Heute, zum 10. Jahrestag der ägyptischen Revolution, wieder einmal eine Geschichte von mir, die ich vor Jahren geschrieben und jetzt für Re:Levant übersetzt habe.
An der Grenze
von Uri Shani
Übersetzung : Uri Shani
Mehr als ein Jahr war verstrichen, seit ich Ragi das letzte Mal gesehen hatte. Ich sagte mir immer: Was für ein seltsamer Name! Ich wusste natürlich, dass das nicht sein „bürgerlicher“ Name ist, aber es machte mich schon neugierig zu wissen, woher dieser Spitzname kam. Und immer sagte ich mir: Das nächste Mal frage ich ihn. Aber auch dieses Mal kam es nicht dazu, und natürlich nicht nach der Geschichte, die er mir erzählte.
Ragi ist ein ehemaliger Schüler, von der Zeit, als ich noch in der Mittelschule unterrichtete. Von allem, was ich diesen Jugendlichen beibrachte, war er vor allem vom RAP über das Ehepaar Macbeth aus Scotland der Reduced Shakespeare Company begeistert. Nicht weiter erstaunlich, er war ja selber ein Clown, nicht weniger hyperaktiv als diese drei Spaßvögel, die das ganze Werk von Shakespeare auf eineinhalb Stunden verkürzten.
Ich traf ihn zufällig an der Bushaltestelle und brauchte einige Zeit, um mich zu fassen. Es war wie eine Erscheinung, ein Spuk: Dieser Spaßvogel erschien vor mir plötzlich in Soldatenuniform, mit kurzgeschnittenem Haar, erloschenem Blick und kraftlosem Körper, trotz der Begeisterung, die er demonstrierte, als er mich sah. Ich weiß nicht mehr, wer wen zuerst sah. Ich hatte mich nicht sonderlich verändert, aber irgendwie blieb mir das merkwürdige Gefühl, dass er mir ausweichen wollte. Und das konnte ja nicht sein, denn er mochte mich ja, und es war auch klar, während unseres Gesprächs, dass sich das nicht geändert hatte.
Wir trafen uns zwar an der Bushaltestelle, und es hätte nach drei Minuten enden können, wie jener RAP, aber er sagte bald: „Das Schicksal hat uns zusammengeführt, ich gebe nach. Wenn du Zeit hast…“ Ich sagte zu, obschon ich eigentlich den Bus nach Tel-Aviv nehmen wollte, der gerade kam und erst in einer Stunde wiederkommen würde, und so lud ich ihn ein, sich mit mir auf den Rasen zu setzen.
Wir zündeten Zigaretten an. Er erzählte zunächst zögernd und stockend, dass die Rekrutenschule eine schwere Zeit gewesen wäre, und dann sagte er plötzlich:
„Die Wahrheit ist, dass ich nicht weitersprechen kann, wenn ich dir nicht alles erzähle. Das geht einfach nicht, du wirst sofort daraufkommen.“
Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch, aber ich ließ ihn weitererzählen.
„Tja, also nach der Rekrutenschule wurde ich an die Grenze mit Ägypten geschickt, wir waren für den Abschnitt zwischen Nizzana und Kerem Schalom verantwortlich – „
Er prüfte die ganze Zeit meine Reaktion. „Ich hatte es nicht leicht in der Wüste. Ich kannte sie nicht, davor. Überhaupt nicht.“ – „Ich liebe die Wüste.“ – „Ja, ich weiss. Es gibt solche, die lieben sie, ich konnte bis zum Schluss nicht verstehen warum. Die Stille machte mich wahnsinnig.“ Ich lachte: „Ja, das kann ich mir gut vorstellen.“ Er lachte nicht.
„Und die anderen Soldaten waren eine komische Mischung. Jeder war etwas ganz Anderes, aber es gab niemanden, mit dem ich wirklich sprechen konnte. Na gut – man machte Witze, aber nicht mehr als das. Und die Arbeit war ja trotzdem etwas, worüber du manchmal sprechen wolltest.“ – „Was war ‚die Arbeit‘?“ Und ich betonte die Anführungszeichen in meiner Frage mit beiden Händen. „Na ja, du weißt ja“ – jetzt lächelte er ein wenig – „die Grenze bewachen. Drogen, Frauen, Fl…“ Er stockte. „Flüchtlinge.“ – „Ja. Auch Flüchtlinge. Aber die meisten waren Frauen- und Drogenhändler. Keine angenehme Arbeit. Aber zumindest im Fall vom Frauenschmuggel wusste ich, dass ich etwas Richtiges und Wichtiges mache.“ – „Und im Fall von Drogen?“ – „Na ja, das kommt drauf an. Ich rauche ja selber das Zeug. Aber auch im Fall von Marihuana, denke ich, sollte das legalisiert werden und nicht geschmuggelt.“ – „Und im Fall…“ – „Hör mal, ich sagte dir: Ich muss dir etwas erzählen. Die Schichten waren in Paaren, immer zwei. Es gab dort zwar niemanden, der wirklich ein Freund war, aber es gab doch solche, mit denen ich besser zurechtkam. Es gab mindestens zwei, glaube ich, die mit den Drogenhändlern einen Deal hatten. Ich weiß es nicht genau, aber ich habe so das Gefühl. Mit denen machte ich lieber keine Schicht. In jener Nacht, von der ich dir erzählen muss, das war eine sehr spannungsgeladene Woche. In Ägypten war die Revolution im Gange. Schon zwei Wochen lang gab es heftige Demonstrationen, und an jenem Tag wurde in den Nachrichten gesagt, dass Mubarak zurückgetreten ist. Wir wussten nicht, wie sich das auf die Grenze auswirken würde. Es war anfangs Februar, die Nächte waren eiskalt. Man teilte mich in die Schicht mit einem der beiden Dealer ein, einer von denen, die wahrscheinlich dafür bezahlt wurden, dass man die Drogenhändler hindurchlasse. Moshe. Er schielte, auf ganz lustige Weise, na ja, wir hatten wirklich komische Käuze dort. Es gab einen – „
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, und ich sah wieder den Ragi, den ich gekannt hatte.
