Chaim Noll, Israelische Literatur, hebräisch, iwrith, iwrit, hebräische Kurzgeschichte

Der große Bruder

Kurzgeschichte von Chaim Noll

Sonnenuntergang über Tel Aviv. Foto: Benjamin Rosendahl

An einem kalten Aprilmorgen flog Anna von Berlin nach Tel Aviv. Die Stadt empfing sie mit entwaffnender Wärme. Ein heißer Wind wehte, die Menschen bewegten sich wie im Traum. Wer Zeit hatte, war am Strand und badete. Sie wusste fast nichts von der Stadt, außer, dass sie in Israel lag. Und am Meer. Eine Schulfreundin studierte hier, Silke, auch sie aus Berlin, mit einem Stipendium für zwei Jahre.

Silke hatte Anna eingeladen, eine Woche zu ihr zu kommen, um Ostern herum, wenn sie beide ein paar freie Tage hätten. Sie solle den Flug beizeiten buchen, zum Pesach-Fest kämen Juden aus der ganzen Welt nach Israel, alles sei ausgebucht. Anna wusste fast nichts über Juden, Israel oder das Pesach-Fest. Dem Wort Jude haftete etwas eher  Unangenehmes an, etwas Düsteres, Mahnendes. Die Juden, die sie von den Fotos in ihren Schulbüchern kannte, waren abgemagerte Leute in gestreiften Anzügen hinter Stacheldrahtzäunen oder perplex in die Kamera schauende Ladenbesitzer, denen man die Schaufenster eingeschlagen hatte. Oder sie waren tot. Oder sie lebten in Israel, aber dann wurden sie in das allgemeine Mitgefühl nicht mehr eingeschlossen. Anna fühlte sich zu dem ganzen Thema nicht hingezogen, doch ein paar Tage am Meer waren eine tolle Sache, besonders, wenn es in Deutschland kalt war, kalt und regnerisch, so dass einem beim Einpacken des neuen Bikinis ganz seltsam zumute wurde.

Die beiden Mädchen fuhren vom Flughafen Tel Aviv mit einem Bus Richtung Stadt, und schon in diesem Bus überkam Anna eine gute Laune wie lange nicht mehr, eine unerklärliche Lustigkeit und Albernheit, mit der sie Silke ansteckte. Sie lachten die ganze Fahrt, über alles und jedes, über Erinnerungen an ihre Schulzeit, über einen kleinen dicken Hund, der an einer Haltestelle zwei Soldaten ankläffte, über ein hebräisches Wort, das Silke ins Gespräch einfließen ließ und das in Annas Ohren ungeheuer lustig klang, sie lachten, bis sie ausstiegen und Annas schweren Rucksack aus der Gepäckklappe hievten.

An der Gepäckklappe herrschte Gedränge. Annas Rucksack war eingekeilt zwischen andere, sie zerrte an ihm in einem Gewirr von Armen und Händen, bedrängt von fremden Körpern, niemand nahm Rücksicht auf sie. Endlich half ihr jemand, ein Soldat, er packte das unförmige Stück und setzte es mit einem einzigen Griff vor Anna auf die Erde. Anna hob den Blick und sah vor dem unerschütterlich blauen Himmel ein sonnenverbranntes Gesicht, einen lachenden Mund und eine Sonnenbrille. Sie bedankte sich auf Englisch, der Junge sagte ein paar Worte in derselben Sprache. Silke, die am Straßenrand nach einem Taxi Ausschau hielt, fragte sich, wo Anna blieb. Sie sah Anna mit dem Jungen reden, sah auch, dass er Anna einen Zettel gab, auf den er rasch etwas gekritzelt hatte. „Na, das ging ja schnell“, sagte sie mit einem Lächeln, als sie neben Anna im Taxi saß. Anna blickte starr aus dem Fenster und antwortete nicht.

Sie hatte es am nächsten Morgen eilig, in die Sonne zu kommen, sie drängte ihre Freundin, die enge Wohnung im Hochhaus zu verlassen, hinauszugehen ins Gewimmel der morgendlichen, schon durchsonnten Strassen, durch die ein Wind vom Meer wehte, durch alle Autoabgase, Stadtgerüche hindurch, eine Brise, der sie nicht widerstehen konnte. Anna und Silke verbrachten den ganzen Tag am Strand. Dort hatte man alles, was das Herz begehrte, gleißendes Sonnenlicht nach dem Dunkel des Berliner Winters, unaufhörliches Rauschen des Meeres, salzhaltige, aufregende, verheißungsvolle Luft. Anna wagte sich in das noch kalte Wasser, unter Gespritz und Geschrei, dabei folgten ihr die Blicke junger Männer. Sie wusste, dass sie sich in ihrem neuen Bikini sehen lassen konnte. Sonst lagen die Mädchen in der Sonne, aßen Eis, redeten über ihre Schulzeit, über ihr Studium, über Jungs.

