Ich bin 1947 in Lemberg geboren, damals UdSSR. In zweien meiner Bücher beschrieb ich die schönen Kindheitserinnerungen von damals. 1957, in Folge der Gomulka-Reform, zogen wir nach Gleiwitz im polnischen Schlesien um. Das Ziel war Israel. Wegen eines schweren Unfalls, den ich erlitt, blieben wir dort bis 1960. In der Mittelschule in Israel lernte ich Französisch, und so studierte ich später französische Literatur, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. Ich schreibe meine Bücher auf Französisch und Hebräisch. Bisher sind auf Hebräisch vier Bücher erschienen. Die folgende Geschichte ist aus dem letzten Buch, das im Mai 2019 erschienen ist.
Die Cousine, der Fechtmeister und die Ziege
von: Sophie Rachlenko
Übersetzung: Uri Shani
Gäste sind wie Fische, nach zwei Tagen stinken sie. Ich zitiere dieses Sprichwort, das weder Appetit noch Lust macht, Gäste einzuladen, denn es drückt in wenigen Worten das aus, was ich kürzlich erlebt habe.
Meine Gäste, die ich gar nicht eingeladen habe, gingen mir schon einen Monat, bevor sie ankamen, auf den Wecker. Und das kam so: Mit dem Vorwand, mir ein schönes Pessach-Fest zu wünschen (das mich jedes Jahr in ein depressives Loch wirft), rief meine Cousine Ludmilla an und gab mir zwischen anderen Neuigkeiten (die mich übrigens weder Dreck noch Bohne interessierten) bekannt, dass sie und ihr Freund Wolodia schon Flugtickets bestellt hätten, um mich im Mai zu besuchen. Sie sehne sich so nach mir, möchte mich unbedingt wieder einmal sehen, und auch Wolodia freue sich, mich kennenzulernen.
Als ich von diesem Komplott hinter meinem Rücken hörte, war ich schockiert. Kein Wort konnte ich artikulieren, weder auf Russisch, das ich noch sehr gut beherrsche, noch in irgendeiner anderen Sprache. Aber meine Cousine Ludmilla war nicht irrezumachen. Im Gegenteil. Die Sekunden meines vom Schock bedingten Schweigens benutzte sie, um mir die Flugnummer und die Daten zu diktieren, an denen sie bei mir wohnen würden!
Nachdem ich die Daten auf einen Zettel geschrieben hatte, ergab eine kurze Rechnung die geraume Summe von siebzehn Tagen. Sofort verspürte ich den Horror vor der siebzehn Tage langen Hölle, die ich in meiner kleinen und geliebten Wohnung zu erwarten hatte. Siebzehn! Eine Zahl, die in Gematrie „Gut“ bedeutet… solche Güte kann ich nur jemandem wünschen, den oder die ich nicht ausstehe, und als die Botschaft auf mich hereinfiel, konnte ich an niemanden denken außer an meine Cousine, die ich zum letzten Mal sah, als ich sieben oder acht war.
Und tatsächlich, die Invasion und die Zeit ihrer Besatzung meines bescheidenen Wohnraums, die wie gesagt siebzehn Tage dauerte, waren für mich ein nicht endend wollender Albtraum. Um zum Beispiel zu meinem Computer zu kommen, war ich gezwungen, einen verzwickten Hindernislauf geschmeidig und geschwind hinter mich zu bringen, denn der Boden meiner ganzen Wohnung war bedeckt von Koffern, Taschen, Tüten aller Art, Schuhen und Sandalen. Meine Waschmaschine arbeitete Überstunden für alle die Handtücher, die ich ihnen wechselte, und da alle Bügel in meinem Schrank besetzt waren, hängten sie einen Teil ihrer Kleider, inklusive die noch feuchten Badekleider, auf Stühle und Sessel. Ich erkannte meine nicht so große und nach meinem Geschmack und meinen Bedürfnissen eingerichtete Wohnung nicht mehr.
Meine Gäste, ihrerseits, vergaßen nicht, neben anderen guten Taten und Eigenschaften, mir ihre Großherzigkeit und ihre angeborene Gastfreundschaft zu unterstreichen. Wenn sie Verwandte oder Freunde beherbergen, machen sie sich völlig für sie frei und befriedigen alle ihre Bedürfnisse…. Und wegen dieser feinen Anspielung reichte ich ihnen während der ersten Tage der Besatzung auch Mahlzeiten, aber ich spürte, dass ich irgendwann explodieren würde, und damit ich es irgendwie aushalten konnte, empfahl ich ihnen ein paar Restaurants in der Umgebung.
Außer der Plackerei, die mir aufgebürdet wurde, dem Raub meiner Zeit und dem Einbruch in meine Privatsphäre, was mich ärgerte, mich aber gleichzeitig zugegebenermaßen auch belustigte, waren die Gespräche zwischen uns, genauer gesagt zwischen ihnen, denn meistens war ich zum Schweigen verurteilt, und wenn ich trotzdem da und dort versuchte, ein Wort hineinzuschmuggeln, unterbrach mich meine Cousine sofort mit „und bei mir ist es so:…“ und fuhr mit ihrer spannenden Lebensgeschichte fort. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als dem Wortwechsel zwischen Ludmilla, der Klavierlehrerin, und ihrem Lebenspartner Wolodia, Fechtmeister a.D. und heute Trainer von jungen und vielversprechenden Sportlern, zuzuhören.
Großgewachsen, schlank und in den Sechzigern, erinnerte er mich an einen Don Quichote aus einem Schwarz-Weiß-Film, und nicht nur wegen des Fechtens. Im endlosen Duell wetteiferten er und Ludmilla darum, wer mich mehr beeindrucke. Was ihnen gemeinsam war, war die Tatsache, dass sie beide sehr mit ihrem äußeren Aussehen und mit sich selbst im Allgemeinen und mit ihren Erfolgen zufrieden waren.
