Der Erzähler in „Schmerzüberfluss“ (Afik, 2018) ist ein Psychiater, der versucht, sein gebrochenes Herz zu behandeln, und zwar mittels einer Reise in verschiedene Richtungen gleichzeitig. Er huscht wild von Gegenwart in verschiedene Schichten der Vergangenheit und wieder zurück, von seiner persönlichen Erinnerung hin zu den Erfahrungen seines Vaters in Europa in jenem Krieg, beide befinden sich in einem existenziellen Überlebenskampf, physisch und psychisch. Straße 90, die längste Straße in Israel, von der nördlichen Grenze zum Libanon bis Eilat im Süden, durch das Jordantal und die biblischen „Erinnerungen“, ist der geographische Hintergrund. Das mittlere Stück der Straße, von Bet-Schean und bis nach dem Toten Meer, geht durch besetztes Gebiet, und der ganze folgende Auszug spielt sich in diesem Abschnitt ab.
Gegen Schluss des Auszugs ist ein Zitat („als die schreckliche Posaune auf dem Berg Gilboa geblasen wurde“) aus dem Gedicht „Auf dem Gilboaberg“ von Saul Tschernichowski, einem der wichtigsten israelischer Dichter, auch Arzt. Dieses Gedicht über die tragische Figur des Königs Saul kennt jedes Kind in Israel.
Der Verfasser, Dr. Amos Rein, ist in Tiberias geboren (im nördlichen Teil der Straße 90), seine Eltern kamen als Flüchtlinge aus Budapest ins Land, als der Staat gegründet wurde. Er gründete eine psychiatrische Krankenstation in Eilat (am südlichen Ende der Straße 90) und lebte dort viele Jahre. Er publizierte vor „Schmerzüberfluss“ Poesie und ein Kinderbuch und lebt in Jerusalem.
Schmerzüberfluss
von Amos Rein
Übersetzung: Uri Shani
Während der Krankenwagen auf der Straße von Jericho nach Jerusalem hinaufsauste, etwa bei der Kreuzung des guten Samariters, begann der Soldat mit den Sommersprossen von der Spezialeinheit „Duwdewan“, der auf der Tragbahre lag, zu husten; ich nahm an, dass der schnelle Aufstieg aus der Jordansenke, zusammen mit dem rasanten Fall des atmosphärischen Druckes, die Bildung eines Lungenödems beschleunige, wegen Herzinsuffizienz, die ihrerseits von seiner Myokarditis herrührte; zuvor war ich nur einmal Arzt im Militär gewesen, nach dem Praktikum, während meiner bizarren Zeit in der Feldzeugmaterialkompanie in Damur während des Libanonkrieges 1982; nach einem Jahr machte ich meinen ersten Reservedienst als Arzt in einer Kaserne in der Jordansenke; im Gegensatz zu jener Nacht in Damur, die ich mit Ach und Krach überlebt habe, hoffte ich diesmal, den Reservedienst leichter durchzustehen, aber ich hatte schon einige schwierige Fälle; da war dieser Zivilsit aus Bet-Sche’an, der mit seinem schwarzen BMW in die Krankenstation kam, als ich gerade die Außenposten besuchte; er wand sich auf dem Boden in einem eingebildeten Anfall von renal colic (ein scharfer Schmerz wegen eines Nierensteines), und Tschiko, der bulgarische Sanitäter empfing ihn ohne mein Wissen und verpflegte ihn auch nach seinem Gutdünken; als ich zurückkam, erfuhr ich, dass unter den kranken Soldaten ein Zivilist liegt, dem Tschiko in meiner Abwesenheit und ohne mein Wissen das ganze Morphium verabreicht hatte, das wir hatten, und es war klar, dass es sich um einen Junkie handelte. Einen Moment lang hatte ich den Verdacht, dass es da eine Mafia-artige Abmachung zwischen dem Junkie aus Bet-She’an und Tschiko aus Jaffa gab (ich hatte schon einen Typen aus Jaffa in Libanon gekannt, aber nicht einen bulgarischen, sondern einen türkischen), der in einer Schreinerei in der Matalonstraße arbeitete, in der Nähe von Mattis Bar, in der ich an einigen Freitagnachmittagen mit Joni gesessen hatte, mit Bier plus Wodka plus Kuhzunge plus tiefes Schuldgefühl und breit wie ein Ozean, das das alkoholische Gelächter über jeden blöden Witz ankurbelte, so ein Gelächter, das mit einem kurzen Grunzen beginnt und innert zwei