Israel, Kinder, Familie

Wenn du mich Vater rufen wirst…

Aviad Friedman ist Geschäftsmann und Initiator von sozialen Vereinen, 1971 geboren, lebt in Tel-Aviv und hat mit seiner Frau Chana fünf Kinder.

Er arbeitete während zehn Jahren in verschiedenen Ministerien. Außerdem war er Vorsitzender des Direktoriums der „Matnassim“, das bekannte Netz von über 700 Gemeindezentren im ganzen Land.

Aviad ist Vater eines Jugendlichen auf dem autistischen Spektrum, und sein Buch darüber, „Wenn du mich Vater rufen wirst…“ ist 2018 erschienen. Es wurde ein Bestseller, mit mehr als 30000 verkauften Exemplaren, und ein Handbuch für alle, die mit dem Thema zu tun haben. Nach Erscheinen des Buches hielt Aviad bisher mehr 150 Vorträge in Israel, Vietnam, den Vereinigten Emiraten und weiteren Ländern.

Aviad Friedmann ist Geschäftsmann, Initiator von sozialen Vereinen, Vorsitzender von Direktorien, aber auch: Vater eines Jugendlichen auf dem autistischen Spektrum.

Wenn du mich Vater rufen wirst…

von Aviad Friedman

Übersetzung: Uri Shani

Vor allem anderen

Alle normalen Kinder ähneln sich. Alle Kinder sind besonders, jedes auf seine Art.

Bis zur Geburt von Awrumi waren wir normale Kinder. Wie normale Kinder hatten wir das Gefühl, wie seien unbesiegbar, es gäbe nichts, das uns nicht gelingen würde. Kein Hindernis, über das wir nicht hinwegkämen. Wir verstanden nicht, wie stark die Sonne der nichtsahnenden Unschuld auf uns schien, und wie gänzlich sich unser Leben verändern sollte.

Meine Großmutter sagte immer: Der Mensch dachte, Gott lachte. Ich habe immer an diesen Satz gedacht, aber nicht verstanden, wie wahr er ist. In unserem Fall hoffe ich wenigstens, dass Gott eine Träne für uns übrighatte.

Dieses Buch ist aus langen Nächten der Verzweiflung geboren, und aus wunderbaren Tagen der Hoffnung. Die Tage vergesse ich leicht. Manchmal weißt du nur im Nachhinein, dass sie solche waren. Die schwierigen Nächte empfindest du mit all ihrem Gewicht. Ich werde sie nie vergessen.

Ich habe Freunde, die Bücher geschrieben haben. Manche meiner Freunde im Geschäftsleben haben Einiges erreicht, eine Firma gegründet und verkauft. Andere erreichten wichtige politische Ämter, sammelten Erfahrungen und Erfolge und schrieben in ihren Büchern darüber. Das reizte mich nicht. Von Kind auf wurde ich dazu erzogen, dass der Segen im Versteckten liegt.

In meinem Kopf schwirrte ein anderes Buch herum, das ich schreiben wollte; ein Buch, das die Herausforderung, die Erfolge und Niederschläge beim Heranwachsen eines besonderen Kindes beschreiben sollte. Ich sah vor mir die Eltern, die die Hiobsbotschaft erhielten und jetzt dasaßen – so wie wir dasaßen, mit zusammengezogenen Schultern und traurigem Gesicht – wissend, dass das, was war, nicht mehr sein werde, dass sich das gestrige Leben für immer verändert hatte und sie nie mehr das sein werden, was sie einmal waren.

Ich wollte ein Buch schreiben, das die elterliche Partnerschaft beschreiben sollte, und vor allem die Vaterschaft, die von wenigen beschrieben wird. Irgendwie scheint es, dass besondere Kinder nur Mütter hätten. Die Väter sind verschwunden. In unserer Generation haben auch die Väter Anteil, und Verantwortung in der Erziehung der Kinder.

