Dr. Ronit Liebermensch Vardi hat ihren Doktor in Geschlechterforschung an der Universität Bar-Ilan gemacht und ist Dichterin, Schriftstellerin und Lektorin. Der folgende Auszug ist aus dem Buch „Defekt“, das im Jahr 2005 im Pardess-Verlag erschienen ist.
Liebermensch-Vardi untersucht in „Defekt“ das soziale Kontrollsystem, das bei den Frauen, die nicht ihre „biologische Natur“ befolgen und sich weigern, im automatischen Fortpflanzungsprozess, so wie er in Israel üblich ist, mitzumachen, Schuldgefühle auslösen soll, und prüft, welche Sanktionen auf die Verweigerinnen auferlegt werden.
Die Autorin gerät in einen Kampf (den sie gewinnt) um die Erhaltung ihrer Gebärmutter, nachdem sie sechzehn Monate lang einen Arzt gesucht hat, der das Myom entfernen soll, ohne ihre Gebärmutter zu entfernen. Dabei beschäftigt sich „Defekt“ auch mit der Auseinandersetzung einer alleinstehenden Frau mit den erdrückenden Versuchen der medizinischen Behörden, ihr das Entscheidungsrecht zu entziehen und stellt Fragen über das Wesen von Weiblichkeit, Geburt, Partnerschaft, Mutterschaft und vom Altern.
Defekt
von: Ronit Liebermensch
Übersetzung: Uri Shani
…
„Schalom“, sagte eine tiefe Baritonstimme. Ein etwa sechzigjähriger Mann in grüner Operationssaalkleidung und grauem Haar saß hinter einem riesigen schwarzen Tisch. Vor dem Tisch stand in einer beträchtlichen Entfernung von etwa drei Metern von ihm ein blauer Stuhl. Hinter dem blauen Stuhl saß ein halbes Dutzend vermummte Ärzte. Sie trugen grüne Operationsmasken, und als ich sie ansah, sah ich keine Gesichter. Ich sah nur eine einheitliche Masse von Operationsuniformen und blaue, graue und braune Augen, die mich durch die Masken betrachteten.
„Setzen Sie sich, bitte“, befahl der Bariton und zeigte auf den blauen Stuhl.
Ich tat wie befohlen, und er begann, meine Personalien vom ärztlichen Formular vorzulesen, wie sie vom Gynäkologen aufgeschrieben wurden, der mich vorher untersucht hatte. Name, Name des Vaters, Alter, Zivilstand… Ich nutzte eine kurze Pause und unterbrach ihn:
„Und wer sind Sie?“
„Ich?“ Er schaute mich verwundert an. „Ich bin der Professor, Chefarzt der gynäkologischen Abteilung im Krankenhaus.“ Bariton. Autorität. Die Art, wie die Stühle im Zimmer angeordnet waren. Alles deutete darauf hin, dass die weinende Russin, die vor ein paar Minuten aus diesem Zimmer gekommen war, ihn gemeint hatte. Er ist Gott. Er und kein anderer. Ich lächelte. Und während ich noch lächelte, schleuderte mir der Gott in Grün die Feststellung entgegen:
„Nun, meine Frau. Da ihr Myom r-i-e-s-i-g ist, und da ihre Kinder schon erwachsen sind und sie nicht vorhaben, weiter Kinder zu gebären, empfehle ich eine Total Hysterectomy.“
Er spricht von mir? Das kann nicht sein. Das ist ein schrecklicher Fehler. Dieser Mann in seiner grünen Uniform, der vor mir sitzt, liest ein ärztliches Formular einer anderen Frau. Ich war noch nie schwanger. Ich habe keine Kinder, weder erwachsene noch kleine. Auch hat mich der Unterarzt, der mich vorher untersucht hat, nichts gefragt. Plötzlich verstand ich. Die Sekretärin schrieb mit fetten schwarzen Lettern auf mein Formular: verheiratet. Er beschloss, dass ich Kinder habe, denn das ist „normal“. Ich versuchte zu antworten, aber ich konnte nicht. Die Stimme, die schlussendlich aus meinem Mund kam, war nicht meine Stimme. Ich hörte der fremden Frau zu, die erregt, schnell und wütend sprach.
