Shulamith Shiffer ist in Tel-Aviv geboren, arbeitete als Anwältin in der Staatsanwaltschaft in Jerusalem. Danach öffnete sie ihr eigenes Anwaltsbüro. Während all den Jahren schrieb sie Geschichten, die im Computer den Titel ‚Schulas Geschichten‘ trugen. Ihr erstes Buch hieß: ‚Das Meer betrug mich zweimal‘ (Zameret, 2016), dieses, ‚er sagte ihr, dass sie‘ (Niv, 2020) beginnt mit der folgenden Geschichte.
Zur Übersetzung: Hebräisch ist eine „magere“ Sprache, sie kommt mit viel weniger Wörtern aus als Deutsch. So kann man zum Beispiel einen Satz auch ohne Personalpronomen formulieren. Das geht im Deutschen nicht. Shulamit Schiffers Stil ist mager, und in den meisten Sätzen gibt es kein Personalpronomen. Ich musste mich leider dem Deutschen beugen, damit es leserlich sei. Aber auch wo ein Personalpronomen da ist, ist vielfach unklar, wer mit „sie“ und „er“ gemeint ist. Auch der chronologische Zeitablauf ist absichtlich unklar. Das ist alles Teil des Stiles.
Eine Muschel aus Ismailiya
von Shulamith Shiffer
Übersetzung: Uri Shani
Er sitzt an den Ufern des Hudson und blickt in die Ferne. Die Wolkenkratzer stören nicht, auch die Blindheit nicht. Das „damals“ geht an deinem verwelkenden Hirn in unerhörter Geschwindigkeit vorüber.
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Nicht weit vom Kidron-Fluss hielt sie ihren temporären Führerschein in der Hand. Er hatte noch den Geruch der Druckfarbe, was ein Zeichen dafür war, dass sie erst gerade Auto fahren gelernt hatte. Sie stieg in sein blaues Auto, und in wilder Fahrt, wie ein galoppierender Stier, der etwas aufspießen will, durchbohrte sie die Mauern der Altstadt, und für einen Moment dachte sie, sie würden auf sie hereinbrechen. Er streckte sein langes linkes Bein aus und drückte mit aller Wucht auf das Bremspedal, während sie auf dem Gaspedal blieb. Man müsste Gott danken, dass wir das überlebt haben, sagte sie, während sie die Plätze tauschten und das Steuer nun von seinen sicheren Händen festgehalten wurde. Das machst du am Schabat, sagte er, heute feiern wir deinen neuen Führerschein.
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Jahre hatten sie nicht miteinander gesprochen, sie erkannte seine Stimme nicht am Telefon. Er war ja auf der anderen Seite des Ozeans, unerwartet. Er sagte, er würde ihre Stimme immer, sofort, erkennen, schon immer und bis in alle Ewigkeit.
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Nachdem sie den Führerschein erhalten hatte, kaufte ihr ihr Mann einen Gebrauchtwagen, der mehr Zeit in der Garage mit Reparaturen verbrachte als auf der Straße. Sie nannten ihn „Kunigunde“, wie die müde Frau in Voltaires „Candide“; sogar die, die ihn stahlen, ließen sie sofort stehen. Einmal, als ein Dieb ihn am Straßenrand einer Überlandstraße stehen ließ, schrieb ein Polizist einen Strafzettel und klebte einen Kleber an die Windschutzscheibe: „Geschätzter Mitbürger, Sie haben das Fenster offengelassen, das lockt Diebe an.“
Ein andermal, als sie aus der internationalen Büchermesse traten, prasselte der Regen auf sie herunter. Sie liefen schnell zum Auto und erreichten triefend nass ihre Kunigunde, die nur noch einen Scheibenwischer hatte. Jemand hatte den anderen gebraucht. Als sie zu Hause ankamen, nahm ihr Mann den verbliebenen Scheibenwischer mit, aber als er am Morgen mit dem Scheibenwischer in der Hand hinunterkam, war das Auto nicht mehr da. Sie fanden es weiter unten an der Straße, die Diebe hatten es dort stehengelassen, denn er hatte auch den Ventilator des Motors mitgenommen, da er schon Erfahrung hatte, und die Diebe hatten Kunigunde bis zum Ende der Straße geschoben, aber war ist nicht angesprungen.
