Tali Okavi, Schiftstellerin und Dichterin, ist 1970 in Afula geboren. Sie hat in Israel und in der Schweiz Kunst studiert. Seit 1999 lebt sie in Kiel, schreibt aber weiterhin auf Hebräisch. „Streifen“ (2017, Bella-Luna-Verlag) ist ihr zweites Buch, und „Silvester“ ist Teil dieses Buches. Der Ort, der alle Figuren im Buch miteinander verbindet, ist die norddeutsche Insel Sylt. Diese steht symbolisch sowohl für die Isoliertheit der Protagonisten als auch für den materialistischen Aufstieg der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Silvester / Tali Okavi
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
Silvester habe ich noch nie gemocht. Punkt Mitternacht beginnt dieser Wahnsinn mit dem Feuerwerk und Herumgeknalle, was mich eher an Krieg als an Freude erinnerte. Und abgesehen davon: Was ist eigentlich so besonders am Jahreswechsel? Ähnlich wie beim Fotografieren, wo man wertvolle Augenblicke einzufrieren und zu verewigen versucht, erstickt Silvester das Jahr, tötet es im Augenblick seiner Geburt. Darum hatte ich mir fest vorgenommen, noch bevor dieser Irrsinn beginnt, tief zu schlafen. Alle zerschellten Augenblicke zu verschlafen. Zu schlafen. Und das klappte auch gut bis zum dem Tag, als ich sie traf.
Sie liebte Silvester und so kam es, dass ihr wichtigster Tag zu meinem schlimmsten Tag wurde – Familienleben!
Um November herum ging es los. Je weiter der Himmel sich ausdehnte, umso ausgedehnter wurde auch die Erwartung diesem Tag entgegen. Wir vermochten nicht, die Enttäuschung zu bereden, auch die Liebe auszusprechen waren wir nicht fähig, aber das ist eine andere Geschichte.
Sie begann als Erstes über Silvester zu sprechen: mit wem wir feiern und was wir kochen würden, wo und was wir einkaufen sollten. Ich versuchte mir Jahre vorzustellen, die nicht enden oder Jahre, die den kommenden Jahren nachkriechen, ohne dass jemand darauf achtet. Eine Symbiose oder so was in der Art, schließlich findet man das auf anderen Gebieten und niemand rümpft deswegen die Nase.
Mit den Jahren begann Silvester selbst mit uns zu reden. Entwickelte sich zu einer eigenständigen, starken Persönlichkeit, die klar und gediegen ihren Raum einnimmt. Es begann im Sommer mit Sticheleien, in den Herbsttagen mit Zynismus – stand für alle Freunde, die einmal gewesen und nicht mehr waren, die einsamen Abende, an denen wir geschwiegen und nicht verstanden hatten, warum. Jeden Streit, der nicht ausgetragen wurde, sondern jeder heimlich mit sich selbst stritt. Und für das eine Mal, als wir mit ihnen feierten.
Dass wir Silvester gemeinsam verbringen müssten, begriffen wir eigentlich erst, als sie bereits einen Flug zu uns gebucht hatten.
Das hieß, sie würden einige Tage nach dem Fest zurückfliegen. Warum hatten wir nicht vorher daran gedacht? Wie hatten wir, verdammt noch mal, das Datum übersehen können? Wie hatten wir dieses Wissen in uns ersticken können? Was hatten wir zur selben Zeit noch alles erstickt? Warum hattest du das „schlechte Timing“ nicht erkannt, wie du es nachher definieren würdest.
Die Weihnachtstage brachten wir hinter uns, wie wir es immer machten: Wir kauften einen Weihnachtsbaum und schmückten ihn mit allen möglichen Dingen, die dir deine Mutter geschenkt hatte: rote Äpfel aus Metall, Miniaturschlitten aus Holz, Hirsche aus Island, ebenfalls ganz aus Holz, kupferfarbene Ministerne. Jedes Jahr sortiertest du diese ganze stille Dekoration: was kaputt war oder wo die Farbe abblätterte, das warfst du in den Abfall, und was noch gut erhalten war, das poliertest du, damit man sieht, es ist noch gut erhalten. Wir saßen zusammen im Zimmer, jeder mit seinen Sachen beschäftigt: Ich suchte bei youtube nach neuen, avantgardistischen Rockbands und du warst dabei, die Weihnachtsdekoration zu sortieren. Ab und zu versuchte ich, dich für irgendeine Band zu begeistern, worauf du antwortetest: Mach ein bisschen leiser, ich hab Kopfschmerzen.
