Im Frühling 1984 wird Karen, eine Amerikanerin aus dem Auto von Mikki Dotan, dem Kibbuznik, mit dem sie einen Ausflug machte, entführt. Sie verschwindet ohne jede Spur, die polizeiliche Ermittlung wird unter merkwürdigen Umständen ad acta gelegt, es findet sich kein Motiv für die Entführung und das Schicksal der jungen Frau bleibt unbekannt.
Im Sommer 1987 entdeckt eine Einheit der israelischen Armee zufällig während einer militärischen Operation im Libanon ein Foto, auf dem Karen während der Entführung erkannt wird.
Ein düsteres Familiengeheimnis versteckt sich hinter Karens mysteriösem Verschwinden.
Mikki Dotan kann, im Gegensatz zu den meisten anderen Kibbuzniks, sehr gut Englisch, da sein Vater, Abe Dotan, mit seiner Familie von der Kibbuzbewegung nach New York geschickt wurde, zu einer Mission, die drei Jahre dauerte, als Mikki im Schulalter war.
Niv Kaplan, 1959 im Kibbutz Ajelet Haschachar geboren, lebte zehn Jahre lang in den USA, hat fünf Kinder und lebt in Ramat Hasharon. Der Krimi „Karen“ erschien 2013, es folgten „Spuren“ (2014), auch ein Krimi, „Kibbutz“ (2015) über den Kibbutz aus den Augen von Jugendlichen in den 70er Jahren, und zwei weitere Krimis, die zusammen mit „Spuren“ eine Trilogie bilden.
LB Entertainement kaufte die Rechte für „Karen“, um einen Film, basiert auf dem Krimi, zu machen.
Karen
von Niv Kaplan
Übersetzung: Uri Shani
Zweites Kapitel
Der Wecker klingelte.
Mikki hörte ihn, aber regte sich nicht. Als käme er von einem fernen Stern, versuchte er vergeblich, ihn zu ignorieren. Schließlich streckte er den Arm aus, befühlte das Regal über seinem Bett, um das nervende Geklingel abzustellen und fand dann auch den alten Wecker.
Es war wieder ruhig. Er öffnete die Augen, setzte sich und schaute durchs Fenster. Draußen war es stockdunkel. Er fand den Lichtschalter der kleinen Tischlampe neben dem Bett und schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr früh. Dann erinnerte er sich mit einem Schlag – Einfangen und Verfrachten der Hühner! Die abscheulichste aller Arbeiten. Jeder Mann ab 17 Jahren musste mindestens einmal im Monat mitmachen. Niemand wurde davon befreit, der Arbeitsorganisator, der für jeden und jede entscheidet, wo er oder sie heute arbeitet, achtete darauf, dass jeder an die Reihe komme. Wenn du eine Hühnerverfrachtungsschicht verpasst hast, kamst du auf die schwarze Liste!
Es war tatsächlich eine ekelhafte Arbeit. Zwanzig verschlafene Kibbuzniks versammelten sich in den riesigen Hühnerställen im Industriequartier des Kibbuz, immer vor Sonnenaufgang, wenn die Hühner sich am wenigsten bewegten, sodass es einfacher war, sie einzufangen. Ein Lastwagen mit leeren Käfigen wartete neben der Rampe, Männer liefen hinter den Hühnern in den Hühnerställen her. Jeder musste sich durch die Dunkelheit kämpfen und vom Boden so viel Hühnerbeine wie möglich fangen, mindestens drei Paare in jeder Hand, die Starken und Erfahrenen konnten auch fünf Paare packen, sie dann, während sie schrien und kratzten, zur Rampe bringen und in die Metallkäfige schmeißen. Bis der Lastwagen voll war, sahen die Männer selber wie Hühner aus, gefedert und verstaubt. Das Ganze dauerte normalerweise eine Stunde, aber manchmal kam danach noch ein Lastwagen. Er konnte nur beten, dass es nicht geschähe.
Mikki stand auf, putzte sich die Zähne und streckte den Kopf unter das fließende Wasser. Wenn er fertig sein würde, würde er sich duschen. Er zog das schmutzigste Hemd und die schmutzigsten Hosen über, darüber einen alten Militärmantel, und die Füße steckte er ohne Socken in alte Sportschuhe. Es war 4:15 Uhr, als er aus dem Zimmer trat. Es blieb ihm eine Viertelstunde.
