Ich erinnere mich genau, wo ich stand und welche Kleider ich trug, und auch an den Geruch um mich herum erinnere ich mich, als ich erfuhr, vor zwanzig Jahren, dass der größte israelische Dramatiker aller Zeiten, Hanoch Levin, gestorben war.
Wie gedenkt man gebührlich dem 20. Todestag einer so wichtigen wie auch kontroversen Persönlichkeit? Wir werden hier eine Reportage in drei Teilen veröffentlichen, in der ich Gespräche mit Anderen wie auch ein paar wenige kurze Übersetzungen eingebaut habe. Heute also der erste Teil.
Hanoch Levins Stücke wurden in England, Deutschland, Frankreich, Rumänien, Bulgarien, Belgien, Spanien, Polen, der Schweiz, den USA, Ungarn, Schweden, Luxemburg, China, Russland, Kenia, den Philippinen, Zypern, Mexico, Argentinien, der Türkei, Griechenland, Portugal, der Ukraine, und vielleicht in weiteren Ländern inszeniert. Der Wikipedia-„Artikel“ auf deutsch ist so erbärmlich, dass er wie eine von Hanoch Levins Satiren aussieht. Dass er so aussieht, hat natürlich mit Zensur zu tun, ein Thema, mit dem sich Levin zwangsweise herumschlagen musste. Nachdem sein satirisches Stück „Der Patriot“ 1982 zensuriert wurde, schrieb er Folgendes:
Aus dem Tagebuch eines Zensors
(Übersetzung: Uri Shani)
Mein liebes Tagebuch, wie jede Nacht – ein paar Worte vom Herzen, vor dem Schlaf. Auch heute, mein Tagebuch, wie an jedem Tag, hab ich eine Seele in Israel gerettet [Anspielung auf den bekannten jüdischen Satz: Wer eine Seele in Israel rettet, rettet eine ganze Welt. U.S.]. Er war eine tragische Figur in einem alten Stück, ein Neger, ein General, mutig, aber pathologisch eifersüchtig. Er heiratete eine weiße aristokratische Frau, die ihn liebte, aber unendlich litt unter seinen jähzornigen Eifersuchtsausbrüchen, bis zum bitteren Ende, da er sie erwürgte. Mein liebes Tagebuch, ich weiß gar nicht, woher mir plötzlich dieser Gedanke kam, aber gleich zu Beginn des Stückes erkannte ich, ohne den geringsten Zweifel, den schrecklichen Ursprung des Bösen: die überschwelligen Gelüste des armen Negers! Angesichts seiner Leiden konnte ich mein Erbarmen nicht mehr zurückhalten, ich nahm die Schere, und gleich nach seiner ersten Szene traten zwei türkische Soldaten auf und schnitten ihm die Eier zusammen mit dem Penis ab. Nach einer halben Minute hatte sich der arme Neger beruhigt, all seine Eifersuchtsausbrüche während des Stücks waren wie weggefegt. Aber jetzt, liebes Tagebuch, konnte ich die Frau natürlich nicht so lassen, mit Gemahl ohne Geschlechtsteile, denn da könnte ihr ja die Lust kommen und sie zum Betrug verführen. Darum hab ich nach der nächsten Szene zwei weitere türkische Soldaten auf die Bühne gebracht, die ihr die Brüste abschnitten, die Gebärmutter herausrissen und die Klitoris abfeilten. Ach, mein Tagebuch, die Liebesszene der beiden war jetzt süß und ruhig. Aber damit war die Arbeit noch nicht beendet.
Da war noch ein Intrigant, ein Schwindler, der es auf das Eheglück der beiden abgesehen hatte. Mitten in seinem Monolog, in welchem er seine Pläne dem Publikum preisgab, stürmten noch zwei Soldaten auf ihn los, Türken natürlich, die packten ihn und schnitten ihm die Eier ab. Alle Motivation für Bosheit und Unfug verschwand sogleich. So stand er jetzt, auf einer Bühne voller türkischer Soldaten hinter ihm, schwach, apathisch und passiv, beendete seinen Monolog mit Müh und Not und verschwand.