Ludmilla ist überzeugt, dass sie nicht nur sehr kulturell und intelligent, sondern auch schön und anziehend ist… Eines Nachmittags, um mich davon zu überzeugen, dass ihre überflüssigen Kilogramme ein Vorteil seien, nicht nur für sie, sondern auch für ihren Partner, wandte sie sich ohne Einleitung an ihn mit der Frage: „Du liebst mich, Wolodia, so wie ich bin, und du glaubst nicht, dass ich Diät machen muss, nicht wahr?“ Er lächelte und bevorzugte es, die Frage als rhetorische Frage zu betrachten. Es war ein geheimnisvolles Lächeln, ein bisschen verlegen, ein bisschen verschmitzt, und jede von uns beiden sollte es so interpretieren, wie sie wolle.
Vielleicht befriedigte sie das ambivalente Lächeln nicht. Ludmilla stand auf, ging auf den Balkon hinaus, um frische Luft zu schnappen und die Mittelmeerbrise zu genießen, und ich wandte mich zur Küche, um die Kaffeetassen abzuwaschen. Wolodia kam sofort hinter mir her. Als ich schon beim Waschbecken war, fasste er mich bei der Taille, deren Umfang halb so groß sind wie die von Ludmilla, und versuchte, mich an sich zu ziehen… ich war erstaunt, versuchte mich zu befreien, unterdrückte den Drang, ihm eine Ohrfeige zu geben und ging schnell zu meiner Arbeitsecke.
Anstatt einen Skandal zu machen, setzte ich mich an den Computer und schrieb, was sich soeben abgespielt hatte. Meine Gäste lesen kein hebräisch, und die Worte, die ich von rechts nach links schreibe, sagen ihnen nichts. Und auch wenn sie zufällig einen Blick auf den Bildschirm des Computers werfen würden, würden sie nicht auf den Gedanken kommen, dass sie selber die Hauptpersonen der Geschichte sind, die ich schreibe.
Wolodia, der bestimmt einigen Erfolg während seiner mehr als sechzig Jahre mit dem schwachen Geschlecht hatte, sah verletzt und frustriert aus. Anstatt meiner Taille fasste er die Zigarettenschachtel und ging hinaus. Er musste sich Luft machen und dabei eine rauchen.
Ludmilla wurde es langweilig alleine auf dem Balkon und gesellte sich zu mir in meine Arbeitsecke. Sie musste mir unbedingt etwas Persönliches erzählen und nutzte die Gelegenheit aus, dass Wolodia nicht da war. Ganz selbstverständlich war es für sie, dass ich ein andermal an meiner Arbeit weitermachen solle. Und tatsächlich erhielt ich eine Schlagzeile: Wegen ihres ersten Ehemannes verlor die Menschheit eine virtuose Pianistin! Ja, es war ihr schrecklicher Verflossener, der sie nicht nur morgens und abends betrog, er hinderte sie daran, als herausragende Künstlerin entdeckt zu werden. Sie zog aus eine der Taschen ein Photoalbum mit Photos aus den gloriosen Zeiten, den Zeiten vor Wolodia… Als sie bemerkte, dass ich keine Fragen stellte und sie nicht antrieb zu erzählen, sprach sie wieder über Musik im Allgemeinen. Die Musik sei ihre Lebensdroge, und um diese Aussage zu unterstreichen, begann sie „La Havanera“ zu summen, die berühmte Arie aus „Carmen“ von Bizet: „L’amour est un oiseau rebelle…“ – Die Liebe ist ein rebellischer Vogel…
Meine Cousine ist so musikalisch, dass sie die Musik überall hineinbringt, manchmal als Gewürz und manchmal als Hauptmahlzeit. Als sie einmal ein Bild in meinem Wohnzimmer betrachtete, behauptete sie, das Bild sende ihr Chopin-Klänge aus, und nach einem kurzen Moment, mit einer eindrücklichen Pirouette, verbesserte sie sich: „Nicht genau Chopin, eher Debussy…“ Ihr Lebenspartner, der Don Quichote nicht de la Manche, sondern de Sibirien, ließ es in den meisten Fällen nicht auf sich sitzen und brüstete sich damit, dass die meisten jungen Sportler unter seiner Ägide es bis zum Podium schafften und eine Medaille mit einer der drei lukrativen Metalle erhielten, und das natürlich nur dank seiner Professionalität und seiner pädagogischen Anleitung! Denn nicht jeder könne oder wolle seine Kunst an die junge Generation weitergeben…
Und mir gebührt für meine Standhaftigkeit und meine Geduld, die ich während siebzehn Tagen demonstrierte, mindestens eine Goldmedaille!
Die Medaille gab mir natürlich keiner, und ich bin auch kein Freak von allerlei Glänzendem, aber als sie endlich gingen, erinnerte ich mich an die Geschichte über den Armen, seinem Rabbi und der Ziege, obschon es keinen direkten Zusammenhang zwischen dieser alten chassidischen Geschichte und meiner gibt. Aber was den beiden Geschichten gemeinsam ist, war das Gefühl der Erleichterung danach… Wie erleichtert waren doch dieser Arme und seine Frau und seine sieben Kinder, nachdem er die Ziege hinauswarf, nachdem er sie zuvor gemäß Anweisung seines Rabbis in die Wohnung genommen hatte. Und auch ich, im Moment der Abreise der ungerufenen Gäste, fühlte mich sofort so zauberhaft erleichtert, so angenehm und gemütlich war es mir doch in meiner kleinen Wohnung, die mir plötzlich grösser und schöner denn je vorkam.
Tolle – und sehr witzige, aus dem Leben gegriffene – Geschichte. A Mechaje!