Dieses Jahr hattest du eine Woche vor Beginn der Weihnachtstage den ganzen alten Karton in den Abfall geworfen. Du wirktest erschreckend entschlossen dabei, geradezu gewalttätig hätte ich gesagt, aber ich sagte nichts, ich bemerkte bloß, etwas in deinem Verhalten war anders, du bewegtest dich plötzlich mit einer nervösen Fieberhaftigkeit, aber das blieb irgendwie verborgen, war kaum fühlbar. Ich dachte, vielleicht bist du nervös wegen dem Besuch meiner Eltern, sie würden zwei Wochen hier bleiben, in unserer Wohnung, bei uns. Du sprichst kein Hebräisch, sie sprechen kein Deutsch. Über all die zusätzlichen Diskrepanzen haben wir nie gesprochen. Niemals haben wir über alles andere gesprochen, das zwischen uns stand. Völlig absurd wollten wir mit dem Kopf durch die Wand. Auch in allem was wir taten, verschlossen wir die Augen und gingen mit dem Kopf durch die Wand. Erst später würden wir die Schläge spüren, die wir bekommen hatten. Du bist mit Sabine zu Ikea gefahren und hast alles neu gekauft. Du bist mit einem Riesenkarton nach Hause gekommen, hast ihn mitten im Zimmer abgesetzt und verkündet: Ich habe bei Ikea neue Weihnachtsdeko gekauft. Sabine war wieder ihrer Weihnachtsobsession verfallen.
Ich habe behauptet, das ist krankhaft. Sabine verhielt sich überhaupt obsessiv und krank, also nicht nur, wie ziemlich viele Leute, was Weihnachten betrifft. Sie liebte es, Dinge übertrieben genau zu planen, das heißt, sie hielt das für Liebe. Mit ihrer verzerrten Logik plante sie auch uns und bastelte sich natürlich auch den Rest ihrer Freunde zurecht, als ob wir ein weiteres Dekorationsstück wären, das man arrangieren, zurechtstutzen, ordnen und an der Stelle präsentieren muss, die uns innerhalb ihrer geometrischen Konstruktion zugedacht war. Die Freunde, die kaputtgegangen waren, warf sie weg. Waren sie vor Weihnachten kaputtgegangen, warf sie sie vor Weihnachten weg.
Ich glaube, wir alle waren Gegenstände in dem Puppenhaus, das sie im Kopf hatte, auch Jürgen, ihr Mann, war natürlich eine weitere Figur – dazu bestimmt, ihre Kaprizen zu verwirklichen.
Du warst geduldig mit Sabine. Du erkanntest ihre Obsession, aber sie erstickte dich nicht darin, riss dich nicht mit hinein in ihren inneren Strudel, zumindest anfangs nicht, danach würden sich die Dinge mit Sabine ändern, ebenso wie sich die Dinge bei uns ändern würden. Erst später würden wir das zu spüren bekommen.
In dem Karton, den du von Ikea mitgeschleppt hattest, waren winzig kleine glitzernde Hirsche mit zwei spitzen Hörnern, kleine Tannenbäumchen, Herzen in allen möglichen Größen – rote und goldene, außerdem Kugeln und verschiedenes goldenes Glitzerzeug. Du hattest grelle Farben ausgesucht, mit den Jahren eine Vorliebe für Kitsch entwickelt und auf Silber verzichtet, weil es eine kalte Farbe ist.
Noch am selben Abend stand der neue Tannenbaum blitz und blank mitten im Zimmer, mit dem ganzen Weihnachtsschmuck und den kleinen Glühbirnchen, die man abends bis zum Schlafengehen brennen lässt.
Er sah irgendwie zugleich tollpatschig, gewalttätig und lächerlich aus – wie ein Raumschiff von einem fernen Planeten, das versehentlich mitten im Zimmer gelandet ist und noch nicht weiß, wie es wieder an seinen richtigen Platz kommt.
Ich habe zu dem Baum oder zu Sabine nichts gesagt. In anderthalb Wochen kamen meine Eltern und ich musste hier für eine normale Atmosphäre sorgen und so tun, als gäbe es weder Wand noch Dickkopf, keine Sabine, kein Ikea und keine Glitzerherzen von Ikea.
