Das Buch „Natis Bürde der Schuld“ (Hakibbutz Hameuchad-Sifriat Hapoalim, 2016) erzählt die Handlung während 24 Stunden im Leben von Nathan Awni, mit Rückblenden in den Oktoberkrieg 1973 und den ersten Libanonkrieg 1982. Nati, verheiratet mit zwei Kindern, in seinen fünfziger Jahren, hat sein Handy zu Hause vergessen. Er fährt zurück nach Hause, und als er ankommt, sieht er ein bekanntes Auto gerade den Parkplatz vor seinem Haus verlassen. Er ist überzeugt, dass seine Frau ihn betrogen hat, und er weiß auch, mit wem. Er kehrt um, um nie mehr zurückzukommen.
Am selben Tag im Sommer 2006, als er auf dem Weg ins Krankenhaus ist, um seinen Vater zu besuchen, der im Sterben liegt, beginnt der Zweite Libanonkrieg. Er fährt an die nördliche Grenze, wo sein Sohn, ein Fallschirmspringer, stationiert ist, um ihn vor demselben schrecklichen Schicksal zu retten, das ihn vor dreiunddreißig Jahren im Oktober 1973 heimgesucht hat.
Die folgende „Kostprobe“ ereignet sich in einem der Jahre dazwischen. Nati ist jetzt ein junger Offizier im Reservedient, als der Erste Libanonkrieg im Sommer 1982 beginnt, ein Krieg, der offiziell euphemistisch „Frieden für Galiläa“ genannt wurde, obschon er keinen Frieden brachte.
Ziv Dorkam wuchs im Kibbuz Tsuba auf. Nach dem Militär studierte er Filmstudien an der Universität Tel-Aviv. Danach lebte er zwanzig Jahre in Los Angeles, er ist verheiratet mit drei Kindern.
Natis Bürde der Schuld
von Ziv Dorkam
Übersetzung: Uri Shani
…Nach einigen Tagen erreichte Natis Fallschirmspringer-Einheit Beirut, und nach ihnen kamen Panzer- und Artillerieeinheiten, die die durch den Krieg zerhackte Stadt von allen Seiten einkreisten. Danach versank der Krieg in eine langgezogene, zermürbende Dämmerungszwischenzeit, in der man nicht wissen konnte, wo der Feind sich versteckt, was seine tatsächliche Schlagkraft war und wie man ihn besiegen könnte. In den vielen Lagebesprechungen, zu denen Nati als Kommandant vorgeladen wurde, verkündeten die Offiziere der Aufklärung verschiedene und sogar widersprüchliche Prognosen, von der überheblichen Beschreibung, wie das israelische Militär die Terrorneste mühelos und ohne eigene Verwundete aus den prall überfüllten Flüchtlingslagern hinausfegen wird, als wären die palästinensischen Kämpfer eine Art Unkraut, die unsere Kämpfer aus einer infizierten Gegend beseitigen und säubern sollen, bis zu anderen, jungen Aufklärungsoffizieren in Polyethylenterephthalat-Uniformen, bewaffnet mit Karten und Präsentationsfolien und aktuellen Luftbildfotografien, mit einer gnadenlosen Katastrophenvision, nach derer die starke israelische Armee in einen langen und auslaugenden Kampf im Herzen von wehrloser Zivilbevölkerung gezerrt, in eine komplizierte Schlacht mit vielen Toten, in der es keine Sieger, sondern nur Verlierer geben werde.
Bis es zu einer Entscheidung zwischen den beiden Auffassungen kam, stand die Armee still, und niemand war da, der entschied, ob man sich zurückziehen oder in die eingeschlossene Stadt eindringen sollte. Und in dieser Zeit war die Einheit mit nächtlichen kurzen Überfällen in die Stadt beschäftigt, die es verhindern sollten, dass der sich versteckende Feind sie angreife, und auch, um die Soldaten zu beschäftigen, die genug vom nervenzerreibenden Warten hatten, und die Sehnsucht zu ihren Familien und ihren Frauen übermannte sie.
Nach drei Monaten des Wartens drangen die christlichen Phalange in die verkommenen und dreckigen palästinensischen Flüchtlingslager im Osten der Stadt ein, in Sabra und Shatila und Burdsch-el-Baradschne und in das Viertel Al-Fakhani, und verübten ein schreckliches Massaker. Das hatten weder Nati noch seine Untergebenen vorhergesehen. Aber es wurde, dieses ganze Blutbad, das mehr als zwei Tage lang andauerte, von den Kommandanten der Armee, die nicht weit davon auf den Dächern der Häuser standen, mit Hilfe von modernsten Beobachtungsgeräten mitangesehen, und mehr noch als was die Augen sahen, hörten die Ohren, sie konnten nicht anders, als es zu hören, das Gebell der Hunde, die vor Wut und Angst verrückt wurden, und die Gewehrsalven, die diese sofort zum Verstummen brachten, und die Schreie und Klagen der Alten. Und trotz alledem, trotz der Katastrophe, die in der Luft lag, führten er und seine Leute ihre tägliche Routine fort, und so wurde er widerwillig Mittäter dieses Verbrechens, das in der Nacht mit phosphorigen Leuchtraketen beleuchtet und des Tags im klaren Licht und unverhohlen verübt wurde.