„Die Israelis“, sagte Anna zu Silke, „sind irgendwie anders als unsere, das habe ich schon mitbekommen.“

„Ja. Sie wissen, was sie wollen. Sie werden hier schnell erwachsen.“

„Obwohl sie andererseits eher wie Kinder sind, laut und gradezu… “

„Na, du wirst ja sehen“, sagte Silke, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen. Am Freitag Abend gingen sie in eine Disco und blieben dort den größten Teil der Nacht. Anna ging erst gar nicht mehr ins Bett, und Sonntag früh flog sie zurück nach Berlin.

Es war beschlossene Sache, dass sie wiederkommen würde, im Sommer, in den Semesterferien. Silke bot an, sich umzuhören, ob es irgendwo einen Job für Anna gab. Tatsächlich fand sie etwas, in einem Hotel an der Rezeption, später anderes, irgendwie ging es weiter, Anna kam, arbeitete, wohnte bei einer Studentin zur Untermiete. Im Herbst schrieb sie nach Hause, sie wolle ihr Studium in Berlin unterbrechen und ein Jahr in Tel Aviv bleiben. Um die Sprache zu lernen, teilte sie den Eltern mit, die besorgt anriefen und fragten, ob sie wirklich „dort“ bleiben wolle. Die Eltern riefen auch Silke an und fragten – „Im Vertrauen, Silke, du wirst verstehen, dass wir uns Sorgen machen“ –, ob ein Junge dahinter stecke. „Uns sagt sie ja nichts. Es wäre auch ganz in Ordnung, wir verstehen nicht, warum sie neuerdings so verschlossen ist. Sie kann ihn doch einfach nach Berlin mitbringen, wir haben kein Problem damit.“

Silke, für Annas Eltern unsichtbar, schüttelte den Kopf. Ob Annas Eltern ein Problem mit dem israelischem Freund ihrer Tochter hatten (und sie kamen sich wahrscheinlich großartig vor, tolerant und super-aufgeschlossen bei ihrem Bekenntnis, dass sie keins hatten): es war vollkommen gleichgültig. Annas Freund war bei den Golanis, einer Kampfeinheit, er konnte nicht einfach nach Berlin fliegen. Er flog ganz woanders hin, in den Libanon, per Hubschrauber. Natürlich hielt sie zu Anna und sagte kein Wort. Sie schwieg über Annas Freund, Simon, einen Australier, der seinen Eltern mehr oder weniger ausgebüchst war, einen von denen, die man hier chayal boded nennt, einsamer Soldat, weil sie allein, auf eigene Faust nach Israel kommen, um zur Armee zu gehen. Am liebsten da, wo es „am dicksten“ ist, in Elite- oder Spezialtruppen, in Einheiten, die im Kriegsfall sofort an die Front geschickt werden.

Anna hatte nicht gleich verstanden. Es schien ihr verrückt, dass ein Junge ihres Alters ein sicheres Zuhause irgendwo in der Welt verließ, hierher kam und sich täglicher Lebensgefahr aussetzte. Simon sprach darüber wie über eine Selbstverständlichkeit. Er hatte für das Haus mit Schwimmbecken, das seine Eltern bewohnten, für ihre drei Autos und alles andere nur ein Schulterzucken. Und er steckte Anna damit an. Er sprach Englisch mit ihr, doch mit seinen Freunden redete er rasch und ohne nachzudenken Hebräisch, eine verflixt schwierige Sprache, die Anna in einem Kurs an der Universität zu lernen begann. Seine Freude waren laut und obenauf, Soldaten wie er, und oft, wenn Anna ihrem lauten, raschen Gerede zuhörte, hätte sie am liebsten ausgesprochen, was ihr auf den Lippen lag, Good Lord, you guys can be shot every day! Aber sie hielt an sich. Sagte nichts. Hätten die Jungs verstanden, was sie meinte? Sie hätten erstaunt aufgeblickt, mit dem überraschenden, tiefen Ernst, der manchmal in ihren Augen war.