Wieder ein anderes Mal läutete das Telefon, und jemand sagte, er habe sie gefunden. Sie dachten, der Fremde habe eine gute Tat gemacht, habe herausgefunden, wem das gestohlene Auto gehöre und sie benachrichtigt. Aber er sagte, dass das Auto in seinem Weingarten stehe und einige Weinreben entwurzelt habe. Der Schaden würde noch geschätzt, und sie müssten ihn bezahlen. Sie gaben sich Zeit. Kunigunde wurde in den Vorhof der ehemals britischen Polizei in einem der Siedlungen im Zentrum des Landes abgeführt. Sie fuhren dorthin, um sie abzuholen. Die beiden vorderen Türen verband er mit einem Seil, und das Seil schwebte die ganze Fahrt vor ihren Augen. Die Windschutzscheibe war zertrümmert, und der Wind blies ihnen kleine Glassplitter ins Gesicht. Der Lärm des zerbrochenen Auspuffes begleitete sie wie das Rattern eines alten Motorrades.
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Er sagte, er habe vor, nur für ein paar Tage nach Israel zu kommen, um sie zu besuchen. Er bat sie, bis dann das Lied „Chanson pour l’auvergnat“ von George Brassens zu hören und vor allem den Text zu beachten. Er sagte, dass er immer an sie denke, wenn er George Brassens höre.
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Das waren damals ihre frankophonen Jahre. Es gab den Emanuel aus Strasbourg, ein Wirtschaftsexperte, der zur Bank wechselte. Michel aus Genf, das Mathematikgenie, der sich inzwischen das Leben nahm. Arun aus Alexandria, der politische Wissenschaften und Nahost studiert hatte und Politiker wurde. Anne-Marie und Jacques aus Fez, Marokko, die Literaten, die nach Paris auswanderten, um an der Sorbonne zu unterrichten und nicht zurückkamen. Roni, der Offizier, mit einem schlechten Französisch aus dem Alliance-Gymnasium in Tel-Aviv, bat, in die Gruppe aufgenommen zu werden, und wurde akzeptiert, und dann begann er, Immobilien zu kaufen und zu verkaufen. Ihr Mann aus Bruxelles, der Physiker, der immer schon an der Universität war. Und er, Denker und Philosoph, aus Paris, der Gitarre spielte. Sie war auch aus Tel-Aviv, wie Roni. In ihrem Haus versammelte sich die Gruppe, und sie sagte, sie habe matrimoniales Wissen im Französisch. Eine ziemlich erbärmliche Ausrede unter den Studenten, deren Muttersprache Französisch ist. Aber sie öffneten ihr Herz und akzeptierten Ehepartner.
Sie sangen Jacques Brel, Georges Brassens, Gilbert Baque, und Anderes. Er machte sie mit dem vierten B bekannt – Guy Béart (dem einzigen, der noch am Leben ist. Was für eine schöne Tochter er hat! Die Schauspielerin Emmanuelle Béart), erzählte, dass er ihn in einem Cabaret am Linken Ufer getroffen habe, und er eigentlich Guy Hasson heiße und ein in Kairo geborener Jude sei, und bevor er siebzehnjährig nach Paris gekommen war, habe er einige Jahre mit seiner herumfahrenden Familie in Beirut gelebt. Außer den Liedern, die auf Gedichten basierten, die er geschrieben hatte, sang er alte und traurige französische Lieder, wie das aus dem 17. Jahrhundert: „a la claire fontaine“, dessen Refrain war: „l y a longtemps que je t’aime / jamais je ne t’oublierai.“
Die Klänge seiner Gitarre drangen in ihre traurigen Adern ein. Sie hörten ihm zu und sangen mit ihm seine Lieder. An den Abenden sangen sie bis zur Grenze des Verstands, und dann befreiten sie sich und sangen Lieder von Betrunkenen. Im Lied „Auprès de ma blonde, qu’il fait bon dormir“ änderte ihr Mann das Wort „blonde“ zu „belle“, damit die Nicht-Blondinen, auch sie, nicht beleidigt sein würden.
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Das Lied von Brassens, das er ihnen als Hausaufgabe nahelegte (ihre Übersetzung war nicht gut. Er war ein wunderbarer Übersetzer von Bodelaire und Rambeau) erzählt über drei Menschen, die dem Erzähler geholfen haben. Der erste – ein Einwohner von Auvergnat, der ihm vier Holzstücke gab, während es kalt war und die anderen ihm die Tür vor der Nase zuschlugen. Dies waren Funken, die ihn erwärmten, und seither brennen sie in seiner Seele wie ein Feuer der Freude. Die zweite – eine Frau, die ihm die Tür zu ihrer bescheidenen Hütte öffnete und vier Scheiben Brot gab, während alle anderen sich daran vergnügten, ihn hungern zu sehen. Diese Scheiben sind ihm als festliche Mahlzeit in Erinnerung geblieben. Der dritte – ein Fremder, der ein traurig-freundliches Gesicht machte, als die Polizisten ihn in Begleitung des Johlens der Gutmenschen verhafteten. Dieses Lächeln war etwas Kleines, das in seinem Herzen wie eine große Sonne brennt. Das sind die Worte des Liedes. Im Refrain wünscht Brassens jenen, die ihm Gutes taten, dass der Leichenwagen, wenn sie einst sterben, sie zum ewigen Vater führen soll. Sie verstand nicht, warum er plötzlich anrief und sie bat, sich dieses Lied anzuhören. Sie fragte. Er sagte, die Strophen seien für sie, aber der Refrain für ihn. Dass er auf dem Weg himmelwärts sei, davor wolle er vorbeikommen und sich verabschieden.
