Jacky Levi, Synagoge, Israel, philippinische Pfleger,

Mein Te-Fillipine

Jacky Levi (geb. 1963) ist israelischer Radio- und Printjournalist, Theaterschaffender, Storyteller und Jugendbuchautor. Seine journalistische Karriere begann Levi in den 1980er Jahren bei der Jerusalemer Lokalzeitung “Kol HaIr”, wo er acht Jahre lang eine Kolumne als wohl weltweit einziger Synagogenkritiker schrieb, unter dem Titel “Ssulam Jaakow” (die Leiter Jakobs, angelehnt an die biblische Geschichte). Levi studierte Philosophie und Theater an der Hebräischen Universität in Jerusalem, und unterrichtete Theater an verschiedenen Universitäten, sowie an der renommierten “Nissan Nativ” – Schauspielakademie. Levi lebt in zweiter Ehe in Jerusalem. Er hat fünf Kinder.

Das Buch “Kan ze lo Beit Café” (hier ist kein Café) ist eine Kurzgeschichtensammlung, bei der sich jede Geschichte in einer Synagoge abspielt. Im Gegensatz zu seiner Kolumne handelt es sich aber um Fiktion. Das Buch, das 2020 im renommierten “Kinneret”-Verlag erschien, ist Levis erstes Buch für Erwachsene. Vorher schrieb er Kinder- und Jugendbücher. Die folgende Geschichte ist leicht gekürzt.

Mein Te-Filippine

Jacky Levi

Übersetzung: Benjamin Rosendahl

In der Trauerzeit um meinen Vater ging ich oft zu Gebetshäusern, die ungewöhnliche Öffnungszeiten hatten, um das Kaddisch, das Trauergebet, für ihn zu sagen. So kam es, daß ich viele kleine Gebetsstuben besuchte, die man auf Jiddisch “Schtibelech” nennt. Ohne große Begeisterung trat ich in Orte ein, die mir wie Bienenstöcke jüdischer Geschäftemacher anmuteten, und verließ sie nach ca. einer Stunde. Diese Besuche hinterließen immer eine Art saures Summen in meinem Herzen.

Die Schtibelech besuchte ich auf dieselbe Weise, die ein Diplom-Gastronom einen Fast-Food-Stand besucht, wo das Essen in fetttriefendem Papier eingewickelt wird. Weil man muss. Weil man keine Zeit oder keine Wahl hat. Jedes Mal, wenn ich in Jerusalem oder Bnei Brak in so eine Betstube eintrat, schaute ich mich um, und wunderte mich, ob unter den Betenden Stammgäste waren. Ich wusste, dass die Antwort zu dieser Frage “ja” war, aber fand es schwer zu glauben, dass jemand für das Ausüben des täglichen Gebets einen Ort auswählt, der einem Hauptbahnhof gleicht, nachdem alle Züge abgefahren sind.

Zu dem Schtibelech, um das es hier geht, kam ich ohne große Erwartungen, dass etwas Emotionales passieren würde. Aber gerade da erfasste mein Blick einen älteren Juden im Rollstuhl, und seinen philippinischen Pfleger, der ihm die Tefillin, die Gebetsriemen, um seinen Arm legte.

“Ein Goj aus dem Land der Gojim – aber: finde mir hier einen Juden mit so großer Gottesfurcht und Hingabe! Einen einzigen! Weißt du, wie ich ihn nenne? Meinen Te-Filippinen. Stimmt doch, Reb Raul?!” Raul, der Pfleger, lächelte. “Glaub mir, jene,” führte Reb Schlomo weiter aus, “haben vielleicht einen Nobelpreis gewonnen, wenn es hochkommt. Aber wenn es ein auserwähltes Volk gibt – dann sind sie es.”

Nachdem Reb Schlomo sah, dass ich ihn mit Interesse beobachtete, und teils auch ohne große Scham anstarrte, fing er ein Gespräch mit mir an.

„Ich bin wie der brennende Dornbusch. Kaum war Moische, also Moses, nähergekommen und sagte „Aber hallo! Das ist doch interessant!“, da fing der Dornbusch zu reden an. Glaubst du, Moische war der einzige, der dieses Phänomen sah?! Nein, genug Idioten waren schon vorher dort vorbeigekommen, und hatten einen Busch gesehen, der von den Flammen nicht zerstört wird. Was haben diese Idioten gemacht? Mit den Schultern gezuckt und weitergegangen sind sie. So wie Moische bist aber auch du nicht weitergegangen, sondern nähergekommen. Daher erzähle ich es dir.“

„Erzählen Sie mir was?“

„Ich erzähle dir, warum alle sauer auf mich sind. Verstehen Sie, gestern hatte Reb Raul Geburtstag. Und da dachte ich mir, was kann ich tun, um ihn etwas glücklich zu machen? Er pflegt mich schon seit vielen Jahren, wir haben aufgehört zu zählen, seit wievielen. Im Großen und Ganzen denke ich, dass er es bei mir gut hat, und ich es mit ihm gut habe. Ich habe ein angenehmes Haus. Viel Licht. Ich bin auch keine Nervensäge. Wenn ich ihn nicht brauche, dann hole ich ihn nicht. Geld füge ich ihm immer etwas hinzu, er soll mir gesund sein. Aber Essen, was machen wir mit dem Essen?“

„Was mag ich? Salzhering. Ich liebe Salzhering! Hering, mit klein geschnittenen Zwiebelstreifen. Und etwas Weinblätter und Pfeffer. Cohen bereitet mir das zu und schickt es mir. Fettiger Hering, gutes Brot mit Butter, saure Gurke. Am Schabbat auch ein Stamperl dazu. Aber er, der Arme, kriegt so ein Essen nie herunter. Er nähert sich sowas nicht einmal an. Genauso wie er ein Goj ist, ist er auch ein Zaddik, ein Gerechter. Was habe ich denn sonst zuhause? Ein Stück Kugel, also Nudelauflauf. Dünne Käsescheiben. Zu Ehren von Doktor Freulich. Meine Schwester bringt mir manchmal Hafengrütze, wo ich den Geschmack meiner Mutter herausschmecke.