Während er durch die Dunkelheit schritt, dachte er an Karen. Seit sie sich das erste Mal gesehen hatten, verging kein Tag, ohne dass er an sie gedacht hätte. In den drei Wochen, seit sie im Kibbuz angekommen war, hatten sie sich ein paar Mal getroffen, aber immer mit anderen zusammen. Sie wechselten ein paar Höflichkeitsformeln, aber selten mehr als das. Er fragte sie, was sie heute vorhatte, in der Hoffnung, er könne sich in ihre Pläne hineinfügen, aber sie wollte sich nicht festlegen – immer eilte sie woanders hin. Er befürchtete, dass ihm die Chance für eine Beziehung entglitt.
Die Volontäre machten zumeist die Dienstleistungsarbeiten, die die Kibbuzniks nicht mochten. Karen arbeitete in der Morgenschicht im Speisesaal. Sie begann früh, um fünf, und beteiligte am Vorbereiten des Frühstücks und des Mittagessens, im Abwasch und im Saubermachen. Die Volontäre arbeiteten sechs Stunden am Tag, und Karen war ab elf Uhr frei.
Mikki war in der zwölften Klasse, es gab keinen Unterricht mehr, außer den Vorbereitungen auf die Abschlussprüfungen. Den halben Tag verbrachte er in der Reifenfabrik des Kibbuz, und den Rest mit Lernen für die Prüfungen. Die Fabrik hatte einen eigenen kleinen Speisesaal, aber er ging immer in den großen Speisesaal des Kibbuz, um dort Karen zu treffen. Er saß dort mit seinen Freunden, knabberte langsam, hörte halb dem Gespräch der anderen zu, und schaute ihr vor allem bei der Arbeit zu.
Sie beleuchtete den Speisesaal mit ihrem Lächeln, bewegte sich graziös und sprach fröhlich mit den vielen Freunden, mit denen sie in der kurzen Zeit schon Bekanntschaft gemacht hatte. Schöne Frauen erreichen schnell Popularität, dachte er und fühlte jedes Mal einen Schmerz im Bauch, wenn sie innehielt, um mit einem der Männer zu sprechen. Er wusste, dass sie die Aufmerksamkeit mochte, und dass sie jeden gewinnen konnte, den sie wollte, auch die Verheirateten. Er erinnerte sich an den ersten nächtlichen Spaziergang und konnte nicht verstehen, warum seine Anstrengungen keinen Erfolg hatten.
Ich bin schuld, dachte er, während er schon die Hühnerställe von weitem roch. Die Idioten haben immer mehr Erfolg, murmelte er, frustriert, und beschloss, dass er sie sofort nach dieser Drecksarbeit treffen musste – egal wie stinkig und verstaubt er sein würde.
Schlomo traf ihn neben dem Lastwagen. „Was gibt’s Neues, Mikki?“ fragte er, zu fröhlich für diese Tageszeit, mit einem heißen Kaffee in der Hand.
„Gibt’s noch was?“ fragte Mikki und zeigte auf den Kaffee.
„Mach zwei, Mikki. Heute gibt’s zwei Lastwägen.“
„Warum bist du so fröhlich?“
„Ich habe nicht geschlafen heute“, antwortete Schlomo verschmitzt, und ging hinter ihm nach ins Büro des Hühnerstalls.
„Dann bist du bestimmt müde.“
„Sehr müde, Mikki, sehr sehr müde.“
Mikki bereitete sich eine Tasse Kaffee vor und schaute sich um. Es waren mehr da als gewöhnlich. Er schätzte, dass sie eineinhalb Stunden bräuchten für beide Lastwägen.
„Warst mit jemand?“ fragte er, ohne es recht zu wollen.
Schlomo blickte ihn mit dem Blick des Siegers an. Mikki erstarrte. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. „Nicht mit Karen?“ fragte er mit bedrohlichem Ton.
„Schön wärs“, seufzte Schlomo.
Mikki war beruhigt. Er sah Schlomo und Roni öfters in der Nähe von Karen und ihren Freundinnen; die Frauen waren jung, energetisch, sorgenlos, und Tausende von Kilometern von zu Hause weg. Schwer zu sagen, was sie tun würden.