Sabine hat uns eingeladen, Silvester mit ihnen zu feiern, sagtest du, nachdem du den Karton mitten im Zimmer abgesetzt hattest.
Carolin, meine Eltern sind hier an Silvester, hast du das vergessen?
Das habe ich natürlich nicht vergessen. Wo genau liegt das Problem? Deine Eltern sind hier und wir sind bei Sabine. Sie feiern sowieso kein Silvester. Glaubst du nicht, sie freuen sich, wenn sie einen Abend allein sind?
Ich will sie nicht allein lassen.
Sie sind schon groß genug, meinst du nicht?
Carolin, es reicht.
Zwei Tage, bevor meine Eltern landen sollten, rief meine Mutter mich an und verkündete, sie kämen nicht. Mein Vater habe einen Herzinfarkt gehabt und läge im Krankenhaus. Sein Zustand sei stabil, aber sie würden natürlich nicht kommen. Der Flug wurde storniert und man kehrte zur gewohnten Umgangsweise zurück. Unsere Beziehung war so, als gäbe es keine pressierenden Flüge aufgrund von verschiedensten dramatischen Vorfällen auf beiden Seiten. Als Carolin zum Beispiel im fünften Monat ihrer Schwangerschaft mein erstes Kind verlor, kamen sie natürlich nicht. Ich berichtete sachlich und knapp am Telefon und sie trösteten umgekehrt am Telefon, wie sie zu trösten gewohnt waren.
Auf beiden Seiten war klar, „deswegen“ würden sie nicht kommen.
Dass ich schon ein winziges Kinderzimmer eingerichtet hatte, davon wussten sie nichts, dass dort schon eine winzige Holzwiege gewartet hatte, dass ich die Wände in Pastellfarben gestrichen und anschließend alles mit eigenen Händen wieder zerstört hatte, davon wussten sie nichts.
Die Wiege, samt der winzige Matratze, die Spielsachen, all meine Träume, die damit zusammenhingen – alles zerstörte ich mit eigenen Händen. Dass ich nach der Fehlgeburt ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen hatte, mit den ganzen Psychopharmaka, die sie mir reindrückten wegen der sogenannten: „klinischen Depression“, davon wussten sie nichts.
„Bei uns ist alles in Ordnung, alles gut, auf Wiedersehen, bis bald“ – ein Satz, den wir wie den Hahn zum Sühneopfer einer über des anderen Kopf schwangen.
Von allen anderen weniger dramatischen Ereignissen aus meinem Privatleben wussten sie gar nichts und von den Verläufen und Entwicklungen ihrer verschiedenen Krankheiten wusste wiederum ich nur ziemlich diffus Bescheid.
In der Tat war es wunderbar, dass wir nicht wirklich aktiv an unseren verschiedenen Leben Anteil nahmen, als wären wir vom lästigen Rollenspiel Eltern versus Sohn entbunden. Die biologische Wand schmolz zusammen, ohne dass dort irgendwelche Fesseln übrigblieben. Kein Halt. Keine Stütze. Ich neige dazu, mir selbst zu erzählen, auch sie sind ganz zufrieden mit der Art und Weise, wie unser Verhältnis so vor sich hinplätschert.
Dieses Mal war es anders. Ich wollte Vater nach dem Herzinfarkt besuchen. Am liebsten sofort. Das ist sein dritter Herzinfarkt und bald wird er 80. Die Tatsache, dass sie in naher Zukunft aus dieser Welt scheiden würden, rückte näher und Gedanken, die die dieses Thema berührten, rückten auch näher an mich heran, so dass ich ihn sehen wollte. Ich dachte, das ist vielleicht das letzte Mal. In unser Verhältnis und unseren Umgang trat eine greifbare Grenze ein.
Leider bekam ich keinen Flug vor dem ersten Januar, so dass ich die Nacht zwischen dem 31. Dezember und dem 1. Januar würde hier verbringen müssen. Verdammt, Silvester!
Wunderbar! platzte Carolin heraus, als ich ihr erzählte, Vater liege mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus und sie würden nicht kommen. Wunderbar! Gleich darauf entschuldigte sie sich und sagte: Ich meine, es gibt also kein Problem, wenn wir Silvester mit Sabine und Jürgen feiern.