Als er nach Hause zurückkehrte, kehrten auch jene Bilder und Stimmen zurück, plagten seine Gedanken und zerrütteten seine Ruhe. Während langer Zeit vermischten sie sich mit der Trauer, die er gemeinsamen mit seiner Frau erlitt, über die Fehlgeburt, die sie durchmachen musste, als er im Libanon war. Es war eine Dämmerzeit, in der sich im Traum ein ferner Wehruf eines Babys mit dem Jaulen der Schakale in den Feldern verband, und dazu die sanfte Berührung seiner Frau, die ihn von hinten umarmte, in seinem stummen Körper Trost suchend, den er ihr nicht geben konnte. Schweiß tropfte von seiner Stirn während der ganzen Nacht, nässte die weißen Leinen, obschon in der Luft schon die Kühle des Herbstes lag, der dieses Jahr früh kam. Er kehrte immer wieder zum Anfangspunkt zurück und verstand, dass er keinen Ausgang aus diesem Labyrinth finden wird, in dem sein Leben sich in Kreisen von Schuld und Angst wand, dieses Labyrinth, in das er geworfen wurde, als er noch so jung war, damals, im Oktober 1973, und dass er diesen Ausweg nicht mit Hilfe einer anderen Seele finden wird, obschon sie neben ihm liegt, jede Nacht, ihr Arm ihre Augen bedeckend, und das Ticken des Weckers, mit den Phosphor-Zeigern, das ihre gemeinsame Zeit eingrenzte.
Ihre Trauer über den Verlust ihres Kindes, und alle ihre verborgenen Gedanken, verbotenen Gelüste und geheimen Wünsche, er hatte keinen Zugang zu ihnen. Diese Kluft, die sich zwischen ihnen vertiefte, wegen all der Dinge, über die jetzt nicht gesprochen werden konnte, und über die sie deshalb auch nie sprechen werden, verhärtete in seinem Haus die schlimmste aller Einsamkeiten, die Einsamkeit der verheirateten Paare, die sich in resignierender Verzweiflung aneinanderketten, und diese Ketten werden von Jahr zu Jahr stärker. Jedes Mal, wenn sie zusammen ins Bett gingen, um unter dem Radar des Bewusstseins die sieben Stunden zu verbringen, die zwischen dem Tag und dem nächsten liegen, begehrte er sie, als könne das Eindringen des Mannes in die Frau auch nur ein bisschen seine Einsamkeit wegwischen; als könnte sie die Todesangst beseitigen, die wieder sein Leben beherrschte, und jetzt noch mehr, da er fühlte, dass es zwangsweise eine Verbindung gab zwischen den Bildern, als er zuschaute, wie wehrlose Zivilisten massakriert wurden, und dem Kind, das im Bauch seiner Frau starb. Auch diese Gedanken, wie auch die Geschehnisse in jenem Krieg, und alles, was er tat und sah hinter dem Sandhügel, der zu niedrig war, um die Schande zu verbergen, konnte er niemandem erzählen. Ganz sicher nicht seiner jungen Frau, die sich in ihre eigene Trauer vertiefte. Manchmal wachte er mitten in der Nacht von einem zerstückelten Schlaf auf, sah, wie ihre Schultern vor Kälte oder von ihrem Weinen erzitterten, und wandte sich ihr nicht zu, um sie zu umarmen, da er befürchtete, dies könne seine Lust erwecken, was ihren Schmerz und ihr Leid noch vergrößern könnte. Gerade das, was sie hätte aneinanderbinden sollen, ihre gemeinsame Trauer um das verlorene Kind, baute eine Mauer zwischen sie, die sie nicht zu verbergen vermochten.
Sehr eindringlich beschrieben und sehr gut uebersetzt!
Zwei Fragen an den Uebersetzer:
1) Lebt der Autor wieder in Israel?
2) Wieso hast du den Titel mit „Natis Buerde der Schuld“ uebersetzt? Im Original ist es nur „Buerde der Schuld“.
Weil „Bürde der Schuld“ verschiedene Assoziationen weckt, die hier – so finde ich – nicht passen. – Und, ja, er lebt schon seit vielen Jahren wieder in Israel. Wenn ich schreibe „lebte“, dann heißt das: nicht mehr. Aber natürlich hätte er von dort woandershin ziehen können…. Also, kurz: Ja.