Land frisst: Über den israelischen Appetit
Die folgende Einleitung des Buches „Land frisst“ beginnt mit einer Geschichte und erklärt dann, worum es in diesem Buch geht. Deshalb ersparen wir es uns hier.
Dr. Yahil Zaban ist Literaturwissenschaftler und Lebensmittelkulturforscher. Seine Studien umfassen die Poetik, die Ästhetik und die Philosophie des Essens und die Verbindungen zwischen Lebensmittel, Literatur und Konsumgesellschaft.
Der Titel „Land frisst“ ist eine Verkürzung des im Hebräischen sehr bekannten Bibelzitates „Land frisst seine Bewohner“ (4. Mose 13). In diesem Kapitel erzählen die Kundschafter, die Mose ausgeschickt hat, vom Land Israel und verstreuen Angst unter den Leuten, indem sie sagen, es sei zwar ein Land, in dem Milch und Honig fließt, aber „es frisst seine Bewohner“. In der neuhebräischen Sprache wird der Ausdruck dazu benutzt, den Blutzoll auszudrücken, den das Leben hier erfordert. In diesem Buch ist natürlich „Land frisst“ – im Gegensatz dazu – wörtlich gemeint.
Land frisst: Über den israelischen Appetit
von Dr. Yahil Tsaban
Übersetzung: Uri Shani
Einleitung: Die Kreuzritter-Chalwa
Eines Abends bemerkte ein berühmter Küchenchef, dass er vergessen hatte, einen Nachtisch vorzubereiten. Den ganzen Tag hatten er und seine Equipe an der königlichen Mahlzeit gearbeitet, und nun, neben all den exquisiten und exklusiven Gängen, vor lauter komplizierter Kochtechniken und teurem Material, hatte er den Nachtisch vergessen. Das Problem war, dass die Klientel nicht eine war, mit der man herumspielen konnte, sondern aus der Schicht jener Herren und Damen mit feinem Geschmack und vielen Gütern, die nicht ins Restaurant gehen – man bringt ihnen die gebratenen Enten, mitsamt Saucen und Köchen nach Hause. Solche Typen bezahlen gut, aber wem sein Leben wichtig ist, wird ihrem Appetit nachkommen. Und jetzt in der gut ausgestatteten Küche der Villa, umzingelt von markanten und geschmackvollen Mahlzeiten, blieb ihm kein Korn von Zeit, auch nur einen Keks vorzubereiten. Aber unser international bekannter Küchenchef ließ sich nicht aus Fassung bringen. „Nimm ein Taxi“, sagte er dem Souschef, von dem ich die Geschichte hörte, „geh in den Markt und kaufe mir zwei Kilo Chalwa. Gewöhnliche Chalwa, ohne Pistazien, ohne Schokolade, nur gewöhnliche Chalwa.“
Die Mahlzeit war ein Erfolg. Jeder Gang erweckte Verblüffung, bereitete Genugtuung und wurde in hohen Tönen gelobt. Aber die absolute Spitze war der Nachtisch. Der weltberühmte Chef betrat den Esssaal, stolz ein glänzendes, riesiges Silbertablett tragend, darauf das Stück Chalwa lag, in drei Blöcke geteilt. „Meine Damen und Herren“, verlautete der Chef, „bitte gewähren Sie mir, ihnen die Kreuzritterchalwa vorzustellen. Diese Chalwa kann man nirgends kaufen, Sie finden sie in keiner Patisserie und nicht im Markt. Sie wird von einer christlichen Familie in Nazareth einmal im Jahr vor Weihnachten vorbereitet, nach einem geheimen Rezept, das von Generation zu Generation seit der Kreuzritterzeit weitergegeben wird. Sie bewundern heute etwas absolut Einmaliges, die originelle Chalwa, die Süßigkeit der Bibel, der Propheten, Jesus‘ Chalwa. Diese Chalwa isst man wie damals, mit den Fingern, ohne Eis, ohne Pistazien, ohne Schnickschnack und ohne Knigge. Eine solche Chalwa kostet man nicht, nein! Man spürt sofort, wie die Geschichte auf der Zunge vergeht.“ Nach zehn Minuten war das Tablett leer, kein Krümel war übriggeblieben. Jede und jeder rühmte die Kreuzritterchalwa, und alle waren sich einig, dass es der beste Nachtisch war, den sie jemals gegessen hatten.
