von Rabbiner Uri Themal
Pesach 1973, Moskau.
In der kleinen Wohnung der Familie Slepak, waren etwa zwanzig Personen versammelt. Alle waren sogenannte Refuseniks, jüdische Bürger der Sowjetunion, die ein Ausreisevisum nach Israel beantragt hatten und deshalb fristlos entlassen worden waren. Sie alle waren prominente Akademiker – Professoren, Wissenschaftler, Intellektuelle – unkündbare Mitglieder der Akademie, für die man eine Ausnahme gemacht hatte um sie rauszuschmeißen, und die nun arbeitslos und erwerbsunfähig waren.
Ich war damals Rabbiner der Reformgemeinde in Leeds und der nördlichen Region Englands. Gleichzeitig war ich auch aktives Mitglied des „Soviet Jewry Committee“ einer Organisation, die sich um die Juden in der Sowjetunion und besonders um die Refuseniks kümmerte. Wir versuchten, die Regierung zu beeinflussen, Druck auf die sowjetische Regierung auszuüben, die Juden ausreisen zu lassen. Wir taten das durch Bittschreiben, Demonstrationen und Lobbyaktivitäten gegenüber lokalen Parlamentariern.
Einige von uns hatten fast täglich telefonischen Kontakt mit den ihnen zugeteilten Refuseniks, um ihre Sicherheit zu garantieren. Da wir wussten, dass ihre Telefone abgehört wurden, erzählten wir ihnen von unseren Aktivitäten und hatten manchmal bei diesen Gesprächen auch Journalisten dabei, die dann die Geschichte an die Öffentlichkeit brachten. Diese Publicity passte den Sowjets überhaupt nicht, verhinderte aber meistens, dass die betreffende Person nicht in einem Gulag landete.
Anfang des Jahres 1973 wurde bekannt, dass der amerikanische Präsident, Richard Nixon, im Juni in die Sowjetunion reisen wollte, um den kalten Krieg zu erwärmen, was damals als die sogenannte Detente Politik bezeichnet wurde.
Die Sowjets waren sich bewusst, dass die internationalen Medien ausführlich berichten würden, inklusive der Tatsache, dass die Sowjetunion für Tourismus geschlossen war. So beschloss man dort, die Tore des Tourismus zu öffnen.
Unsere Verbindungsleute an der israelischen Botschaft in London, wollten diese Gelegenheit nutzen. Sie schlugen vor, einige von uns in die Sowjetunion zu schicken, damit wir nun direkten Kontakt mit den Refuseniks aufnehmen konnten. Das sollte es uns ermöglichen, ihre Situation aus erster Hand zu verstehen, damit wir ihnen in Zukunft noch besser helfen konnten.
So kam es, dass ich kurz vor Pesach mit einem Koffer voller „Goodies“ in Moskau eintraf. Wir wussten, dass sie Matza und Wein hatten, aber ich brachte auf jeden Fall ein paar kleine Hagadot und Sidurim mit, sowie eine Menge Strumpfhosen und Kaugummipackungen – Dinge also, die leicht in die Hosentasche passten und die man auf dem dort blühenden Schwarzmarkt für enorme Preise verhökern konnte.
Am Sederabend saßen wir alle eng beisammen. Der Hausherr, Vladimir, war weiß gekleidet und saß auf einem in ein weißes Tuch eingehüllten Stuhl. Er war ein stattlicher, vollbärtiger Mann, der Wärme und Autorität ausstrahlte.
Der Tisch war traditionell gedeckt, mit Seder Teller, Matzah, Weinbecher für Elias und die paar Hagadot, so verteilt, dass zwei oder sogar drei Gäste zusammen lesen konnten. Ich leitete den Seder, brachte Grüße von Kollegen, die die Anwesenden telefonisch kannten, lehrte sie ein paar Pesachmelodien und ermutigte die Anwesenden, an passenden Stellen assoziativ Anekdoten aus ihrer Erfahrung zu erzählen.
Das geschah, je nach Sprachkenntnissen der Erzähler auf Russisch (jemand übersetzte für mich), Englisch, Deutsch, Französisch und Jiddisch – also Sprachen, die ich beherrschte.
Da alle wussten, dass die Wände Ohren hatten, wurden alle möglichen komische Geschichten über Erfahrung mit KGB und den Behörden erzählt. Es wurde viel darüber gelacht – für mich bewundernswert in ihrer Situation.
Als wir am Ende des formellen Teils die traditionellen Worte sprachen: „Im nächsten Jahr in Jerusalem“, kamen mir die Tränen. Dann standen alle spontan auf und sangen lauthals die „Hatikvah“, die israelische Nationalhymne, die von der Sehnsucht und Hoffnung spricht, im unabhängigen und souveränen Staat Israel in Freiheit zu leben. Sie schauten dabei auf jene Punkte in Steckdosen, Telefongeräten und Lampen, wo sie wussten, dass die Abhörgeräte versteckt waren.
Es war der bedeutendste Sederabend, den ich je geleitet habe und an jedem Sederabend steht mir seither dieses Bild vor Augen, wenn wir das „Avadim Hayinu…“ anstimmen.