„Wissen Sie was? Ihre Reaktion erstaunt mich g-a-r nicht. Haben Sie sich überhaupt die Mühe gemacht zu fragen, wozu ich hierher kam? Obschon sie nicht gefragt haben, werde ich es Ihnen sagen. Ich kam, weil ich mir überlegte, vielleicht an der experimentellen Behandlung teilzunehmen, Myome durch Embolisation zu entfernen. Ihre Reaktion erstaunt mich nicht. Was kann eine Frau schon von bornierten männlichen Ärzten erwarten?“
Die fremde Frau, die aus meiner Kehle sprach, leierte ein Manifest herunter. Ich hatte nicht vorgehabt, ihm Aussagen im Stil des „SCUM Manifesto“ der Valerie Solanas an den Kopf zu werfen. Ich hatte instinktiv reagiert, angetrieben von Gefühlen der Beleidigung, der Angst und der Wut, die die Worte dieses selbst ernannten entschlossenen Gottes in seiner grünen Uniform bei mir ausgelöst hatten. Und sofort überspülte mich der Gott mit seinem Gotteszorn.
„Das erstaunt sie g-a-r nicht? Entschuldigen Sie bitte, gnädige F-r-a-u.“ Dramatische Pause. „Kennen wir uns von irgendwoher? Sagen Sie mal, sind wir uns irgendwo begegnet? Nicht dass ich wüsste. Liebe Frau, ich kenne Frauen ihrer Sorte sehr gut. Ich kenne Euch a-u-s-g-e-z-e-i-c-h-n-e-t.“ Noch eine dramatische Pause. „All diese linken Tel-Aviver, die im Dreieck Schenkin-Habima wohnen und denken, dass sie ungemein schlau sind und alles wissen. Ohh, wie gut kenne ich diese Feministinnen. Aber erlauben Sie mir, gnädige Frau, Ihnen mitzuteilen, dass ich zehn von Euch zum Frühstück verspeise. Und jetzt, können wir weitermachen?“
Todesstille legte sich auf den Raum. Das Dutzend Augen hinter mir, die im Halbkreis aufgestellt waren, bohrten einen Krater in meinen Rücken. Gott hatte gesprochen. Nicht ein Engel, nicht ein Gesandter, sondern Gott selbst. Als Reaktion kollerten zwei-drei absolut unfeministische Tränen auf den Wangen der „gnädigen Frau“, und sie sagte dann:
„Sie werfen mir diese Diagnose ohne Vorwarnung entgegen. Ich hatte nur versucht zu erklären, dass ich eigentlich hierhergekommen war, um am Versuch der Entfernung der Myome durch Embolisation teilzunehmen. Ja, ich bin erschüttert. Die Gebärmutter ist symbolisch sehr wichtig, und ich weigere mich, Ihre Diagnose zu akzeptieren.“
Er schaute mich hochmütig an und fuhr weiter.
„Nun, gnädige Frau, auch ich bin mir der symbolischen Bedeutung der Gebärmutter sehr wohl bewusst. Die Sache ist die, liebe Frau, ich befasse mich nämlich mit Medizin, nicht mit Symbolismus. Und es scheint mir, gnädige Frau, dass sie diese Diagnose schon einmal gehört haben. Hat nicht der Arzt, der sie hierhergeschickt hat, eine Entfernung der Gebärmutter empfohlen? Und überhaupt, was wollen sie tun, wenn sich herausstellt, dass ihr Myom krebsartig wurde? Wie reagieren Sie, wenn es gar ein Sarkom ist?“
Wenn – dann, dachte ich. Logikübung für Anfänger. Er wusste selbst, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering war. „Ich habe Forschungen gelesen, worin steht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Myom zu einem Sarkom entwickelt, weniger als 0.0001 Prozent ist“, antwortete ich. Sein Gesichtsausdruck wurde furchterregend.
„Wirklich? Und was machen Sie, wenn sich herausstellt, dass Sie zu diesen Null punkt null null null ein Prozent gehören? Die Zahlen, die sie zitieren, sind richtig, aber wenn es ein Krebs ist, werden Sie zu hundert Prozent, und dann ist Ihre Statistik irrelevant. Nicht wahr, gnädige Frau? Ich erkläre wieder: Sie müssen schnellstens eine Operation zur Totalausräumung ihrer Gebärmutter machen. Es ist eine Frage von Leben und Tod.“
Ich starrte ihn an. Da ich nicht laut weinen wollte, schwieg ich. Er betrachtete mich, sich sehr wohl der vermummten Gesichter hinter mir bewusst.
„Wenn gnädige Frau die Operation in unserer Institution machen möchte, werden wir dafür sorgen, dass die Dame n-i-c-h-t in der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung oder in der Abteilung für plastische Chirurgie hospitalisiert werden wird, sondern in der gynäkologischen.“ Nachdem der Löwe gebrüllt hatte, lehnte er sich zufrieden auf seinem Sessel zurück. Seinerseits war die lange und überflüssige Debatte in meiner Angelegenheit beendet. Die vermummten Kollegen hinter mir ließen keinen Laut von sich hören.