Und schob rasch hinterher: Oh je, das ist ja furchtbar, schrecklich. Wie geht es ihm?
Er wird doch wieder gesund, oder? Er wird wieder gesund, antwortete ich.
Ja, wir können bei Sabine feiern. Ich erzählte ihr nicht, dass ich schon einen Flug zu ihnen in zwei Wochen gebucht hatte, genau am ersten Januar, nach der Silvesternacht.
Carolin schenkte uns Wein ein. Wir saßen auf dem Sofa. Sie legte ihre Hand auf mein Bein und sagte: Alles okay mit dir, Dani? Ihre Hand, wie sehr ich ihre grazilen Finger liebte, den Ring, den wir bei einer Fahrradtour durch die Stadt gekauft hatten, als wir noch gar nicht an Hochzeit dachten. War es jetzt ihre Hand, die zitterte, oder waren es meine Augen, schwach geworden, die flimmerten? Alle Eisenherzen glitzerten um mich herum aus der Finsternis des Tannenbaums. Erst später würde ich den Schlag fühlen.
Die Woche vor Silvester brachten wir, mit verschiedenen Dingen beschäftigt und schweigend, hinter uns. Carolin arbeitete und abends wurde gelesen oder gestrickt, ein neues Hobby von ihr. Mein Koffer war schon gepackt, und man konnte sagen, ich wartete auf den ersten Januar und Silvester verdrängte ich.
Sabine und Jürgen brachten ihre beiden Kinder einige Tage vorher zu ihrer Oma, die in einem großen Landhaus am Stadtrand Berlins wohnte. Dort würden sie wie jedes Jahr „Silvester für Kinder“ feiern.
Das Haus von Jürgen und Sabine gehörte eigentlich Jürgens Großmutter, sie hatten es vor einigen Jahren geerbt und von Grund auf renoviert. Tatsächlich renovieren sie ständig: bauen weitere Räume an, reißen Wände ab, brechen den Fußboden raus, kaufen neue Sofas, streichen, kratzen ab – dieses Phänomen breitete sich in letzter Zeit bei vielen Familien aus wie Hautkrebs.
Das Haus von Sabines Eltern vermieten sie und betrachteten die Miete als ein zusätzliches Einkommen von Sabine neben ihrer halben Stelle als Grundschullehrerin. Am 31. Dezember trafen wir abends zur vereinbarten Zeit bei ihnen ein. Carolin erledigte die Arbeiten, die Sabine ihr auftrug. Jürgen kochte und war für den Wein verantwortlich, Sabine quasselte, und ihre Nachbarn lernten wir erst an diesem Abend kennen.
Sabines Tannenbaum war ein bisschen anders als unserer, ein Raumschiff von anderer Art. Die Dekoration, mit der sie ihn geschmückt hatte, war aus Porzellan mit echten, eingelegten Edelsteinen und Jürgen schenkte ihr jedes Jahr ein neues Sammelstück dazu. Er war genauso groß wie unserer, aber verschieden, was Qualität und Wert betrifft. Sabine ging mit der Dekoration um als wäre es kostbarer Schmuck. In den letzten Jahren waren zu der Sammlung kleine Herzen und Tannenbäume aus Feingold mit einem Diamanten in der Mitte hinzugekommen, Christbaumschmuck, wie man ihn nur in einem einzigen exklusiven Laden in London bekommen kann. Die ersten zwei Stunden mussten wir uns Sabines Vortrag über die verschiedenen Goldsorten jedes Dekorationsstücks anhören, über Feingold und Weißgold, wie man die ganze Beute am besten versichere und wie sie es als Erbe für ihre Kinder horte neben den zusätzlichen Bankkonten und Ersparnissen.
Jürgen kochte und die Mahlzeit wurde nach einer festgelegten Ordnung aufgetragen wie in einem Restaurant, das einem bestimmten Motto und einer bestimmten historischen Epoche folgt. Das Porzellanservice hatte ihnen Jürgens Mutter vergangenes Jahr geschenkt, das Silberbesteck Sabines Mutter zum letzten Muttertag. Jürgen hatte sie dieses Jahr überrascht und in alle Gabeln und Messer einen roten Saphir einlegen lassen.