Und so verging ein weiteres Jahr, und der nächste Geburtstag steht an. Was tat ich? Im Vorhof der Synagoge, wo mich Raul jeden Tag im Rollstuhl schiebt, gibt es zwei-drei Bänke, die ich „filippinisches Schtibelech“ nenne. Das auserwählte Volk. Gestern, als er für einen kurzen Moment nicht in Weitreiche war, da erkundigte ich mich bei seinen Freunden, was ihn wirklich glücklich machen würde. Ich war schockiert! Ehrlich gesagt hatte ich bis dato nicht gewusst, daß es so ein Gericht überhaupt gab. Aber ich sagte mir: Einmal im Jahr hat der Zaddik Geburtstag. Da werde ich ihm dieses Gericht bestellen.

Der Bote war etwas verwirrt. Diese Art Pizzeria suchte normalerweise nie eine Adresse in einer ultra-orthodoxen Nachbarschaft. Alleine das Bild auf dem Karton ist ein Casus Belli. Außerdem: warst du schon einmal bei uns in der Gegend? Nicht einmal der Postbote findet immer die Adressen. Und was kann so ein junger Bursche, der mit so einer tickenden Zeitbombe von seinem Moped absteigt, schon sagen? Dass es nicht koscher ist? Das riecht man kilometerweit gegen den Wind! Und ich spreche nicht nur von „koche nicht das Zieglein in der Milch seiner Mutter“. Hier hat die Ziege nie ein Zieglein getroffen, wenn du weißt, was ich meine.“

„Und was macht dieser Golem eines Pizzaboten? Hält den trejfen, also unkoscheren Pizzakarton in der einer Hand und klopft mit seiner anderen an jede Tür. Er ging wirklich von Tür zu Tür, einschließlich der Türen von ungefähr der Hälfte der respektablen Kameraden, die hier sitzen. Und der Geruch – der Geruch! Keine Frage, um was es sich handelte. Einige Neugierige öffneten die Tür, es war ein reinstes Vergnügen. Und der arme Pizzabote schwitze. Zwar hatte er einen Motorradhelm an, aber ob der ihm geholfen hätte? Und was sagt er ihnen? Ich suche Schlomo Ludminz, kennt den hier jemanden? Natürlich kennen wir ihn! Oh-ho, was da los war! Seitdem ich als Chatan Bereschit die Ehre bekam, den ersten Wochenabschnitt der Torah zu lesen, war es bei mir zuhause nicht so fröhlich gewesen.“

„Ich hatte keine Wahl. Das geht euch gar nichts an, sagte ich. Für Euch und für mich ist es vielleicht nicht koscher, aber für Raul ist das wie eine Geburtstagstorte. Von der Straße schrie man „Trejf!!! Und der „Oberrabbiner“ Jedidja, gab mir einen dieser Blicke, wo man sagt, wenn Blicke töten könnten…Auch jetzt schaut er mich mit Augen an, die dasselbe sagen. Hörst du? Gestern verkündete er, dass es ab nun verboten sei, bei mir zu essen. Vielen Dank, Rabbiner Jedidja! Und wann war das letzte Mal, dass Euer Ehren uns für eine Tasse Tee oder eine Schabbatmahlzeit besucht haben? Wie war das nochmal mit Vater und Mutter ehren? Er ist nämlich mein Sohn…Hallo! Dein Kaddisch…“

Das Kaddisch hatte ich tatächlich fast verpasst – und das war ja der Grund gewesen, das ich überhaupt in diesem Schtibelech war. Als ich fertig war, hatt Raul bereits die Tefillin gefaltet. Er schloss den Reissverschluss des Samtbeutels und sagte die zwei Codewörter, „bitte, Abba“. Beim Hören dieser Worte biss Reb Schlomo sich auf die Unterlippe, fokussierte seine Gedanken und bewegte seinen Körper leicht, fast unmerklich, aber genug, um es Raul zu ermöglichen, schnell die vier Ecken des Tallits aufzusammeln und aufzupassen, dass sich keine Teile des Gebetsschals im Rollstuhl verheddern. Jedidja, der Sohn, haute ab, ohne ein Wort zu sagen. Raul, der Te-Filippine von Reb Schlomo, schob den Rollstuhl nach draußen. Ich folgte ihm in den kleinen Vorhof, wo auf zwei-drei Bänken die Pfleger auf die Betenden warteten.

Erst jetzt stellte ich fest, dass unter dem Sitz des Rollstuhls, in dem Korb, der als kleiner Verstauraum dient, während der ganzen Zeit des Gebets der Pizzakarton von gestern gewesen war, mit dem absolut trejfen Logo der wohl unkoschersten Pizzerias dieser Stadt. In den folgenden Minuten erfreuten sich mindestens drei Mitglieder des filippinischen Schtibelechs an den Resten der Pizza.

 

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Diese Kurzgeschichte scheint von einer lange vorbeigegangenen Zeit zu sein, als man sich zur Begruessung die Haende geschuettelt hat, und in ein Gebetshaus einfach eintreten konnte, ohne Voranmeldung…

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