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Die Freunde zogen ihr Kind auf, das das einzige Baby in der Gruppe war. Seit es geboren war, wurde es in einer Kiste zu allen Partys mitgebracht. Er sang ihr Kinderlieder auf französisch „Ainsi font, font, font, les petite marionettes“. Ihr Kind streckte winzige Händchen zu seinem Gesicht aus und zu jedem, der es in seinem Kistchen anlächelte. Nach „Aba“ konnte es auch seinen Namen in der rudimentären Sprache der Säuglinge sagen. Er wusch es, fütterte es, und zog es an. Ging mit ihm die ersten Schritte. Nahm es in die Parks, zu den Rutschbahnen, Schaukelstühlen und Karussells. Besonders liebte er es, das Kind auf das eiserne Pferd im Pillbox-Park neben ihrem Haus zu setzen. Passte immer auf das Kind auf, auch an jenem Tag, als sie auf den Skopusberg fuhren, um sich den Schnee anzusehen und mit ihrer Kunigunde in den Wadi Dschos stürzten. Damals war es mit ihr endgültig zu Ende, und sie überlebten. Er schrieb traurige Gedichte voller Sehnsucht, umarmte seine Gitarre und ließ mit seinen langen Fingern die Saiten erklingen, und sang traurige Lieder von anderen Sängern, wie das von Enrico Masias: „Tu es la femme de mon ami“.
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Das ganze Land war beflaggt, als er kam. Ein Feiertag erwartete ihn. Er stütze sich auf einen Gehstock, sein Körper war abgemagert. Sein braunes, glattes, schönes Haar war einer Glatze gewichen. Davor, so erzählte er, war es grau geworden. Die letzten Tage des Frühlings. Er saß im Garten ihres Hauses. Drückte die Augen angestrengt zu. Dort sehe ich Bordeau, sagte er. Französische Geranien, sagte sie. Dort gelb, sagte er. Ein Rosenstrauch, sagte sie. Und das weiße? Eine weißliche Bougainvillea, die an der südlichen warmen Ecke wächst. Alle anderen Bougainvilleas erfrieren an der Kälte von Jerusalem. Und das Orange? Petunien. Und das rote? Es hat im Herzen einen schwarzen Flecken, ein wildes Stiefmütterchen. Die Paradiesvogelblume sah er nicht, sie war versteckt in einem Strauch, und auch die Bleiche ihres Gesichts sah er nicht während dieses Farbentestes, den er seiner Blindheit vollzog.
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An jenem Jom Kippur, kurz vor Mittag, verbrachte er wie üblich den Tag bei ihnen. Ihr Mann sagte: Wenn Gott wirklich so groß ist, dann kann er keine kleinliche Rechnungen machen. Er kann ja das Volk Israel nicht auserwählt haben, um es zu quälen. Er hegte keinen Zweifel daran, dass Gott nicht an seinem Fasten interessiert war, denn er verbrachte den ganzen Tag im Bett und las Kriminalromane. Manchmal ging er runter in die Küche, öffnete den Kühlschrank, schaute rein, fluchte, schmiss die Kühlschranktür zu und kehrte ins Bett und zu seinem Krimi zurück. Manchmal schaute er aus dem Fenster, in der Erwartung auf drei Sterne, die nicht erscheinen wollten. An den Jom Kippur-Tagen im Hause seiner Eltern, die in ihrer Jugend im „Haschomer Hatzair“ gewesen waren, gab es immer ein Festessen zu mittag, hinter verschlossenen Fensterläden. Ihr Mann hatte wegen ihr zu fasten begonnen, ich bin mit dir solidarisch, hatte er gesagt. Diesmal beschlossen sie, nicht mehr zu fasten. Er nahm also aus der Speisekammer ganze Kichererbsen, warf sie in den Mixer mit Tahina und Gewürzen, um das Hummus zu bereiten, das sie so gerne aßen – sein Hummus, der leckerer als der von „Taami“ war, der als bester Hummus in der Stadt galt. Während der ohrenbetäubende Mixer noch arbeitete, klopfte der Cousin an der Tür – der Mann, der vor einigen Jahren nach Israel gekommen war, um Revolutionen für die Rechte der Palästinenser anzuzetteln. Am Jom Kippur, wenn alle israelischen Radiostationen Funkstille sendeten, hörte er ausländische Radiosender und brachte so seinen Protest gegen den religiösen Zwang zum Ausdruck. Er sagte, dass das israelische Radio Musik sende, und das sei doch merkwürdig. Sie sagte ihm, dass er wohl ein wenig durcheinander sei, da er so viele Radiostationen abhörte. Er bestand darauf; wenn er sich schon die Mühe gemacht habe, hierherzukommen, war das doch ein klares Zeichen, dass er sich der Sache vergewissert habe. Sie machten das Radio an, er hatte recht. Viel Zeit zum Erstaunen blieb nicht, denn schon zerriss eine Sirene die Stille. Im Radio wurden die Schlüsselworte für ihre militärischen Einheiten verkündet. Ihr Mann hatte den Krimi nicht beendet. Die Kichererbsen waren zwar zu Hummus gemacht, aber dieser blieb im Mixer. Sie brachen das Fasten nicht. Nahmen ihre militärische Ausrüstung und gingen. Sie blieb zurück, das Kind fest umarmend, auf ein Lebenszeichen wartend.