Sabine besaß ein Heft, in dem sie alle ihre Geschenke verzeichnete: von wem sie sie bekommen, zu welchem Anlass sie sie bekommen hatte, in welchem Jahr, in welcher Jahreszeit, und wie hoch der materielle Wert war. Beim Aperitif nahm sie das Heft und las uns vor, was sie dieses Jahr zu Weihnachten bekommen hatte, von wem, wo es gekauft worden und wie viel es gekostet hatte.
Carolin hatte bis zu diesem Augenblick nichts von dem Heft gewusst. So sagten es unsere Blicke, die sich wie zwei Lastwagen in der Dunkelheit trafen. Im Hintergrund lief keine klassische Musik, auch keine Weihnachtsmusik. Als Jürgen den Wein brachte, erzählte er, wo er ihn gekauft und wie viel er gekostet habe, wo man allgemein gut Wein kaufen könne und aus welchen Gläsern man die verschiedenen Sorten am besten trinke, welche Temperatur der Wein haben und wie hoch der Alkoholgehalt sein sollte. Dasselbe machte er, als er den Champagner brachte.
Sabine erzählte von allen möglichen Leuten, bei denen sie zu Hause eingeladen und völlig schockiert gewesen sei, wie man dort den Wein trank: aus unpassenden Gläsern, falsch temperiert. Sie kann Leute, die billigen Wein trinken, nicht verstehen. Sie nannte solche Leute „Ratten“. Ob sie bemerkt hatte, dass dann auch ich und Carolin Ratten sind?
Ihre Nachbarn saßen und lächelten an den falschen Stellen. Sie hatten keine Kinder und auch ihr Landhaus geerbt. Viel sagten sie nicht an diesem Abend, aber sie benahmen sich höflich. Eine halbe Stunde vor Mitternacht zogen sie sich zurück, weil sie das Silvesterfeuerwerk in der Großstadt sehen wollten. Carolin vereinbarte mit Sabine, dass ich vor ihr aufbrechen würde. Sie wussten, mein Flug ging am ersten Januar. Jürgen fragte mich: Wie geht es deinem Vater? Sabine lauschte und erzählte von jemandem, der einen Herzinfarkt gehabt hatte, bei dessen Behandlung nicht alles von der Krankenkasse übernommen worden war, so dass sie schließlich familiäre Hilfe in Anspruch nehmen mussten. Und fügte noch hinzu: Was soll aus den ganzen Flüchtlingen werden, die zu uns nach Deutschland kommen? Wer finanziert ihre medizinische Versorgung und die Renten? Deshalb sorge ich mich um die Zukunft der Kinder und kaufe Gold. Gold verliert seinen Wert nicht, sagte sie.
Gold verliert seinen Wert nicht, sprach Jürgen ihr nach.
Fünf Minuten vor Mitternacht. Jürgen schenkte uns allen Champagner ein und wir gingen nach draußen. Über dem Balkon der hohe Himmel, und das Feuerwerk schon im Gange. So wie wir standen, nebeneinander, einander gegenüber, bildeten wir seltsame Winkel. Es war kalt wie jedes Silvester. Der Lärm wurde lauter. Buntes Feuerwerk am Himmel. Nach jedem Schuss stieg Rauch auf. Mitternacht, Höhepunkt der Bombardierung. Frohes neues Jahr, Jürgen. Frohes neues Jahr, Dani. Frohes neues Jahr, Carolin. Frohes neues Jahr, Sabine. Das Gefeiere entwickelte sich zu einem knalligen, gellenden Orkan: Violett, rot, orange. Von allen Seiten, aus allen Richtungen. Wir standen auf dem Balkon und schauten der Vorstellung zu, ohne zu reden. Eine volle Stunde standen wir draußen und sahen zu, wie das neue Jahr auf einen brennenden Himmel traf.
Als wir wieder ins Haus traten, öffnete Jürgen eine neue Weinflasche, als gäbe es für ihn keinen anderen Weg zu sagen, ihm fehlt was. Sabine fing ein neues Gesprächsthema an: Die für das nächste Jahr geplanten Ferien. Ich wartete, dass die Stunde voll wurde, um in unsere Wohnung zurückzukehren, mich zu duschen und vor dem Flug ein bisschen auszuruhen. Carolin sagte, sie sei noch nie in der Karibik gewesen, auch in Amerika noch nicht. Sabine sagte, die Karibik sei ein Traum und meinte außerdem: „Du musst nach Amerika fliegen. Amerika ist ein Muss.“
Und dann erzählte sie von der Karibik, vom Hotel, den Oligarchenfrauen, die über den Innenpool herrschten, über das Essen, darüber, wie viel sie gegessen, und sich immer wieder ihre Teller gefüllt hatten, von der kaputten Klimaanlage, dem Koffer, der drei Tage später ankam. Ein Erlebnis. Ein Traum. Dieses Jahr würden sie wieder in die Karibik fahren.