Anna fand, dass sie Simon nicht allein lassen sollte, solange er bei der Armee war, das hieß für die nächsten zwei Jahre. Im Grunde konnte sie ihn überhaupt nicht mehr allein lassen, auch nach der Armee nicht, denn er hatte niemanden außer ihr. Das war ganz einfach. Es war anders als in Europa, wo man eine Zeit zusammen blieb und sich dann wieder trennte, einen anderen nahm, es mit diesem versuchte und wieder sein ließ, wo es alle so hielten, wo man möglichst nicht mehr heiratete, keine Kinder hatte, nichts, was einen festlegte und der eigenen Freiheit beraubte. Simon konnte jeden Tag etwas passieren, und wenn er Urlaub hatte, schloss sie ihn in die Armee mit dem Gefühl, dass es wunderbar war, ihn gesund wiederzuhaben, dass er Liebe verdiente, dass er das Kostbarste war, was sie besaß. Sie sprach mit Silke darüber, wie merkwürdig all das war: sie wollte bleiben, ihn heiraten, wünschte sich sogar Kinder – Einfälle, die ihr vor einem Jahr in Deutschland unbegreiflich erschienen wären.

Die Eltern telefonierten einmal wöchentlich mit ihr, ohne herauszufinden, was mit ihrer Tochter geschehen war. Sie bekamen nichts Vernünftiges von ihr zu hören und konnten ihrerseits auf Nachfragen nichts Vernünftiges antworten. Solche Nachfragen kamen immer öfter, von Verwandten, Nachbarn, von Freunden im Tennis-Club: „Wo ist eure Tochter, wie geht es ihr, wann kommt sie nach Hause?“ Annas Vater, ein vielbeschäftigter Arzt, konnte sich darüber nicht so viele Gedanken machen wie seine Frau, die dauernd davon sprach, sich den Kopf zerbrach, schließlich an kaum etwas anderes dachte als an Anna und warum sie nicht wiederkam, die es fertig brachte, deswegen Nachts wach zu liegen und bei jeder Gelegenheit, wenn sie zu zweit beim Frühstück saßen oder im Auto fuhren, von Anna anzufangen. Sie fragte sich laut, im Beisein ihres Mannes, ob sie, Annas Eltern, etwas falsch gemacht, sich zu wenig um das Kind gekümmert, irgendeine Schuld auf sich geladen hätten, die das Fernbleiben ihrer Tochter erklärte. Beide überlegten manche Stunde, was zu tun sei. Im Frühjahr kamen sie auf die Idee, ihren Sohn Torsten ins Vertrauen zu ziehen, Annas großen Bruder.

Torsten war sechsundzwanzig, im Mediengeschäft, fast immer unterwegs, man erreichte ihn nur auf dem handy. Er war sechs Jahre älter als Anna und ihr Beschützer von Kindheit an. Die Eltern brauchten eine Weile, bis sie ihn überredet hatten, sich der Sache anzunehmen. Er sah nicht gleich ein, warum Anna nicht tun und lassen sollte, was ihr passte, sie war schließlich erwachsen, oder? Aber dort ist Krieg, erwiderte die Mutter. Sie sah plötzlich alt und verfallen aus, und ihr Sohn, der von oben auf ihre gefärbte Frisur, die modische Brille, die Jacketkronen zwischen den geschminkten Lippen herabsah, spürte Mitleid mit ihr. Er war gerade aus Afrika zurück, ein Abstecher nach Tel Aviv schien keine große Sache. Die Firma gab ihm drei Tage frei, da der Film eben abgedreht war, er musste auf niemanden weiter Rücksicht nehmen, von seiner letzten Freundin – der bisher letzten in einer langen Reihe – hatte er sich gerade getrennt. Ein Last-Minute-Angebot war schnell gefunden, mit einem Rucksack flog er los, landete gegen Abend. Es ergab sich, dass Simon, Annas Freund, ein paar Tage Urlaub hatte und mit Anna in einem gemieteten Auto zum Flughafen fuhr, um den Bruder abzuholen.