„Auf Wiedersehen, meine Dame“, sagte er mit einer Geste in Richtung Tür und winkte die Krankenschwester heran.
„Total Hysterectomy“ – hörte ich, wie er der Krankenschwester mein Todesurteil diktierte. Sie drehte sich um und führte mich hinaus zum Krankenzimmer, wo eine blonde und unermüdliche Krankenschwester saß, die irgendetwas in den Computer tippte.
„Hoho, wie die ihn angeschnauzt hat!“ erzählte die Krankenschwester der blonden. „Aber er hat es nicht auf sich sitzen lassen. Sie kennen ihn ja. Er hat ihr gehörig das Maul gewaschen.“ Dann schaute sie mich an. „Macht nichts, Süße, ist ja nichts geschehen. Er ist es sich nicht gewöhnt, dass man so zu ihm spricht. Komm, wir schauen in den Kalender und machen ein Datum für die Operation aus.“
„Aber ich möchte keine Operation!“ schrie ich und begann zu weinen. Jetzt, nachdem ich aus diesem vermummten Zimmer raus war, erlaubte ich mir, auseinanderzubrechen. Jahrelang hatte ich nicht so geweint. Ein lautes Weinen brach aus mir heraus. Jemand reichte mir ein paar Taschentücher und einen Becher voll Wasser. Als der Nebel sich langsam lichtete, sah ich sie, wie sie Blicke wechselten.
„Süße, warum machst du so eine Sache daraus?“ fragte die Blondine mit einem starken russischen Akzent, und plötzlich verstand ich, dass das die Krankenschwester war, die ich vorhin mit der Frau sah, mit der ich versucht hatte zu sprechen. „Das ist doch nur eine Gebärmutter. Ein Sack. Befreie dich von der Gebärmutter und der monatlichen Blutung, und du wirst sehen, dass du dich bei uns bedanken wirst. Was brauchst du diese Plage? Na wirklich, sei nicht so kindisch.“
„Das ist meine Gebärmutter, und ich bin nicht kindisch! Es gibt keinen Grund, die Gebärmutter wegen eines Myoms zu entfernen!“ Meine Stimme stieg eine Oktave. Als Reaktion wurde der Blick der Blonden eiskalt. „Sag mal, du bist eine Artistin, stimmts? Film? Nein? Malerin? Du bist eine Artistin, das sieht man sofort. Du hast eine Menge Emotionen. Massive Emotionen. Du machst umsonst eine große Sache daraus. Glaub mir, das ist nichts.“
Die Artistin stand auf und warf das feuchte Taschentuch in den Papierkorb, aber die beiden versperrten mir den Weg und bestanden darauf, mir einen Termin zur Operation zu geben. „Du weißt doch, dass man mit dem Krebs nicht spaßen darf“, sagte die Eiskalte. Ich protestierte, dass ich gar keinen Krebs habe, aber sie ignorierten das. Und dann fragte ich, was denn geschähe, wenn ich wirklich zur Operation käme. Ob ich den Arzt wählen könne, der mich operiert? Zum Beispiel den, der mich untersucht hatte?
„Der Arzt, der dich untersucht hat, ist ein Oberarzt“, sagte die Dunkelhaarige und sagte seinen Namen. „Das hier ist ein öffentliches Krankenhaus, Schätzchen.“ – „Und in einem öffentlichen operieren n-u-r Assistenzärzte unter Anleitung eines Oberarztes“, ergänzte sie die Blondine. „Wegen des Gesetzes von wegen Rechte des Patienten müssen wir dir die Wahrheit sagen.“
Ein Assistenzarzt. Wie der Assistenzarzt, der vor ein paar Jahren, im selben Krankenhaus, meinem Vater während eines schiefgelaufenen Kathetereingriffes die Arterie angeschnitten hat, und deswegen musste er eine zusätzliche Operation mit Vollnarkose machen.
„Wenn du es privat machst, Schätzchen, das ist nicht bei uns. Geh zu Assuta. Dort kannst du dir einen privaten Arzt auswählen.“ Die Blonde spuckte die Worte ‚Assuta‘ und ‚privat‘ herablassend aus. Ich zuckte mit den Schultern und ging, zusammen mit meiner Schwester, die im Vorzimmer gewartet hatte. Wir warteten nicht auf den Aufzug. Wir gingen schnell die Treppen runter und wegen der übereilten Flucht ließ ich auch die Ultrasound-Abbildungen, die ich mitgebracht hatte, im Büro zurück .
Die Gebaermutter als Schlachtfeld – sehr interessant! Nebenbei – hat Liebermensch Kinder?