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Der Junge ohne Muttersprache

Wenn die Muttersprache eines Menschen bestimmend sein soll für seine oder ihre kulturelle Identität, Verwurzelung, geistige Heimat, würde es in Shilos Fall kaum zutreffen. Shilo, heute elf Jahre alt, wuchs in mehreren Sprachen auf, die, genau besehen, allesamt Fremdsprachen für ihn sind.

Sein Vater Pierre wurde zu Beginn der Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Paris geboren, wohin seine Eltern vor den Nazis geflohen waren.

Die Eltern sprachen Zeit ihres Lebens miteinander deutsch, Pierre lernte diese Sprache als erste, wobei er in der Schule und mit seinen Freunden französisch sprach. In den Siebzigern kehrte er mit den Eltern nach Deutschland zurück, besuchte das Gymnasium in Köln, studierte Jura in Tübingen, trat in die Partei der Grünen ein und widmete sich nach dem Staatsexamen, neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt, einige Jahre der politischen Arbeit.

Die Haltung der Grünen im Golf-Krieg führte zum Bruch mit der Partei und zum Ende seiner Karriere. Er gab seine Anwaltskanzlei auf, da er ohnehin die meisten Klienten verloren hatte. Plötzlich Herr seiner Zeit, beschloss er, nach Jerusalem zu fliegen und so lange wie möglich dort zu bleiben.

In Israel stellte sich heraus, dass seine Mutter nach Ansicht der Rabbiner nicht als jüdisch galt, da ihre Eltern zur katholischen Kirche übergetreten waren. Für die Nazis hatte das keine Rolle gespielt, für sie blieb die Tochter katholischer Juden weiterhin Jüdin.

Auch vielen russischen Einwanderern ging es so: in der Sowjetunion hatte man ihnen „jüdisch“ in die Personaldokumente eingetragen und sie dadurch der Verfolgung preisgegeben, hier teilte man ihnen mit, dass sie es nicht waren.

Pierre lernte weiter Hebräisch, stürzte sich kopfüber ins alte jüdische Schrifttum, studierte den Talmud. Er lebte von den Ersparnissen, die er aus Deutschland mitgebracht hatte. Als sie dahinschwanden, versuchte er in Jerusalem Arbeit zu finden. Um diese Zeit lernte er Denise kennen, ein Mädchen aus Kanada.
Denise war schon einmal, vor zehn Jahren, nach Jerusalem gekommen, um einen israelischen Studenten zu heiraten, den sie in Kanada getroffen hatte.

Sie war damals zum Judentum konvertiert, hatte einen Konversions-Kurs besucht, die Prüfung vor dem rabbinischen Gerichtshof, dem Bet Din, absolviert, und hätte zum Abschluss nur noch in die Mikveh, das rituelle Tauchbad, gehen müssen, um danach, wie üblich, unter dem Hochzeitsbaldachin zu stehen.

Einen Tag vor der Hochzeit rief sie den Rabbiner an und sagte ab: ihr israelischer Freund wolle nicht heiraten, er hätte sie und die Rabbiner belogen. In einem Anfall von Verzweiflung flog sie wenige Tage später nach Kanada zurück.
Dort arbeitete sie als Journalistin und schrieb mit Vorliebe über Israel. Sie beherrscht die kanadischen Landessprachen, Englisch und Französisch, gleichermaßen.

Mit ihren Artikeln machte sie sich viele Freunde, so dass sie schon einige Jahre später mit einem Stipendium der Jewish Agency nach Jerusalem zurückkehrte, um an der Universität Hebräisch zu studieren. In diesem Sprachkurs traf sie Pierre. Sie waren die einzigen im Kurs, die Französisch sprachen, und kamen sich rasch näher. Außerdem war ihr Pierre in der Synagoge aufgefallen, wo sie ihn aus der Entfernung beobachtete: er betete und sang, wie sie fand, mit besonders viel innerer Teilnahme.

Als sie erfuhr, dass auch er nicht von Hause aus jüdisch war, kam es zu einer kurzen Krise. Seine ch’vunah b t’filah, die „Hingabe im Gebet“, schien ihr mit einem Mal fragwürdig. Kann jemand, der erst als Erwachsener zu beten begonnen hat, es mit der Wahrhaftigkeit eines Kindes tun? Kann Beten, die versuchsweise Annäherung an Gott, für ihn etwas wirklich Vertrautes sein, ein Bedürfnis, eine innere Notwendigkeit? Sie kam zu dem Schluss, dass es möglich sei.

Ein Mensch, den man erst als Erwachsener kennen lernt, kann einem vertraut werden wie einer, den man seit Kindertagen kennt, kann einem schließlich näher stehen als Eltern, Geschwister, Kinderfreunde, seine Gegenwart zur Sehnsucht, zum Bedürfnis werden – warum nicht auch Gott? Als die Anwandlung von Misstrauen vorüber war, sträubte sie sich nicht länger: diesmal tauchte sie in der Mikveh unter, während drei Rabbiner hinter einer Milchglasscheibe die Segen sprachen, alles lief ab, wie es sein muss, am selben Tag fand die Hochzeit statt, ein halbes Jahr später war Denise schwanger.

Mit viel Energie betrieben sie und Pierre ihre Einbürgerung, fanden jedoch keine Arbeit in Israel, die sie und ihr Kind ernährt hätte. Schließlich schickte Pierre einige Bewerbungen nach Amerika, wurde von einer Universität als Lecturer angenommen und flog mit der Familie über den Ozean.

Ihrem kleinen Sohn brachten sie, so gut sie konnten, Hebräisch bei, zusammen mit ihren Muttersprachen Englisch, Französisch und Deutsch. Shilo lerne alle vier Sprachen gleich gut, erklärte Pierre gegenüber Freunden, und es bleibe offen, besser gesagt, in Gottes Hand, wohin er sich einst, wenn er größer sei, wenden werde: ob ins Land seiner Großeltern väterlicherseits oder mütterlicherseits oder in das Land, in dem sein Vater Pierre geboren wurde oder in das, in dem sein Vater aufgewachsen war, oder in das Land, aus dem seine Mutter kam, oder in das, in dem seine Eltern lebten, oder in das, nach dem sie sich sehnten…

Sie nahmen ihm die Entscheidung ein paar Jahre später ab, als sie wieder nach Jerusalem zogen. Shilo lernt dort schneller Hebräisch als seine Eltern, so dass ihm diese Sprache inzwischen von allen die geläufigste ist. Er antwortet sogar hebräisch, wenn ihn die Eltern auf englisch, deutsch oder französisch anreden. Oft unterhalten sie sich auf diese Weise: in verschiedenen Sprachen zugleich. So kommt es, dass Shilo bis heute vier Sprachen spricht, die Muttersprache seines Vaters, die Sprachen seiner Mutter, die Sprache des Landes, in dem er lebt.

Kann ein Mensch vier Muttersprachen haben? Oder würde das bedeuten, dass er gar keine hat? Aber keine Muttersprache – welche Folgen hätte das für seine kulturelle Identität und Zugehörigkeit? Shilo ist ein blonder, schlaksiger Junge mit langen Schläfenlocken, die hin und her fliegen, wenn er mit seinen Freunden in einem Jerusalemer Park Fußball spielt. Er scheint sich um diese Fragen nicht weiter zu kümmern.

Chaim Noll wurde 1954 in Berlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.

“Diese Kurzgeschichte wurde zuerst im Buch “Kolja” veröffentlicht, und ist mit ausdrücklicher Zustimmung von Verlag und Autor hier nachgedruckt.

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