Maissoon Assadi, palästinensische Schriftstellerin, 1963 in Dir-al-Assad geboren, wohnt in Haifa. Sie hat drei Romane, sechs Geschichtenbände, und 45 Kinderbücher veröffentlicht. Ein Teil wurde bisher ins Englische und ins Hebräische übersetzt.
Das lebendige Wesen
Kurzgeschichte von Maissoon Assadi
Übersetzung: Uri Shani
„Ich hab’s!“ rief der bekannte Schriftsteller seinem Freund, dem Dichter, zu.
Der Dichter fragte: „Eine neue Geschichte?“
„Nein… der Balkon, auf dem ich meine Geschichten schreiben werde.“
„Was für ein Balkon?“
***
Morgens, nachdem die Männer zur Arbeit und die Kinder in die Schule gegangen waren, war es wieder still im Wohnquartier, und der Schriftsteller saß auf seinem Balkon, alleine vor der Natur, den Stift in der Hand und vor sich ein Stapel weißes, leeres Papier. Er sagte sich: „Was ist los?! Ich sitze schon seit einiger Zeit vor der schönsten Natur, unter klarem Himmel, im Meer zerschlagen sich die Wellen, wie wenn sie eine großartige Symphonie spielten, die Natur ist herrlich und gelassen, warum also offenbart sie mir keine Idee?“ Er ging zum Telephon und rief seinen Freund, den Dichter, an:
„Mein Freund, es kommt mir keine Idee, ich habe schon drei Monate lang kein Wort geschrieben, mein neuer Balkon hilft mir nicht, auch nicht die malerische Natur, warum fühle ich mich so einsam und leide unter Müdigkeit und Langeweile?
„Was willst du von der Natur? Du brauchst Liebe… du brauchst diese …
„Worüber sprichst Du? Liebe?“
„Stell dir vor, du hättest jetzt eine Geliebte, sie hielte dir die Hand, säße mit dir auf deinem neuen Balkon, blickte dir in die Augen, und du fühltest ihre Leidenschaft, und nicht nur deine eigene, du würdest sie liebkosen und küssen, würdest du dann die Natur überhaupt wahrnehmen?“
„Natürlich nicht.“
„Egal wie du an die Tür der Natur klopfst, sie wird dir nicht antworten, denn sie spricht nicht…das lebendige Wesen antwortet, und zwar meistens das weibliche Wesen… spende deinem Herzen eine Geliebte… das ist es, was du brauchst.“
Das Gespräch war zu Ende. Der Schriftsteller dachte über des Dichters Worte nach und sagte zu sich: „Mein Freund holt sich seine Gedanken aus den Büchern, aber er hat recht… aber wo soll ich die Liebe finden? Nach dem Tod meiner Frau ließ ich ab von den Frauen und versank hilflos in den Büchern, die ich las.“
Eines Morgens wandte er seinen Blick von seinem Balkon aus gen Osten, eine Seite, auf die er bisher nicht geschaut hatte, weil der Blick dort von der „chinesischen Mauer“ versperrt war: ein vierstöckiges Gebäude, auf einem großen Grundstück gebaut, das den Blick auf die Landschaft versperrte… er betrachtete die Fenster der Wohnungen, und ohne es zu beschließen, nahm er den Stift in die Hand und begann zu schreiben:
Das erste Fenster
Eine vierzigjährige Frau lehnte aus dem Fenster, nur ihr Oberkörper war sichtbar, üppig, weißhäutig, die Hälfte ihres Haares rot gefärbt, die andere schwarz, und hängte Wäsche auf. Es war klar, sie war eine elegante Dame von Rang und Namen, ihre Kleidung von den besten Marken der Welt, und sie roch nach Waschmittel… Als sie den Schriftsteller bemerkte, lächelte sie ihn mit einem breiten Lächeln an, dieser zündete sich eine Zigarette an, lächelte zurück und sagte zu sich: „Wenn das nur meine Geliebte wäre, ich würde ihre Wäsche hängen. Ich würde sie auf meinen Händen tragen, diese üppigen weißen Arme brauchen jemand wie mich, der sich um sie kümmert… Großer Gott, was diese reizende Natur geschaffen hat! Ah, wenn ich diese Lippen küsste und meinen Durst stillen würde… wenn ich nur mit ihr sein könnte, und danach sterben.“