Anna sah dem Wiedersehen mit einer Mischung aus Freude und Unbehagen entgegen. Sie freute sich, ihren Bruder zu sehen, aber sie fürchtete auch, er werde sie verunsichern, zu überreden versuchen, in Konflikte stürzen. Vor Simon verbarg sie ihre Befürchtungen, ließ auf der Autofahrt zum Flughafen nur die Bemerkung fallen, ihr Bruder hätte von Israel und vom Mittleren Osten „nicht viel Ahnung“, in Deutschland redeten viele so, es sei „nicht wirklich so gemeint“. Ihr Bruder hätte nichts gegen Israel, erklärte sie, nur glaubten sie in Europa besser zu wissen, wie man es hier machen müsse. „Really?“ murmelte Simon. Er war damit beschäftigt, einen Parkplatz für das Auto zu finden. Er verstand sich mit Torsten auf den ersten Blick, die drei saßen noch lange in Annas kleiner Wohnung und redeten, Torsten seltsam aufgekratzt, obwohl sie zu dritt kaum eine Flasche Wein tranken, und Anna wunderte sich, dass er Simons Ansichten nicht nur hinnahm, sondern ihm, dem vier Jahre Jüngeren, mit einer Aufmerksamkeit zuhörte, die an Respekt grenzte.

Den nächsten Tag verbrachten sie am Strand, am Abend gingen sie bei einer Freundin vorbei, Sarah, auch sie aus Berlin. Anna und Silke hatten sie erst vor ein paar Wochen in der Universität kennen gelernt, in der Cafeteria, wo sie Sarah am Nebentisch auf Deutsch in ihr handy reden hörten und auf der Stelle ansprachen. Sie fanden es wunderbar, noch eine Berlinerin in Tel Aviv zu finden. Im Unterschied zu Anna und Silke war Sarah Jüdin und hatte die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, sprach einigermaßen gutes Ivrit, wusste vieles, was die beiden nicht wussten, und konnte ihnen in manchem helfen. Sarah wohnte in einem Hochhaus gleich am Strand, die Eltern in Berlin bezahlten ihr die Wohnung.

In dieser Wohnung kamen Anna nebst Simon und ihrem Bruder, Silke mit ihrem israelischen Freund und Sarah an jenem Abend zusammen, sechs junge Leute, braungebrannt, in bester Laune, um einen kleinen Tisch mit Messingplatte, redeten, tranken, aßen Pizza, um Mitternacht gab es nochmals Tee, dazu einen selbstgebackenen Kuchen, und am nächsten Morgen saßen zwei der Sechs, Sarah und Annas Bruder aus Berlin, immer noch zusammen und redeten, allerdings nicht mehr am Messingtisch, sondern in Sarahs Schlafzimmer. Die anderen waren irgendwann gegangen.

Die Eltern in Berlin brauchten einige Tage, um ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Tel Aviv ans Telefon zu bekommen. Erst am zweiten Wochenende fand er eine Stunde Zeit, sie zu besuchen. Sie tranken Kaffee auf der Terrasse mit Blick auf den Garten, auf Rosen, Rasen, Jasmin, und Torsten, tief gebräunt, das Haar umso heller, die grünen Augen leuchtend, musterte alles mit einem abwesenden Blick. Anna ginge es ausgezeichnet, sagte er, sie sei gesund und mache große Fortschritte im Hebräischen. Sie wolle ihr Studium in Tel Aviv abschließen und bemühe sich um ein Stipendium. Die Eltern saßen auf ihren Stühlen wie versteinert. Er merkte es nicht, redete weiter, in heiterem Ton. Auch er wolle in vier Wochen wieder hinfliegen, ließ er sie wissen, er brauche endlich einen richtigen Urlaub. Den Flug hätte er schon gebucht.

Der Schock, den die Eltern erlitten, schweigend, auf ihren Gartenstühlen, mit Blick auf den blauen Frühlingshimmel, war in ihrem Leben beispiellos. Nichts kam ihm gleich, nichts, was sie zuvor erlebt hatten, auch nichts von all dem Späteren, Unvorstellbaren, das über sie hereinbrechen sollte: wie Torsten bei seiner Filmfirma kündigte und mit seinen Ersparnissen nach Tel Aviv ging, wie er Sarah heiratete und das junge Paar nacheinander drei Kinder bekam, wie selbst Anna, die gleichfalls in Israel blieb, diese Entwicklung ihres Bruders überraschend fand – nichts von alledem sollte den Schock jenes Nachmittags übertreffen, als Torsten, heiter, fast obenhin, seine Eltern wissen ließ, dass sein nächster Flug schon gebucht war.

Chaim Noll wurde 1954 in Berlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.

„Diese Kurzgeschichte wurde zuerst im Buch „Kolja“ veröffentlicht, und ist mit ausdrücklicher Zustimmung von Verlag und Autor hier nachgedruckt.

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