„Es gab da einen, einen Neueinwanderer aus Schottland. Wusstest du, dass es Juden gibt in Schottland? Der spricht so irre lustig! Kannst du dich an den RAP dieser Komödianten erinnern, die ‚Macbeth‘ in drei Minuten gemacht haben?“ – „Klar erinnere ich mich.“
„Na ja, kurz, es war wirklich eine schreckliche Nacht. Dieser Moshe ging mir auf die Nerven, die Wüste ging mir auf die Nerven, ich war müde… Moshe ging pissen. Und genau in diesem Moment sah ich euch.“ – „Uns?“ – „Na ja, ich wusste, dass du es nicht zugeben würdest. Ich sah vier Menschen die Grenze überqueren, drei schwarze Männer und dich.“
Es war ein Moment lang still.
„Ich war nicht wirklich erstaunt. Ich wusste, dass du allerlei machst. Ich wusste, dass du politisch aktiv bist, dass du in Ägypten gelebt hast, und eigentlich war es ja logisch, dass du Flüchtlingen hilfst, die Grenze zu überqueren. Und wie wusste ich, dass es Flüchtlinge waren? Wie wusste ich, dass du nicht Drogen schmuggelst, oder dass du nicht zu einem Hamasterroristen geworden bist? Wenn du dort bist, dann lernst du zu unterscheiden. Ein Flüchtling ist kein Drogendealer, das ist eine andere Redeweise, ein anderer Gang, jeder Muskel und jede Silbe sind anders.“
Wieder eine Pause.
„Was sollte ich tun? Moshe war noch nicht zurück, und ihr kamt schnell näher. Ich musste sofort entscheiden. Flüchtlinge – das ist eine andere Geschichte. Ich weiß, was man mit ihnen tut. Was mit ihnen in Israel geschieht, was man mit ihnen in Ägypten macht. Ich war in einer ungeheuren Spannung. Das lähmte mich. Und bevor ich meine Gedanken ordnen konnte, wart ihr schon weg, und Moshe kam zurück.“
Ich sagte noch immer nichts.
„Ich weiß, was du denkst: ‚Warum erzählt er mir das? Jetzt weiß er es, und er kann mich ausliefern.‘ Ich dachte daran, an der Bushaltestelle, als wir uns vor einigen Minuten trafen, und auf dem Weg hierher, zum Rasen, und ich verstand, dass auch du mich ausliefern kannst. Also nahm ich das Risiko.“
„Du musst dir wegen mir keine Sorgen machen, Ragi! Ich bedanke mich sehr dafür, dass du es mir erzählt hast. Und was machst du jetzt?“
„Ich habe es dort nicht ausgehalten. Diese Nacht bin ich so ziemlich zusammengebrochen, man hat mich woandershin geschickt. Ich bin froh, ist das vorüber. Machst du das immer noch?“
Ich lächelte und antwortete nicht. Ich sah, wie er lebendig wurde, wie die schreckliche Schwäche, die ich gesehen hatte, einer Lebensgier Platz machte, die ich bei ihm immer gekannt hatte. Wir standen auf, er war ganz gelassen, und, so schien mir, sogar ein wenig fröhlich. Wir trennten uns, und ich nahm meinen Bus.
Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich noch nie Flüchtlinge aus Ägypten nach Israel hineingeschmuggelt habe?
Uri Shani, November 2013
Sehr schoene Geschichte – wo es am Ende nach Brecht heisst:
Wir stehen da und sind betroffen –
Der Vorhang zu und alle Fragen offen!
Danke!
Gut geschrieben, sehr berührend!
Danke!
Lieber Uri, Danke
Es bestätigt sich wieder einmal eine alte Regel: die besten Übersetzungen stammen von Autoren! Bravo, Uri!