Sogleich begann der zweite Akt, und unser Neger betrat nun die Bühne sauber, rein, ohne Dummheiten im Kopf, ohne Genitalien, seine Lenden verbunden mit sterilen Bandagen. Er setzte sich zu Tisch zum Teetrinken mit seiner Frau, die ja jetzt auch verbunden war mit ähnlichen Bandagen. Und so saßen sie beisammen, still, und tranken Tee, während die türkischen Soldaten dahinterstanden und warteten, bis mir gegen Schluss des zweiten Aktes nichts übrig blieb als das Natürliche und Logische zu tun in ihrer Situation – sie zum Judentum zu bekehren. Zuerst wechselte ich dem Neger die Hautfarbe, dann brachte ich einen Rabbi, aber als dieser gerade den Feldherrn in seinem Schloss in Zypern beschneiden wollte, entdeckte ich, dass dies nicht mehr möglich war, nachdem ich dem Neger die Geschlechtsteile abgeschnitten hatte. So fügte ich sofort im dritten Akt eine zusätzliche Szene im Operationssaal hinzu, zehn Ärzte transplantierten dem weißen Neger einen neuen Penis, dann kam der Rabbi und beschnitt ihn, und sofort kamen noch zwei türkische Soldaten, die ihm den beschnittenen Penis wieder abschnitten. Wir haben da zwar ein bisschen übertrieben in diesem Akt mit Genitalien, aber dafür hatten wir jetzt auf der Bühne einen weißen Juden, koscher, vom Rabbi bestätigt, und ohne Gemeinheiten im Sinn.
Der vierte Akt begann mit Schwung. Unserm Juden gab ich einen schönen Bart, eine Kippa, und so, als schöner Jude mit sanfter Stimme, wie konnte ich ihn Kommandant in Zypern sein lassen? Was schert sich ein Jude um die Türkenkriege? Sogleich machte ich ihn zum Hasan (Vorbeter) und gab ihm einen neuen Namen – Ottl. Reb Ottl der Vorbeter. Und was soll schon ein bekannter Vorbeter in Zypern? Da gibt’s ja gar keine jüdische Gemeinde! Ich wollte auch die türkische Garde loswerden. Blitzschnell, nach dem vierten Akt, brachte ich ihn nach Eretz Israel, ihn und seine gute Frau, die mal Desdemona hieß, und heute – Frau Dina bat Mina, lang soll sie leben.
Im fünften Akt, liebes Tagebuch, befindet sich unser Paar auf einem Hügel in einer Siedlung im Westjordanland. Und wer kommt plötzlich gen Abend, am Schluss des Stückes? – Hugo, vormals Jago, Hugo Kohn, zuvor linker Journalist aus Argentinien, der wegen der antisemitischen Verfolgung ein brennender Zionist geworden ist, ist zur Religion zurückgekehrt, und gelangt zur neuen Siedlung gegenüber von Dschenin mit seiner Frau – ehemals Emilia – jetzt Malka. Und so stehen die vier am Ende des Stückes da: Reb Ottl, Dina bat Mina, Hugo und Malka, die Lenden verbunden mit sterilen Bandagen und aus dem Mund strömen Psalmen. Die Bühne ist leer von Türken.
Liebes Tagebuch, das wär’s für heut. Morgen muss ich ran an ein Stück über einen dänischen Prinzen, mit Vatermord, Rachelust und was auch immer. Ich denke, auch in diesem Fall lohnt es sich, zuerst einmal die Eier abzuschneiden und alles zu beruhigen. Der Rest kommt dann von selbst. Die Gebiete lechzen nach Siedlern! Gute Nacht, liebes Tagebuch.
Levin wurde nicht nur von Staats wegen zensuriert. Auf Levins Kosten geht auch der größte „Erfolg“, den jemand im israelischen Theater im Bereich Zensur von Seiten des Publikums schaffte: Der satirische Abend „Die Königin einer Badewanne“ wurde vom Publikum mit Gewalt von der Bühne verbannt. Einer der Höhepunkte dieses Abends war folgendes Lied:
Mein lieber Vater, wenn Du auf meinem Grab stehen wirst
Mein lieber Vater, wenn Du auf meinem Grab stehen wirst,
alt, müd und sehr einsam,
und wenn du sehen wirst, wie man meinen Körper in die Grube senkt,
und wenn du dann über mir stehen wirst, mein Vater,
dann steh nicht so stolz da,
und hebe nicht deine Stirn, mein Vater,
wir sind jetzt nur noch Fleisch über Fleisch,
und jetzt ist es Zeit zum Weinen.
Lass deine Augen weinen über meinen Augen,
und schweige nicht um meiner Würde willen,
etwas, was wichtiger war als Würde,
liegt jetzt zu deinen Füßen, mein Vater,
und sage nicht, Du hättest ein Opfer erbracht,
denn wer geopfert hat, war ich,
und spreche nicht mit hohen Worten,
denn ich liege jetzt schon sehr niedrig, mein Vater.
Mein lieber Vater, wenn Du auf meinem Grab stehen wirst
alt, müd und sehr einsam,
und wenn du sehen wirst, wie man meinen Körper in die Grube senkt,
dann bitte mich um Verzeihung, mein Vater.
Vor allem die letzte Zeile hat das Publikum wütend gemacht. Das war vor fünfzig Jahren.