„Also wer?“
„Ihre Freundin, Conny.“
Mikki verlor Interesse. „Wie wars?“ fragte er, in der Hoffnung, die Sache damit abzuschließen.
„Sie hat Bock auf merkwürdige Dinge“, brüstete sich Schlomo.
Mikki wollte nicht weiter zuhören, aber plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Sagte sie was über mich und Karen?“
„Was willst du wissen?“
„Alles, Schlomo. Ich komm nicht an sie ran. Ich glaube, sie weicht mir aus.“
Er tönte verzweifelter, als er wollte, und er wusste, dass Schlomo keine Gelegenheit verpassen würde, ihm das Leben schwer zu machen. Zu seinem Glück war Schlomo zu fröhlich, um es zu bemerken.
„Conny sagte, dass Karen denkt, du weichest ihr aus“, informierte ihn Schlomo begeistert.
Dann gibt es noch Hoffnung, dachte Mikki, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte. Ein Strom von Energie durchfuhr seinen Körper. Die Schicht war im Nu fertig. Er arbeitete wie eine Maschine, lud noch und noch Hühner auf, und noch bevor der letzte eiserne Käfig geschlossen wurde, war er schon auf dem Weg hinauf zum Speisesaal.
***
Karen saß in der Küche auf einem hölzernen Schemel mit anderen älteren Frauen und schälte Zwiebeln. Die Frauen klatschten unter sich auf Hebräisch. Karen lernte ein wenig Hebräisch in der Schule, aber obschon sie ein paar Wörter aufschnappte, konnte sie dem Gespräch nicht folgen. Sie schaute weinend auf den Haufen Zwiebel, ihr gegenüber, als Mikki die Küche betrat.
„Guten M…“, begann er und stockte sofort.
„Schaut schaut, der kleine Abe Dotan. Du siehst aus und stinkst so, wie ich mich des morgens fühle“, sagte eine der Frauen auf Hebräisch, und die anderen lachten mit ihr mit.
„So macht man keine junge Frau an, Mikki“, sagte eine andere, und alle lachten wieder. Mikki errötete. Er war nicht darauf gefasst und wollte schon etwas Bissiges über alternde Frauen sagen, als Karen sanft fragte:
„Schwerer Morgen, Mikki?“
„Nicht so schwer wie es diesen Hexen ergehen wird, wenn sie so weitermachen“, antwortete er auf Englisch.
„Beruhige dich, sie sind unschädlich.“
Mikki gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. Er warf den Frauen einen drohenden Blick zu und sagte zu Karen:
„Können wir einen Moment rausgehen? Ich muss mit dir reden.“
Karen stand auf.
„Machen wir es bitte einen langen Moment“, sagte sie und schielt in Richtung der Zwiebeln.
Er verstand.
„Ich brauche sie für ein paar Minuten“, sagte er den Frauen auf Hebräisch.
„Sie ist noch nicht fertig mit den Zwiebeln!“ protestierte die Anführerin der Gruppe.
„Hört mal gut zu!“ Mikki war jetzt schon sehr verärgert. „Das ist etwas Ernstes. Der Sekretär will mit ihr reden.“
Er machte eine ernste Miene und sprach leise. Alle neigten sich zu ihm hin. „Ihre Schwester hat aus den USA angerufen und bat, dringend mit ihr zu sprechen. Ich habe keine Ahnung worüber, aber es geht offenbar um etwas Ernstes! Ich bringe sie für ein paar Minuten ins Sekretariat.“
Sie verstummten einen Moment und schauten sich an.
Mikki nutzte den Moment aus, nahm Karen bei der Hand, und die beiden verschwanden in der Hintertür, bevor die Frauen sich erholten hatten.
„Was hast du ihnen gesagt? Sie sahen völlig schockiert aus.“
„Ach, irgendeine story…“
„Was für eine?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass deine Schwester aus den USA angerufen hat und dringend mit dir sprechen muss.“
„WAS??“
„Mach dir nichts draus, das wird sie beschäftigen, bis sie die verdammten Zwiebeln fertig geschält haben.“
Karen kicherte.