Das zweite Fenster
Die Frau aus dem ersten Fenster verschwand, also schaute er auf das nächste. Es erschien eine feine Dame in den Dreißigern, weißhäutig und blond, mit traurigem Gesichtsauszug und langsamen Bewegungen, auch nicht zu schlank, mit Kleidern, die Vorzüge hervorhuben, was den Blick anzieht und die Gefühle entfacht. Viel Fleisch an Bauch und Taille verstärkten noch die Versuchung. Die meisten Kleider, die sie aufhängte, waren Kinderkleider, in verschiedenen Farben, die weißen nicht wirklich weiß, und auch die anderen Kleider konnten sich ihrer ursprünglichen Farbe nicht mehr entsinnen. Ihre Kleider waren willkürlich auf dem Wäscheseil verteilt. Und immer, wenn sie sich vorneigte, um etwas aufzuhängen, hüpfte ihre Brust und mit ihr das Herz des Schriftstellers, der hoffte, sie werde ihre Beschäftigung nie beenden, damit er seine Augen mit ihrem Anblick erfüllen könne. Er starrte sie an, ohne sich zu schämen, nahm ihre traurigen Blicke wahr, zündete sich eine Zigarette nach der andern an und sagte sich: „Ahh.. Wenn ich doch nur für immer auf Deiner Brust ruhen könnte…ahh…wenn du meine Geliebte wärest, wäre ich neidisch auf die Luft, die dich berührt, ich werde dein Haus putzen, dein Essen zubereiten, und deine Füße im Whirlpool liebkosen und jeden Zentimeter deines Körpers abtasten… biete dich mir dar, du wirst nicht mehr traurig sein, ich bin der Arzt, der deine Kopfschmerzen und deine Sorgen und dein Übergewicht und deine Schlafstörungen heilen wird….“
Das dritte Fenster
Als er noch von seinem Nickerchen auf der Brust der zweiten Fensterdame träumte, hörte er ein Geräusch am Eisengitter des Fensters ganz in der Nähe seines Balkons. Er wandte sich einer spindeldürren Frau zu, die nicht weiß und nicht braun war und ihr Fenster kräftig und mit viel Lärm öffnete. Sie zog die eisernen Wäscheleinen gereizt zu sich, und was sie darauf hängte, war so zerknüllt, dass es nicht wirklich gewaschen war und von der Sonne nicht getrocknet würde. Sie lächelte den Schriftsteller mit einem breiten Lächeln an und schrie dann sofort ihre Kinder hinter sich an, mit einer mächtigen Stimme, die nicht zu ihrem mageren Körper passte. Der Schriftsteller fragte sich, was sich wohl hinter diesem künstlichen Lächeln verbarg, hinter den fragenden Augen und den knirschenden Zähnen. Er schloss halb sein linkes Auge und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, tief davon überzeugt, dass diese Frau ihn benötigte, dann murmelte er: „Wenn ich ihr Geliebter wäre, würde ich mich über ihre Freude freuen und über ihre Trauer trauern. Ich würde sie ohne Ende lieben, mich für sie opfern, ohne mich zu beschweren, ich würde ihre Gefühle mit keinem Wort verletzen, sie leidet ja schon genug, ich würde sie so lieben, dass sie ihre Hausarbeiten vergessen würde, und mit ihr Sex machen, der sie befreien würde… Sie würde auf meinen Knien sitzen und ihren Kopf auf meine Brust legen, und ich würde sie von Kopf bis Fuß abküssen… Ah… was für eine schrecklich vergeudete Zeit, drei Monate sitze ich schon auf diesem Balkon, und ich habe diese Schönheit nicht gesehen, wenn ich nur hingesehen hätte!“
Das vierte Fenster