Man kann diese Damen und Herren der hohen Gesellschaft auslachen, man kann die schöpferische Begabung des berühmten Chefs bewundern, aber die Wahrheit ist, dass wir alle, jeden Tag, von morgen früh bis spät abends, während des ganzen Lebens, in unsrer Jugend und im Alter, Kreuzritterchalwa essen. Genauer gesagt: Wir essen Geschichten über Essen. Einige davon sind wahr, die meisten erfunden, einige erstaunlich, die meisten langweilig, einige traurig, die meisten erfreulich, einige klug, die meisten skurril. Jeden Tag schlucken wir erdichtete Legenden, Redensarten, kauen heilige Schriften, Gebete und Phrasen, kosten Gedichte, Sonetten und Werbesprüche, versüßen Aberglauben, Prophezeiungen und akademische Studien, und zum Nachtisch verschlingen wir historische Dramen, Moralitäten und Zeitungsartikel. Das Buch „Land frisst“ handelt von der Kunst des Erzählens der israelischen Esskultur. Er zeigt, wie über das Essen geredet wird, wie mit dem Essen geredet wird und wie Essen auf Hebräisch erzählt wird. Der Ausgangspunkt jedes Kapitels ist, dass alle Mahlzeiten nach dem Rezept der Kreuzritterchalwa zubereitet werden. Der Chummus, der Salat, das Schischlick und das Cottage beinhalten nicht nur Gemüse und Fleisch, Proteine und Kohlenhydrate, Gewürze und Saucen, sondern auch Wörter, Metaphern, Dialekte, Stimmen. Die sprechende Zunge macht die Chalwa zu einer zerschmelzenden oder knabbrigen, sie verwandelt ihre Süße in ein Vergnügen oder in eine Qual, und sie ist es auch, die sie schmeckt.
„Land frisst“ schenkt dem Klang der israelischen Lebensmittelsprache sein Ohr, ihrem Wortschatz, ihrer Grammatik, ihrer Lyrik und Poesie. Das Buch nimmt sich dem Einkaufen, dem Kochen und dem Konsum der Lebensmittel, als Kunstwerk an und sieht im Geschmack ein poetisches Phänomen. Es beschreibt die Tänze der Pita im Chummusteller, besucht Museen von Edelrestaurants, ist entzückt vom abstrakten Futurismus der Bamba, betrachtet das glückliche Paar vom Dach der Heiratstorte, trauert über das tragische Schicksal der Gefillte Fische und warnt wie Laokoon aus Troja vor der Kube. Es wird ihm schwindlig vom Walzer der Gäste und Gastgeber, trinkt gierig das Blut, das die Gladiatorenkämpfe zwischen Vegetarier und Karnivoren vergießen, zwischen Aschkenasen und Ssefarden, zwischen Eltern und Kinder, und beklatscht die Richter in den Kochwettkämpfen im Fernsehen. Es rührt von neuem im biblischen Linsengericht, genießt die scharfe Paprika, die den Burekas-Filmen hinzugefügt werden, geht in den Gängen des Supermarktes und der Koschergesetze verloren und reiht sich in den uralten Chor ein, der ein Loblieb auf die Schawarma singt.
Am Ende des Buches ist eine Bibliographie der Bücher und Studien, die mir geholfen haben, aber das Buch will nicht eine akademische Studie sein. Das Buch behandelt solche Studien, steigt in historische Ereignisse ein und aus und bedient sich anthropologischer, soziologischer und psychologischer Studien. Aber es hütet sich davor, die israelische Esskultur als Widerspiegelung der israelischen Identität darzustellen, und zieht es vor, sie als ein Reichtum von schrumpfenden und sich ausweitenden, sich verstreuenden und sammelnden, immer wieder neu formenden Sprachen zu beschreiben. Das Ziel des Buches ist die Geschichte des israelischen Essens zu erzählen, es von der Diktatur des guten Geschmackes, von unterdrückenden Verhaltensrezepten und von der Götzenanbetung des sich von selbst Verstehenden zu befreien. Es will das Essen aus den Restaurants, aus den Supermärkten, aus den Küchenschränken, aus den Rezeptbüchern, aus den Studien und aus den Fernsehprogrammen hinausholen und in den Garten der Fantasie und der Schöpfung pflanzen. Dort, so wird erzählt, wächst eine Frucht, die eine Wonne für das Auge und angenehm zum Lernen ist.
Koestlich (im wahrsten Sinne des Wortes)! Man kann in diesem Zusammenhang das sehr beliebte israelischeProgramm „Master Chef“ erwaehnen, bei dem vor ein paar Jahren ein Deutscher Einwanderer nach Israel, Tom Franz gewann – er kochte gewissermassen seine Biographie, von typischen deutschen Gerichten seiner Mutter bis zu, im Finale, typische israelische Speisen.
Franz Buecher sollte man in Kombination mit dem Buch von Dr. Yahil Zaban (sehr ungewoehnlicher Name uebrigens) lesen – ich hoffe, es wird bald ins Deutsche uebersetzt…
[…] Literatur und Konsumgesellschaft. Vor drei Monaten publizierten wir hier auf Re:Levant “Die Kreuzritter-Chalwa” aus seinem Buch “Land frisst” (2016). Hier nun ein Auszug aus “Der Bücher […]