„Bis zum Mittagessen werden sie schon einen Haufen von Theorien entwickelt haben.“
„Aber Lisa hat nicht wirklich….“
„Das ist egal, Karen. Sobald die eine Geschichte aufgeschnappt haben, verbreitet sich das wie ein Schneeball im ganzen Kibbuz. Jede gibt die Geschichte mit einer kleinen Drehung weiter, und am Abend bist du schon in einigen Versionen im Flugzeug auf dem Weg nach Hause.“
Karen lachte laut und lehnte sich gegen die Wand. Mikki genoss den Moment. Er freute sich, dass er es geschafft hatte, sie zum Lachen zu bringen. Er betrachtete sie, wie sie sich erholte. Sogar in den Arbeitskleidern war sie wunderschön. Er dachte, dass dies der richtige Moment sei.
„Ich sehne mich nach dir.“
Sie wurde sofort ernst. Sie standen außerhalb der Küche, am Abhang eines Hügels gen Osten. Der ganze Kibbuz lag ihnen zu Füßen. Von hier konnten sie die Sonne sehen, wie sie über den Golanhöhen aufstieg. Sie stiehl sich streichelnd hinter dem Berggipfel hindurch.
Karen schaute ihn an.
„Warum hast du so lange gewartet?“
„Ich dachte, du seist nicht interessiert. Ich dachte, ich hätte dich in jener Nacht enttäuscht.“ Die Worte sprudelten aus ihm heraus und lösten die Spannung. „In den letzten drei Wochen wollte ich dir so viel sagen, aber…“
Wieder hatte er ein ungutes Gefühl und entwich ihrem Blick, schaute zu Boden. Sie entfernte sich von der Wand und näherte sich ihm.
„Mikki“, sagte sie mit einer sanften und süßen Stimme, fast flüsternd. Er hob den Kopf. „Ich warte schon lange darauf, dass du kommst, aber du bist immer so distanziert, immer mit deinen Freunden. Als beschützten sie dich vor mir.“
„Karen, ich schwörs, das Einzige, was mir durch den Kopf gegangen ist, seit jener Nacht, ist: Wann machen wirs wieder?“
„Was sollen wir wieder machen?“
„mmm .. reden, natürlich. Und das war ja alles, was wir taten, oder hab ich was verpasst?“
Sie lachte wieder und labte sich an seiner Schüchternheit.
„Ich glaube, wir haben viel verpasst in diesen drei Wochen“, sagte sie ernst.
Mikki fühlte sich auf den Arm genommen. Er wollte sie fassen, umarmen, küssen, lieben. Aber er seufzte und lächelte.
„Willst du mit meiner Familie heute zu Abend essen?“
„Gerne, Mikki.“
„Soll ich dich abholen?“
„Nicht nötig. Wir treffen uns hier. Wann esst ihr normalerweise?“
„Um Punkt sieben Uhr. Sonst schnappt mein Vater über.“
„Was soll ich anziehen?“ fragte sie, und ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab.
„Das ist mir egal.“
„Auch wenn ich so komme?“ Sie tat so, als sei sie erstaunt.
Mikki antwortete nicht. Er stand da und betrachtete sie. Sie stand mit dem Rücken zur Küche, barfuß, mit kurzen Hosen und einem blauen Arbeitshemd. Ihre Beine waren gebräunt und schlank, und ihr perfekter Körper versteckte sich unter dem Hemd. Die beiden oberen Knöpfe waren offen, offenbarten ihm genug, um ihn zu erregen, aber nicht mehr als das.
Er sah zu Boden und näherte sich ein bisschen. Er konnte sie riechen. Er machte noch einen Schritt und sah ihr in die Augen. Sie nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn, er küsste sie. Ihre Zungen trafen sich. Sie stöhnte und fuhr mit ihren Fingern durch sein Haar, näherte seinen Kopf ihrer Brust.
Sie standen bewegungslos, hielten sich fest. Als sie schließlich voneinander abließen und sich anschauten, war nichts mehr da, was sie noch hätten sagen können.
***
Das Abendmahl am Freitag, dem „Erew Schabbat“, war besonders.
Die Tische im Speisesaal wurden an diesem einen Abend in der Woche, wenn die Familien den Beginn des Ruhetages feierten, mit Tischdecken gedeckt und mit Blumen und Schabbat-Kerzen geschmückt, und neben den Tellern lag sorgfältig das besondere Silberbesteck. Alle putzten sich heraus. Es war die Gelegenheit, sich mit neuen Kleidern zu brüsten, alte Freunde zu begrüßen, und vor allem – zu klatschen.
