noch eine Kaffee zu und brachte ihn zu Yael, die bereits den Rolladen geöffnet hatte, auf der Bettkante saß und verträumt zum Fenster des Nachbarn hinüber blickte, ohne es zu sehen. Die Sonne spiegelte sich darin und blendete Yael, die ihre Hand an ihre Stirn hielt, um ihre schlafmüden Augen zu schützen.

„Sie kommen um 9:00 Uhr“, erklärte Rafael und gab ihr die Kaffeetasse in ihre Hand. Yael bedankte sich und lächelte ihm zu, wie jeden Morgen. Sie war klein und füllig, die Geburten und die Jahre hatten ihren Körper nicht geschont. Schon seit langem senkten beide ihren Blick nicht mehr unter das Gesicht des anderen. Alles war bekannt, erzeugte Gleichgültigkeit im besten Fall, Überdruss an weniger guten Tagen.

Als die Spediteure um 10:45 Uhr endlich an der Tür läuteten, hatten Rafael und Yael schon geduscht und gefrühstückt. Die in der einheitlichen Tracht des Möbelhauses gekleideten Männer montierten das neue Mobiliar im neuen Zimmer. Das Bett 140 cm breit, wie das alte, das in dem Zimmer stand, das nun Yaels werden würde. Schrank und Tisch waren von den geübten Händen der beiden Monteure rasch zusammengebaut, junge Männer mit Bärten im neuesten Tel Aviver Trend, blitzenden Augen und gewölbten Muskeln. Alles klar, wir gehen, wenn was ist, melden Sie sich.

Rafael ordnete seine Sachen in seinem neuen Zimmer, wanderte vom Schrank im ehemaligen gemeinsamen Schlafzimmer mit Kleidung in der Hand in das neue Zimmer, zögerlich, verwirrt. Ein unbekanntes Gefühl stahl sich  ein, sein Magen wurde flau. Was mache ich? fragte er sich. Ist es das, dem ich wochenlang entgegengefiebert habe? Yael ordnete fröhlich das Bett, das nun ganz ihres war, öffnete das Fenster und ging ins Wohnzimmer. Sie strahlte business as usual aus. Für sie hat sich ja auch nichts geändert, außer, dass Rafael aus dem Zimmer ausgezogen ist. Die reale Konsequenz eines bestehenden Zustands. Es schien ihr nicht viel auszumachen, dachte Rafael mit einem Anflug von Traurigkeit.

Den ganzen Tag schleppte und mühte er sich, bis das neue Zimmer mit dem neuen, braun glänzenden Mobiliar bereit war, ihn aufzunehmen.

In der ersten Nacht lag er in seinem ungewohnt neuen Bett und breitete befreit die Arme aus. Doch er konnte nicht einschlafen. Durch die leicht geöffnete Tür sah er, wie das Licht in Yaels Zimmer erlosch und hörte, wie sie zufrieden seufzte, als sie sich unter ihrer Decke in die Schlafposition räkelte.

Er schaute sich um. Alles war noch neu, seelenlos, roch nach billigem Holzleim. Aber er wusste, dass sich das ändern würde, und er sich schon am Morgen, im Tageslicht, anders fühlen und von seinem neuen Reich Besitz ergreifen würde. Nach wenigen Tagen würde das Zimmer bereits seinen Charakter annehmen, ein wenig durcheinander werden. Wenigstens würde sie nicht mehr ständig in meinen Sachen wühlen, dachte er sich, und wusste nicht, ob er sich freuen oder es ihm Leid tun sollte.

Nur an das einsame Bett konnte er sich nur schwer gewöhnen. Nacht für Nacht so still; zu ruhig. Ohne Atemgeräusche und Bewegungen, und niemand, vor der man fliehen kann. Auch daran würde er sich sicherlich gewöhnen.

Nach einer Woche begannen Bilder des jungen Mädchens Yael, wie er sie kennengelernt hatte, seine Träume zu füllen. Fotografische Szenen mit der jungen Frau, die ihm seine Kinder geboren und ihr Leben mit ihm aufgebaut hat, nahmen den leeren Platz neben ihm in dem schmalen Doppelbett der jungen Paare ein.

Bald darauf kehrten gar Bilder von ihnen als junges Liebespaar zurück. Er erinnerte sich an gemeinsam verbrachte Urlaube, Augen nur füreinander, wie sie Eiffelturm Eiffeltum sein ließen und in den Pariser Cafés miteinander flirteten.

Wie ein erwachender Vulkan stieg bei diesen Erinnerungen in Rafael in einer Nacht vier Wochen nach dem Umzug die vergessene, fast beängstigende Leidenschaft für die kleine mollige Frau im Zimmer gegenüber in ihm hoch.

Ein Blick auf die grünlich leuchtende Digitalanzeige an seinem Telefon verriet die Uhrzeit, kurz vor drei Uhr früh. Rafael wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde.

Eine Stunde lag er da, verwirrt, erregt, weinend.

Um 4 Uhr früh verließ er sein Bett, nackt wie immer, und bewegte seinen Körper zögerlich auf Yaels Zimmertüre zu, die sie gewohnheitsmäßig einen Spalt geöffnet hatte, um Luft herein zu lassen. Nach jedem Schritt lauschte er in den Raum hinein, auf dass er sie nicht wecke. Als er das Bett erreicht hatte, in dem Yael auf ihrer Seite lag, schien er wie aus dem Traum zu erwachen. Was denke ich mir, wunderte er sich; dringe in ihr Zimmer ein, wie ein Dieb. So war das nicht gedacht. Doch er konnte sich nicht bewegen, stand minutenlang regungslos da, seine Gedanken rasten. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und unter ihrer Decke machte Rafael die Umrisse des fetal zusammengezogenen Körpers seiner Frau Yael aus.

Er fasste seinen ganzen Mut zusammen und legte sich mit laut schlagendem Herzen neben sie, ihr Rücken ihm zugewandt. Er spürte schon die Wärme ihres Körpers, als sie sich ihm lächelnd zuwandte und ihn an ihren nackten Leib drückte.

©Maurice Tszorf

Jede Verwendung, insbesondere die Archivierung oder Speicherung in Datenbanken, Veröffentlichung, Vervielfältigung und jede Form der gewerblichen Nutzung sowie die Weitergabe an Dritte – auch in Teilen oder in überarbeiteter Form, entgeltlich oder unentgeltlich – ist ohne Zustimmung des Autors untersagt.

Maurice Tszorf wurde 1954 in England geboren, hat in Deutschland gelebt und studiert und 1991 Alijah gemacht. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin Yvonne und der 20-jährigen Tochter in Pardes Hannah und ist als Übersetzer und Journalist tätig.

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