Sekunden zu einem Lachgeheul in ekstatischem Mezzosopran ansteigt, und nach jedem Anstoß durch das Schlüsselwort im Witz (so wie der irische betrunkene Seemann im Hafen von Marseille erstaunt ist über die Eier des Transvestiten, der ihn zum Ficken anleitet und sagt: Wart einen Moment, der vorige Klient ist noch da), dann kommen die Nebenwellen des Gejaules, wie die Schreie der Wildgänse im Himmel in Skandinavien, und dann die Tränen, und ich erinnerte mich, wie einmal einer der Verteidiger von Demanjuk bei uns saß und Gefillte Fisch aß, so ein Material, das gebraten und zermahlen und versüßt wurde und jetzt mit dem Fischauge vor ihm lag, das ihn vom Teller aus anschaute, und der erzählte, dass das Geld von ukrainischen Freunden kam; der Barmann, ein spindeldünner alter, Überlebender aus einem Sonderkommando, sprang zwischen der Küche und den Klienten hin und her, wie einer, der es gewohnt war, Substanzen in verschiedenen Aggregatzuständen zu transportieren, und es ist ihm völlig egal, was diese Substanz einmal war, aber nachdem ich den Junkie hinausgeschmissen hatte, entschied ich mich, Tschiko Glauben zu schenken in der Morphiumsache und verzichtete auf einen militärgerichtlichen Prozess; außerdem war da der Fall der hochgewachsenen schönen Beduinin, die vom Zwiebelfeld im kleinen Dorf neben Jiftlik kam, vielleicht Mardsch Na’ame, die von erschütternden Angstschreien von zwei weiteren Frauen und einem Mann, alle drei kleiner als sie, begleitet wurden, während sie selber gemächlich ins Krankenzimmer trat und still dastand, mich mit ihrem Blick maß und sehen wollte, ob auch ich angesichts ihres Hauptes erschräke, aus dessen Stirn ein Zopf trat, der zuvor vom Hinterkopf abgerissen worden war, wie ein falsch zusammengesetztes Puzzle; der Zopf hängte an blutenden Haut- und Frontalis-fasern (die Stirnmuskel), der bis zu den Augenlidern abgerissen war, neben peri-okularen Fasern um das Auge herum, dessen Zustand gänzlich unklar war, und ich befürchtete einen tiefen Riss bis zur Retina, oder, in meiner Einbildung, sogar bis zum „optischen Zopf“ in der Augenhöhle, vielleicht wegen des königlich dicken Zopfes der Beduinin, die jetzt völlig aus dem Zusammenhang gerissen schien, von ihrem Kopf gerissen, in ironisch unausstehlicher Würde, wie ein monumentaler Überbleibsel eines stolzen Königreiches, das wegen der Goldgier eines barbarischen Konquistadoren mit technologischem Vorteil von Rad und Sprengmitteln und in der Hand die Bibel untergegangen war; aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sprang mir die Schönheit der Beduinen in all ihrer Kraft ins Auge, zügellos, wie zerrissene Seide aus der Ming-Dynastie; aber das Verhängnis dieser beduinischen Helena war nicht das Ergebnis eines Krieges um ihre Schönheit, sondern ein Traktor, der in Mardsch Na’ame zum ersten Mal an diesem Tag gehandhabt wurde, an ihn angehängt ein landwirtschaftliches Werkzeug für die Zwiebelernte, und dahinter waren die drei Frauen gebückt und schwarz gegangen wie die Erntehelferinnen in jenem französischem Bild, oder wie Ruth und Naomi aus Mardsch Na’ame, bis sich der Zopf im Dreischaft des verfluchten Geschenkes des gutgesinnten Besatzers, diesem trojanischen Pferd in Form eines alten Ferguson-Traktors, verheddert hatte, wahrscheinlich ein Geschenk einer israelischen Siedlung, oder vielleicht war es auch ein Traktor der Marke „International“, wie der Halbkettenpanzer, mit dem wir die Patrouillen am Suezkanal gemacht hatten und der uns mit dem Verwundeten aus Ferdan herausrettete, vor hundert Jahren, das heißt: die dreizehn Jahre zwischen dem 18-jährigen Jüngling und dem 31-jährigen Mann, der ich jetzt war; das skalpierte Haupt der schönen Beduinin beschwor das Bild des Verwundeten herauf, aber ihr Blick war ein anderer als jener Morphiumblick des verwundeten Soldaten; es war der Blick desjenigen, der in der Hand eines Anderen ist, wie mein Vater nach der Befreiung aus Mauthausen, als er 35 Kilo wog, mit einem Kwashiorkor-Ödem (Ergebnis von langanhaltendem Fehlen von Proteinen und Kalorien wegen Aushungerung), und sein Blick fragte den deutschen Feldarzt: „Die Macht, die dir gegeben wurde, kann sie nur töten, oder auch retten?