Nach zwei Monaten erhielt er zwei Tage Urlaub. Brachte eine riesige Muschel aus Ismailiya mit. Gab sie ihr, damit sie das Echo des Krieges von weitem hören könne. Er war in dieser Schlacht am Suezkanal und hörte das Zischen der Kugeln noch in seinen Ohren, ohne Muschel. Tote Kameraden lagen neben ihm auf dem Feld, er schoss in alle Richtungen. Fragte: Wenn einer von uns beiden nicht zurückgekommen wäre, wen würdest du vorziehen? Sie empfand das wie eine letzte Kugel, die er auf sie richtete, und schwieg. Er nahm den verrußten Rucksack und ging. Dann fuhr er in ferngelegene Länder. Die Muschel blieb bei ihr.
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Im Garten ihres Hauses sagte er: Ich habe für euch zwei CDs aufgenommen – eine mit Liedern von Brassens, darunter das “ l’auvergnat“, die zweite mit Liedern von Guy Béart, mit den alten Liedern. Während wir die CD mit den Liedern von Brassens hörten, fielen die lila Tränen des Palisanderholzbaumes auf das Gras. Der Himmel war blau und hoch hoch oben, wie jener im Schlachtfeld des verletzten Prinzen Andrei Bolkonski, nach dem Natascha in „Krieg und Frieden“ so sehr verlangt. Er stand auf und verabschiedete sich. Umarmte sie mit schwachem Arm. Sie sagte, sie werde bald kommen, in den Sommerferien. Er lächelte mit schiefem Mund. Ich werde auf dich warten, sagte er. Er wartete nicht.
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Sie kam im Sommer. Die Frau, mit der er damals gelebt hatte, wartete auf sie. Sie erzählte: Als er zurückkam, konnte er schon nicht mehr auf seinen Beinen vom Flugzeug runter. Sein Zustand verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. In ihrem Haus neben dem Fluss zeigte sie ihr, wo er gelegen hatte, bis zu seinem Tod. Sagte, bevor er das Bewusstsein verloren habe, habe er ihr noch gesagt: „take your time, ich werde auf dich warten, ich kaufe dir dort die beste Parzelle.“ Sie verstand, dass die Frau, die er getroffen hatte, ihm gutgetan hatte. Inzwischen kaufte sie ihnen eine kleine Parzelle auf einem Hügel, das auf die Wolkenkratzer von New York blickte. Auf seinen Grabstein gravierte sie ein paar Zeilen aus einem Gedicht ein, das er geschrieben und ihr von Zeit zu Zeit gegeben hatte. Sie überlegte sich, ob das die Worte waren, die er sich für seinen Grabstein gewünscht hatte, oder ob sie diese selber geschrieben hatte, aber sie fragte nicht. Stand dort, in die Wirren der Zeit blickend, und die Sehnsucht nach jener Zeit riss von ihr Stück um Stück ab. Ein starker, heißer Wind stieß sie vom Hügel hinunter. Es war niemand da, der ihren Fall aufheben konnte, nur die Erinnerung an den Moment, als er auf die Bremse drückte, bevor sie fast die Mauern der Altstadt gerammt hätten.
Das hier erwähnte Restaurant „Taami“ ist sehr berühmt-berüchtigt in Israel – es hat ausgezeichnetes Essen, aber schrecklichen Service, so eine Art israelischer „Soup Nazi“: da es ein Arbeiterlokal war, wo die meisten Leute ihr Essen nur abholte, war der Besitzer sehr ungeduldig, und sagte „lo lil´os, livlo´a“ („nicht kauen, schlucken“), das wurde gewissermaßen zum Motto von „Taami“….