Hühnersuppe, Gewürzgurken, der Schabbatzopf und Reis wurden auf den Tisch gestellt, und das Hauptgericht – Fleisch, Geflügel oder Fisch – wurde von Wägelchen aus serviert, ähnlich wie im Flugzeug.
Der Speisesaal war zu klein, damit alle Kibbuzniks drin Platz hätten, und die Mahlzeit wurde auf drei Schichten verteilt. Familie Dotan aß immer in der zweiten Schicht. Abe kam um fünf vor sieben und wartete auf das Ende der ersten Schicht. Sobald ein Tisch frei wurde, setzte er sich und wartete auf die anderen Familienmitglieder. Er ärgerte sich, wenn sie sich verspäteten. Rina und Dafna, Mutter und Schwester von Mikki, kamen immer rechtzeitig. Mikki und sein Bruder David verspäteten sich immer.
Aber an diesem Freitag kamen alle genau um sieben und freuten sich, Karen endlich kennenzulernen, denn Mikki sprach über nichts Anderes als über sie.
Nach einigen Höflichkeitsfloskeln bestellten sie und begannen, sie auszufragen. Mikki betrachtete die drei, die ihm gegenübersaßen. Er war seinem Bruder David, der zwei Jahre jünger war, sehr verbunden. David bewunderte Mikki, der dies manchmal ausnutzte, aber meistens unterstützte er ihn. David war kleiner gewachsen als Mikki, sein schwarzes Haar kraus und seine Augen braun, wie die seines Vaters. Er war athletisch und ein ausgezeichneter Schüler, obschon er fast nie Hausaufgaben machte. Er zog es vor, die Zeit mit Mikki und seinen Freunden zu verbringen. Die Großen schienen ihm interessanter als seine Gleichaltrigen. Manchmal musste Mikki ihn grob loswerden, aber meistens mochte er es, dass er dabei war.
Dafna, von allen geliebt, war zehn Jahre alt und konnte nur ein schlechtes Englisch, so wie auch ihre Eltern in den drei Jahren in New York, im Gegensatz zu Mikki, nur ein rudimentäres Englisch gelernt hatten. Sie war großgewachsen für ihr Alter, mit braunen Locken, großen, grünen Augen und zierlichem Gesicht, wie das ihrer Mutter.
Mikki war zufrieden. Es schien, dass Karen sich sehr gut in die Familie einfügte. Sie sah wunderbar aus in ihrem roten Minirock, sie hatte sich geschminkt und trug Ohrringe, und ihr roter Mund war erregender denn je. Alle wandten sich ihr durcheinander zu, und sie wies zu persönliche Fragen sanft zurück.
Mikki dachte an den Morgen. Es überfiel ihn eine Lust, fast unausstehlich, sie kennenzulernen, sie zu lieben, ihre Geheimnisse zu wissen und mit ihr die seinen zu teilen. Er wollte für immer mit ihr sein…
„Hat Miki dir das Tal gezeigt?“ hörte er seinen Vater.
„Das haben wir noch nicht…“
„Wenn du mir das Auto gibst, kann ich ihr das Tal und auch den Golan zeigen“, sagte Mikki.
„Mikki, du weißt, dass ich nicht…“
„Ich weiß, Papa, aber bitte, drücke ein Auge zu. Ich möchte mit Karen am nächsten Schabbat einen Ausflug machen. Das ist ihr Geburtstag, und mein Schulabschluss.“
Abe Dotan war für die Finanzen des Kibbuz zuständig. Als Funktionär hatte er das Recht auf ein Auto, das nach der Arbeitszeit allen Kibbuzniks zur Verfügung stand, und für die „Miete“ der Autos, die der Kibbuz hatte, war ein anderer Kibbuznik zuständig. Abe durfte die Regeln nicht umgehen.
Aber – Regeln sind da, damit man sie bricht.
Mikki hatte das Auto schon ein paar Male benutzt und wusste, dass er es erhalten würde, wenn er darauf bestünde. Er ließ die Sache auf sich beruhen. Er hatte noch genug Zeit dafür.
„Kommt ihr zum Nachtisch, Mikki?“ fragte seine Mutter, während die Kibbuzniks, die Freitagabend-Schicht hatten, die Tische abräumten, damit die dritte Schicht hereinkommen konnte.
Mikki sah Karens Blick.