Kurz vor zwei Uhr morgens bestellte Sabine ein Taxi, das mich zurück zu unserer Wohnung bringen sollte. Wir wohnten 20 Minuten von ihrem Haus entfernt. Carolin blieb bei ihnen, weil sie am ersten Tag des Jahres nicht allein sein wollte.
Als ich in die Wohnung kam, knipste ich das Licht an und ließ mich auf das Sofa fallen.
Mir war übel und mir war kalt, wie es jedes Silvester kalt ist. Der Tannenbaum stand vor mir und blickte mich aus tausend bunten Augen an, dass ich dachte, sie wären traurig.
Ich erwiderte seinen Blick, als ob ich fragen wollte: Wer bist du und womit kann ich dir helfen? Ich fragte nichts.
Ich bin aufgestanden und hab die David Bowie-Cd „Space Oddity“ eingelegt. Ich löschte das Licht, die Herzen am Baum glitzerten und David Bowie sang:
„This is Ground
Control to Major Tom
You’ve really made the grade”
Ich rauchte eine Zigarette und gleich danach noch eine. Ich hatte Kopfschmerzen und der Magen hatte sich mir umgedreht. Ein furchtbarer Brechreiz überkam mich und danach noch einer, der stärkste, den ich je erlebt hatte.
Ich sprang vom Sofa auf und schaffte es gerade noch, die Kloschüssel zu fassen wie jemand, der die Hörner des Altars fasst. Ich erbrach alles: Das Essen, das Jürgen gekocht hatte, den Wein aus dem Luxus-Laden, Sabines Heft, das Feuerwerk, ihre Nachbarn.
Danach duschte ich mich und zog frische Kleider für die Reise an.
Ich machte mir eine Tasse Tee und setzte mich vor den Tannenbaum. Kurz vor fünf bestellte ich ein Taxi zum Flughafen. Der Koffer wartete fertig gepackt schon seit einer Woche auf mich. Ich blickte auf den Baum, die erloschene Dekoration. Das Taxi kam. Ich zog einen Mantel an und blickte noch einmal auf den Baum, der schweigend mitten im Zimmer stand. David Bowie sang immer noch und ich mit ihm:
„And I think my spaceship knows which way to go
Tell my wife I love her very much she knows”
Ich nahm ein Streichholz aus der Schachtel, zündete es an und warf es über den Tannenbaum. Ein kleines Feuer zwinkerte mir von zwei Enden her zu – ich zwinkerte zurück. Ich schlug die Wohnungstür zu und ging hinaus.
Ich schnallte mich an und sagte dem Taxifahrer: Zum Flughafen bitte. Wir fuhren los. Ich drehte den Kopf, ich blickte zurück: Da sah ich unser Raumschiff in Flammen aufgehen, abheben heimwärts zu seinem Planeten. Wir fuhren dahin und ich dachte, die Sterne sehen heute wirklich anders aus, alle Diamanten von Sabines Baum sind geflüchtet und erstrahlen jetzt am Himmel. Alle Raumschiffe kehren heim.
Eine Geschichte, mit der ich mich identifizieren kann. Silvester habe ich nie gemocht – die Knaller kamen mir immer wie Kriegsgeräusche vor, und ich hatte auch mal ein Trauma, als ich um 4 Uhr morgens mit einem Freund, der ein gebrochenes Bein hatte, durch ganz München im Schnee watschen musste (Taxis waren nicht zu kriegen, und öffentliche Verkehrsmittel fuhren nicht). Auch ein Bekannter von mir, der israelisch-deutsche DJ Muallem hatte eine ähnliche Erfahrung an Silvester, aber in New York: Nur mit einem Shirt bekleidet, musste er nach Hause stapfen. Denn während seines Auftritts ist ein Blizzard über New York gefegt. Zwei Meter hoch lag der Schnee. Eine Woche brauchte Muallem, um sich von seinem nächtlichen Fussmarsch zu erholen…