Ich wollte schreiben, um jenen Eltern Hoffnung und Kraft zu geben, in ihrer Auseinandersetzung mit den Behörden, der Familie, den Freunden und mit dem schlimmsten aller Feinde – mit sich selbst. Ich wollte schreiben, um ihnen zu sagen: Gebt nicht auf! Ihr geht die ersten Schritte in einem langen und schweren Weg. Euer Kind wird nie ein normales Kind sein, aber wenn ihr investiert, werdet ihr die Früchte ernten und profitieren.

Ich wollte schreiben, um die Trauer um das, was hätte sein können und nie sein wird, zu verspüren, und um daraus zu lernen, wie ich damit leben und mich auch freuen könne.

Und ich wollte schreiben, und ich schrieb, um dem eine Stimme zu geben, der so selten gehört wird – dem besonderen Jugendlichen, der hier seine Worte, seinen Schrei, und seine Freude ausdrücken kann.

  1. Kapitel: Tränen

„Es ist ein Junge“, sagte uns der Arzt in der Voruntersuchung. Wir blickten uns glücklich an. Im Aufzug hinunter von der Klinik zum Auto wussten wir schon, wie er heißen wird.

Mein guter Freund, Awi Fischer, ist im Militärdienst im Libanon gefallen. Ich bin mit Awi aufgewachsen, seit wir drei Jahre alt waren, und sein Tod war eine meine schwersten Erfahrungen in meinem Leben. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht hatte, und ich schwor, meinen Erstgeborenen nach ihm zu benennen. Schon in der ersten Woche, als ich Chana, meine zukünftige Frau, kennenlernte, erzählte ich ihr von Awi, die auch seine edelmütigen Eltern durch unsere vielen Besuche bei ihnen kennenlernte. Tatsächlich ereignete sich unser erstes offizielle Auftreten als Paar anlässlich der Einweihung der Torarolle in der Synagoge zu Awis Andenken.

Awi musste Teil des Namens sein. Auf dem Weg vom Hadassa-Krankenhaus auf dem Skopusberg zu unserem städtischen Kibbuz in Jerusalem spielten wir mit verschiedenen Möglichkeiten, wie der Zukünftige heißen sollte (Awichai? Awiw?), aber als wir aus dem Auto stiegen, wussten wir: Awraham Chaim. Kurz: Awrumi.

Wir waren ein junges Paar, siebenundzwanzig Jahre alt, voller Hoffnungen….

Aviad Friedmann ist Geschäftsmann, Initiator von sozialen Vereinen, Vorsitzender von Direktorien, aber auch: Vater eines Jugendlichen auf dem autistischen Spektrum.
Aviad Friedman, Foto: Yossi Zamir

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Sehr interessant! Der Untertitel des Buches auf der Titelseite (Bild oben) sagt: „die Geschichte von Awrumi zeigt, dass das Problem nicht beim Autisten liegt, sondern bei der Unfaehigkeit der Gesellschaft, die nicht seine Sprache spricht.“ Das – und dieser sehr schoen uebersetzter Ausschnitt – macht Lust, hoffentlich irgendwann das ganze Buch auf Deutsch lesen zu koennen.

Frage an den Autor: wieso benutzen Sie das Wort „besonderes Kind“? Ich finde es irgendwie unpassend, fast entwuerdigend (klingt in meinen Ohren wie ein Euphemismus fuer geistig Behinderter, wobei Autisten oft genau das Gegenteil sind). Haette man nicht „autistisch“ oder „im Spektrum“ (wird zumindest in Israel fast nur fuer das autistische Spektrum, von low- bis high-functioning, verwendet) benutzen koennen?

Rosebud
Rosebud
4 Jahre
Antworten  Uri Shani

Dann hoffe ich, es wird uebersetzt!

PS was denkt der Autor zu „al haSpektrum“? Ist sehr gaengig in Israel und war auch der Name einer Fernsehserie ueber eine WG junger Autisten.

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