“ Und so sah ich den Blick der beduinischen Helena, mich fragend, und deswegen forderte ich einen Hubschrauber, der sie ins Spital bringen sollte, und als sie zwischen einem Soldaten mit Grippe und einem Soldaten mit Durchfall lag, gab ich ihr eine Infusion und reinigte mit isotonischer Kochsalzlösung die freistehenden Fasern, wobei ich mich bemühte, sie anatomisch richtig anzuordnen, und bedeckte das Ganze mit einem mit isotonischer Kochsalzlösung getränkten Gaze-Polster, dann machte ich zwei „Bejgele“ aus dem Verbandstoff, den mir der Sanitäter mit dem Möbelladen, mit dem ich im Libanon gewesen war, gegeben hatte, einen kleinen fürs Auge und einen großen für den Kopf, dann verband ich das Ganze wieder und wieder, spritzte ihr Morphium und blickte in ihr verwundetes ausdrucksloses Auge; aber als sie die lächelnde Ärztin im Helikopter anblickte, sah ich in ihrem Gesicht, dass ihre Hingabe an die heilende Kraft kein Mitleid sucht und auch keine Versöhnung mit dem Feind, der sie behandelt; und mit dem Soldaten mit den Sommersprossen aus der „Duwdewan“-Spezialeinheit, der blödsinnig in der heißen Mittagssonne im August in der Jordansenke maltraitiert worden war, schaffte ich es wie durch ein Wunder; nachdem ich seine Körpertemperatur gemessen hatte, begnügte ich mich nicht mit Klimaanlage und Aspirin und „viel Trinken“, sondern öffnete ihm eine Ader und befahl, ihm jede halbe Stunde die Temperatur zu messen; zunächst sah er mit seinen Sommersprossen in Ordnung aus, und als seine Temperatur anstieg, stellte ich noch einen Ventilator vor das Bett; aber nach zwanzig Minuten sah ich, dass seine Temperatur trotzdem anstieg und da wurde es mir so ziemlich mulmig zumute, ich sagte den Sanitätern, sie sollen ihn ausziehen und mit eiskaltem Wasser waschen, denn ich befürchtete einen fatalen Sonnenstich, obschon damals noch nicht die Rede davon war, und diese Fälle in den Eliteeinheiten kamen erst ein paar Jahre später in die Zeitungen, und alles woran ich mich erinnerte, war eine Störung in der Temperaturregulierung im Thalamus, und die Säuglinge in der Notfallstation, denen man Alkoholbäder machte, aus Angst vor Fieberfrost, aber da war nur ein kleines Fläschchen von Alkohol, und ich schaute schnell ins „Merck Manual“, und ich sah, dass die Gefahr eines Schadens im Herzmuskel und Todesgefahr bestand‘ und dass ein kaltes Bad die Arterien zusammenziehen könnte, was eine Wärmeübertragung von innen nach außen aufhalten könnte, dass man stattdessen kalte Massagen machen sollte, und für eine beruhigende Zigarette war jetzt keine Zeit, dann rief ich die Sanitäter, sie verstanden sofort und standen um ihn herum, Filipe, der religiöse Sanitäter, der jedesmal unter peri-analem Ausschlag litt, wenn er in den Reservedienst gerufen wurde, wegen der Änderung in der Ernährung und im Stuhlgang, der jemenitische Krankenwagenfahrer, der die ganze Zeit über seine sexuellen Erfolge mit Hilfe von Mandeln und Kath sprach, und es war klar, dass die Sache ihm Sorgen bereitete, der Unteroffizier, die in einer Autovermietungsfirma arbeitete und mit verschlossenen Gesicht über Gewinnprozente sprach, wir alle massierten ihn wie wild, um die Temperatur aus ihm herauszutreiben, wie Leute, die angespannt um eine Motorhaube stehen und nicht wissen, ob der fucking Zylinderkopf das zeitliche gesegnet hat, und bei dem Sommersprossensoldaten