Plötzlich roch der Schriftsteller den Geruch einer teuren Zigarette, er schaute sich um, woher dieser Geruch kam und fand eine schöne Brünette, die in der rechten Hand ein Glas Orangensaft und in der linken eine Zigarette hielt und die Passanten betrachtete, und er rief ihr zu, ohne es laut auszusprechen: „He, du Schöne, schau zu mir rüber, ich bin hier auf dem Balkon. Lass die Passanten! Ich will meinen Blick an deinem Angesicht weiden!“ Sie wandte sich ihm zu, und wie wenn sie ihn gehört hätte, lächelte sie nicht, blickte ihn nur lange an, wie wenn sie in einem Laden ausgestellte Ware betrachtete. Sie war ohne Zweifel eine starke Frau mit klaren Meinungen, mit einem Auftreten, das Vertrauen und Selbstwert ausstrahlt, und jede ihrer Bewegungen hat eine Bedeutung und grenzenlose Dynamik. Sie machte einen erheblichen Einfluss auf seine Gefühle.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er sie weiterhin anblicken oder den Blick abwenden? Sie starrte ihn immer noch direkt mit diesem überheblichen Blick an. Er wählte die erste Option und starrte sie auch mit so einem Blick an, diese aber wandte gemächlich ihren Blick wieder der Straße zu, wohin sie vorhin geschaut hatte. Er fragte sich: „Was bedeutet das? Gefalle ich ihr nicht? Bin ich etwa so hässlich, oder vielleicht bin zu alt für sie? Komm schon, Süsse, komm her, schalte und walte über mich, wie Du willst, zerstampfe mich, sei nah bei mir, befühle mich mit deinen dünnen Fingern, komm auf meinen Balkon, dann können wir zusammen rauchen und Orangensaft trinken, lass mich deine Orange schmecken und alles an dir schmecken! Ich weiß, dass Du unsereins nicht brauchst, aber unsereins braucht dich, braucht Liebe, wo bist du, Liebe? Wo bist du?“
Er schloss seine Augen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, damit keiner die Träne sehe, die aus seinem Auge trat, und plötzlich stand er auf und sagte laut: „Guten Morgen!“
Die Brünette wandte sich ihm zu und sagte: „Auch Ihnen einen sehr schönen Morgen!“
Sein Atem stockte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte ja nicht erwartet, dass sie so freundlich antworten würde, und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er sie einlüde, mit ihm Orangensaft zu trinken, aber sie unterbrach seine Gedanken: „Kommen Sie, besuchen Sie uns, Herr Nachbar!“ Und wieder errötete er und wusste nicht, was er sagen sollte. Sollte er ihre Einladung annehmen, ohne zu wissen, was sich dort verbarg? Schließlich sagte er: „Nein danke, ich verlasse nicht gerne meinen Balkon. Danke auf jeden Fall…“
Seine Gedanken wanderten in andere Gefilde, als er ein Klopfen an seiner Haustür hörte. Er öffnete, und da stand die Brünette, mit einer Kanne Orangensaft in einer Hand, mit ihrer molligen und beruhigenden Gestalt, und sagte: „Ich bin gekommen, um mit Ihnen auf Ihrem Balkon zu sitzen.“
Sie zögerte einen Moment, da er nicht antwortete, und fragte:
„Wollen Sie nicht, dass ich eintrete?“
„Ah… doch… bitte…im Gegenteil…“
Er nahm ihr das Glas Orangensaft aus der Hand, und sie betraten die Terrasse, dann goss er zitternd Saft in zwei Gläser und nippte ein wenig, und bevor er etwas sagen konnte, hörte er eine weibliche Stimme:
„He, Junge, komm her, bring mir Zigaretten vom Laden an der Ecke!“
Er blickte sich um, woher die Stimme kam, und sah die Brünette immer noch in ihrem Fenster, mit einem Glas Orangensaft in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, die Passanten betrachtend.