Der Titel „Die Königin einer Badewanne“ wird übrigens von fast allen verfälscht als „Die Königin der Badewanne“ zitiert. Das scheint nicht sehr wichtig zu sein, aber bei Hanoch Levin, diesem einmaligen und einzigartigen Dichter, ist jeder Buchstabe wichtig, und im Hebräischen ist das ein Unterschied von einem einzelnen Buchstaben. Der Unterschied zwischen den beiden Versionen liegt in der Wichtigkeit der Badewanne. Dadurch, dass Levin schreibt „Die Königin einer Badewanne“, macht er schon im Titel die Badewanne zu einem Witz.
Hanoch Levins Poetik ist ein Thema, das selbst zwei Regale von Büchern füllt. Ich habe mit Udi Rothschild, einem jungen israelischen Schauspieler gesprochen, der in einer neuen Inszenierung von „Krum“ die Hauptrolle gespielt hat.
Uri: Inwiefern ist es anders, einen Text von Hanoch Levin zu spielen, als jeden andern Text?
Udi: Seine Texte haben etwas, das so angenehm im Mund sitzt und „kaubar“ ist, wie ich es bisher nur mit Texten von Nissim Aloni verspürt habe und mit keinem übersetzten Text.
Uri: Auf der Skala zwischen lokal (israelisch, vielleicht sogar das Quartier Nawe Scha’anan in Tel-Aviv) und universal – wo ist „Krum“?
Udi: Wie jede wirklich große Kunst, gleichzeitig ganz an beiden Enden.
Uri: Hätte Hanoch Levin gemocht, was ihr gemacht habt?
Udi: hmm.. schwierig zu sagen… ich glaube nicht, aber es ist mir egal. (lacht)
Ende des ersten Teils. Hier der Link zum zweiten Teil.
Hannoch Levin Reihe:
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Die Photos in dieser Serie sind von Pesi Girsch. Pesi Girsch wurde nach dem Krieg in München geboren, als Tochter von Holocaustüberlebenden. Als 14-jährige kam sie nach Israel. Sie studierte in Israel und Deutschland und lebte außerdem in Afrika. Als Künstlerin hat sie Dutzende von Ausstellungen gemacht und Preise gewonnen und sagte mir, sie gebe mir gerne Photos für unsere kleine Serie. Über sie gibt es überhaupt keinen Wikipedia-Artikel auf deutsch, nicht einmal so einen Erbärmlichen, wie den, der Hanoch Levin erhalten hat.
Es scheint auch so, dass es leider keine Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche gibt.
Nicht ganz. Am Sonntag kommt zweiter Teil, und eine Woche später dritter Teil. Dann weißt Du mehr!
Hanoch Levin’s Texte nerven. Er wollte provozieren, um seine Leser/Zuhörer aus ihrem Schlaf der Gerechten aufzuwecken. Die Geweckten ärgern sich zwar, aber vielleicht ist die Provokation dennoch gerechtfertigt, denn der Schlaf der Gerechten ist sooo bequem. Nur wenige erwachen aus eigener Kraft.
[…] Ende des zweiten Teils. Wer den ersten Teil nachlesen möchte, bitte auf diesen Link klicken. […]
was schreibt ein österreicher, der so keine ahnung von hanoch levins texten hat, ihn überhaupt nicht kennt, auf den artikel von uri und die recherche im netz angewiesen ist, zu etwas, bei dem er sich als nachkomme der „täter“ doch nur in die nesseln setzen kann? als erstes kamen wir eigenartigerweise namen wie thomas bernhard, claus peymann, fassbinder, dürrenmatt oder dario fo ein. alle eint das schicksal levins, beim versuch, den verklärten blick aufs eigene land (seis politik oder gesellschaft, was sowieso nicht auseinanderzuhalten ist) aufhellen zu wollen, die schärfste kritik als „nestbeschmutzer“ einstecken zu müssen. die „königin einer badewanne“ hat wohl dasselbe schicksal ereilt wie einst „heldenplatz“ von thomas bernhard. ich selbst halte mich zurück bei jeglicher israel-kritik, seit ich wegen dieser kritik (an der politik, nicht an juden, nicht an israelis, nicht an irgendwas, was mit religion usw. zu tun hat) als antisemit beschimpft wurde. meine neugier ist jedenfalls geweckt und ich werde mich sicher mit seinem werk befassen. ob seine art theater, seine inhalte, heute bei uns auf der bühne „spielbar“ (auch im sinne von „findet es publikum“) ist, kann ich nicht beurteilen.
Ich glaube nicht, dass wir vor jedem, der mit der Antisemitismuskeule schwingt, davonrennen müssen.
[…] Levin Reihe:Teil 1Teil 2Teil […]
[…] Leben – was für eine Arbeit” – Stück von Hanoch Levin, aus […]