von der „Duwdewan“ hatte der Thermostat im Kopf schlapp gemacht, und nach ein paar Minuten war das ganze Eis alle, denn zuvor hatte sich jemand offenbar ein großes Icecaffee gemacht und die Eiswürfelformen nicht nachgefüllt, aber zum Glück war der Kühlschrank totale Scheisse und nicht besonders dicht, und deshalb gab es eine schöne Schicht Schnee im Eisschrank, und so begannen wir, den Schnee abzuschaben und zum Soldaten mit den Sommersprossen zu rennen und die Massage mit Schnee zu machen, damit ich nicht die Temperatur von ihm erhielte, die schon 41 rektal war, und meine Hände bluteten vom Schneekratzen, aber ich spürte sie nicht vor lauter Angst, dass der „Duwdewan“-Soldat mit den Sommersprossen mir in meinen Händen wegsterbe, aber bei der nächsten Messung war die Temperatur zumindest endlich konstant, und bei der nächsten fiel sie sogar unter einundvierzig… und wir machten mit der kalten Massage weiter, ich berichtete dem militärischen Gesundheitshauptquartier und verlangte einen zivilen Krankenwagen mit Klimaanlage, der dann von einer der Siedlungen kam, vielleicht sogar von der Siedlung der französischen Siedler, was eine Geschichte für sich war in diesem Reservedienst, wie die mich hergerufen hatten für eine Wiederbelebung in einem höllenheissen Hangar, und ich hatte das Gefühl, dass ich in Hephaistos‘ Blasebalg hinuntergestiegen sei oder sogar bis zu Hades, um mit ihm mit Hilfe eines Loches in der Brusthöhle und einer Intubation ambulatorischer Beatmung über eine Seele zu verhandeln, die er auf heimtückische Weise in die Hölle geklaut hatte, die Seele eines Kindes, das mit einer 81mm-Granate gespielt hatte, aber das war eine dieser vergeblichen Kämpfe, wie der des Leonidas an den fernen Thermopylen, oder der des Königs Saul, „als die schreckliche Posaune auf dem Berg Gilboa geblasen wurde“, der sich in einer Krankenwagen-Entfernung von vierzig Minuten von der Krankenstation „Gedi“ befindet; und natürlich, bis die Temperatur des Gepeinigten von der „Duwdewan“ endlich fiel, entfaltete sich die Angst vor einer Schlappe-Fiasko-Debakel zu einer Drohung einer Katastrophe mit einer Schlagkraft, die sich schwer erklären lässt, die nur einer einzigen Sache ähnelte, den Albträumen meiner Kindheit, die manchmal wie eine globale Apokalypse auf mich hereinstürzten; in diesen kosmischen Träumen sprang ich erschreckt aus meinem Bett, rannte mit geschlossenen Augen herum, mit einem Gefühl vom totalst möglichen Schicksalsschlag, wegen der Stimmen die so höllisch in meinen Ohren kreischten, mit jedem Schritt, den ich in der Dunkelheit tat, und die sich wie eine ungeheure und entsetzte Menschenmasse anhörten, vielleicht Millionen, die mich prüften, ob ich den richtigen Schritt machte, um die Welt zu retten, oder ob ich auf den falschen Platz treten würde, der den endgültigen Untergang des Planeten herbeiführen würde, und es gelang mir nicht, die Stimmen auseinanderzuhalten und zu verstehen, ob es eine leise, schwache und verzweifelte Stimme war, eine Stimme der Erleichterung, wie ich sie empfand, als ich mit dem Sommersprössigen von der „Duwdewan“ in die Notfallstation auf dem Zionsberg trat und dem Arzt im Praktikum sagte: „Er hat einen heat-stroke, wie es im textbook steht.“
Sehr schoen – der israelische Journalist Modi Bar-On hat uebrigens eine Dokumentarserie gemacht, wo er die 90-Strasse entlanggefahren ist – die die Vielfalt israelischen Lebens, vor allem der „Peripherie“ zeigt. Vielleicht kann man irgendwann das uebersetzte Buch lesen, und dabei die uebersetzte Serie sehen? Es waere schoen!
[…] in Eilat und lebte dort viele Jahre. Vor zwei Monaten publizierten wir einen Ausschnitt aus “Schmerzüberfluss” (Afik, 2018), hier nun ein zweiter Ausschnitt aus demselben Buch. Rein publizierte vor […]