„Ich glaube, wir werden diesmal darauf verzichten“, sagte er mit einem Ton der Entschuldigung. „Wir haben etwas anderes geplant.“
„Hast du Lust zu erläutern, was das für Pläne sind?“ fragte David auf Hebräisch, mit einem breiten Lächeln.
„Hast du gehört, Karen?“ sagte Mikki auf Englisch. „David will, dass ich ihm erzähle, was wir für weiteren Verlauf des Abends geplant haben.“
David errötete und wandte sich ab. Karen legte ihre Hand auf seine Schulter, die anderen brachen in lautes Lachen aus.
Sie verließen den Speisesaal in guter Laune, spazierten ohne Richtung und genossen es zusammen zu sein. Sie grüßten Freunde, die sie trafen, schwatzten über die Dinge, die sie am Abendessen gehört hatten und hielten alle paar Minuten zum Schmusen an.
„Wollen wir zur Party gehen?“ fragte Karen und befreite sich sanft von seiner Umarmung in einem der dunklen Winkel, in dem sie gerade Halt gemacht hatten.
Mikki schaute sie erstaunt an. Im Club der Volontäre gab es am Freitagabend jeweils eine Party. „Der einzige Grund für mich, an diese Partys zu gehen, ist, damit ich jemanden wie dich treffe. Jetzt, da ich dich fand, habe ich keinen Grund mehr dorthin zu gehen.“
„Ich mag gute Partys. Komm, gehen wir, tanzen ein wenig, trinken…“
„Vielleicht später. Gehen wir zuerst in mein Zimmer. Trinken was. Sprechen.“
Sie lächelte und näherte sich ihm, umarmte seine Schultern und flüsterte in sein Ohr: „Ich finde, wir haben genug geredet. Findest du nicht?“
Es verging eine lange Viertelstunde, bis er sein Zimmer in einen anständigen Zustand bringen konnte und bevor er es wagte, sie hineinzulassen. Während er herumhetzte, in der verzweifelten Anstrengung, zu ordnen und sauber zu machen, saß Karen auf dem Geländer der Veranda, schaute ihm zu und war vergnügt darüber, wie verlegen er war, als hänge das, was zwischen ihnen geschieht, davon ab. Sie sagte nichts und ließ ihn tun; sie genoss es, dass jemand sich für sie Mühe gab. Eine angenehme Wärme begann, sich in ihrem Körper breit zu machen, hinunter bis zwischen ihre Beine.
Atemlos lud er sie hinein. Er hatte die dünne Matratze auf dem schmalen Bett mit einem grauen Laken bedeckt, und ein Kissen ohne Bettwäsche lag irgendwo auf dem Bett. Die Nachtischlampe schickte ein schwaches Licht auf das Bett, und es schien, dass nur der Ort dessen, was gleich geschehen würde, beleuchtet sein sollte, und die Seite seines Zimmerkollegen blieb im Dunkeln.
„Toilette?“ flüsterte Karen in sein Ohr und erhöhte seine Verlegenheit.
„Besser nicht…“ stotterte er entschuldigend, aber sie schloss schon die Tür hinter sich, während sie weiter vor sich hin kicherte.
Als sie wieder ins Zimmer trat, fand sie ihn auf dem Bett sitzend, mit dem Rücken zur Wand. Er suchte eine bestimmte Station im alten Radio. Sie setzte sich neben ihm. Geräusche und Krächzen barsten aus dem Gerät, bis er es schaffte, angenehmere Töne aus ihm herauszuholen. Er schaute sie verlegen an, und nachdem sie ihn anlächelte, wagte er es und näherte seine Lippen ihrem Gesicht. Sie erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich, beide sanken aufs Bett und eroberten einander, als entdeckten sie neue Welten. Das alte Eisenbett quietschte, und das Radio fiel explodierend auf den Boden, aber sie hörten nichts außer ihre Herzen, die heftig pochten, als sie einander entkleideten. Ihre Finger befühlten die nackte Haut des anderen in angespannter Erwartung und mit unendlicher Lust.
Die Zeit stand still. Es gab niemand mehr in der Welt außer sie beide.
So wie im Schlussatz stand die Zeit auch beim Lesen still. Hoffentlich findet das Buch einen deutschen Verlag – bis dahin gibt es als Trostpflaster den Film…