Roy Yeshurun, Kurzgeschichte, Israel, Kundenbetreuer, Bank

Overqualified

Roy Yeshurun ist Geschäftsmann und initiiert Projekte, ist Schriftsteller, persönlicher und kommerzieller Coacher. Sein Buch „Ein ganz gewöhnliches Mädchen“ (Achusat Bajt, 2014) kam in die Bestsellerliste im israelischen Büchermarkt und enthält witzige und absurde Geschichten, deren Helden nicht nur Menschen sind, sondern auch Tiere, Bäume und sogar der liebe Gott selbst.

Gott geht auf Arbeitssuche. Er wird Kundenbetreuer einer großen Bank, aber….
Eine Kurzgeschichte von Roy Yeshurun.

Overqualified

von Roy Yeshurun

Übersetzung: Uri Shani

Gott brauchte ein ganzes Jahr, um Arbeit zu finden. Alle Arbeitsvermittler sagten ihm, dass er für den Job eines Kundenbetreuers overqualified sei. „Laut Ihrem Lebenslauf leiteten Sie während vieler Jahre eine sehr große Firma, warum wollen Sie also einen so belanglosen Job?“ fragten ihn die Interviewerinnen wieder und wieder. „Es ist mir wichtig, von unten zu beginnen, mal schauen, wie das ist. Ich habe noch nie von unten begonnen“, antwortete er ehrlich. Aber alles nützte nichts. Überall erhielt er dieselbe Antwort.

Er versuchte, seinen Lebenslauf zu modulieren. Unter „Sprachen“ änderte er „alle Sprachen“ zu „Englisch und Hebräisch“, und unter „frühere Erfahrung“ strich er „Generaldirektor“ und schrieb „Administrationsleiter“. Unter „Ausbildung“ schrieb er „zwölf Schuljahre“, und als Namen gab er Chaim Schechter an. Es gab ja eine Grenze, inwieweit Gott die Wahrheit schleifen konnte, und er war schon ganz nah an dieser Grenze, aber er spürte, dass er einfach keine andere Wahl hatte.

Nach elf Monaten und zwanzig Tagen fand sich eine gute Seele in der Personalabteilung einer der großen Banken und sagte, dass sie bereit sei, ihm eine Chance zu geben. „Kommen Sie zu unserem Assessment-Center, und dann sehen wir weiter.“ Gott kam zu diesem Center in Tel-Aviv und wurde gebeten, Fragebögen auszufüllen und Figuren zu zeichnen. Dann brachte man ihn in ein Zimmer mit zehn weiteren Kandidaten, dort wurde ihnen geheißen, verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Gott war fasziniert. Er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, die Menschen von so nah zu erleben. Als der Gruppenteil beendet war, kam er zu einem persönlichen Gespräch mit einem Psychologen. „Ihre Tests sind ausgezeichnet“, sagte ihm Dr. Selkowitsch, als er sich noch nicht gesetzt hatte. „Aber in der Gruppendynamik waren sie völlig passiv, was ist da geschehen?“ „Tut mir leid“, sagte Gott. „Ich bin mir solche Spiele nicht gewöhnt. Es interessierte mich mehr zuzuschauen als mitzumachen.“ „Und sie verstehen, dass das ihre Chancen, angenommen zu werden, verringert?“ „Ich verspreche Ihnen, wenn sie mir eine Chance geben, werde ich mich bewähren. Ich werde ein ausgezeichneter Kundenbetreuer sein. Ich bin sicher, dass auch Sie eine Weile brauchten, bis sie der ausgezeichnete und bekannte Psychologe wurden, der Sie heute sind.“ Gott erinnerte sich vage an Selkowitsch und an seinen narzisstischen Hintergrund und wusste, dass Einschmeichelung der einzige Weg war, um angenommen zu werden. „Und was ist mit den Zeichnungen?“ fragte der Doktor. „Es scheint, dass sie ein Problem mit den Eltern haben. Erhielten Sie nicht genug Aufmerksamkeit als Kind?“ „Ehrlich gesagt, von Anfang an wurde ich als Erwachsener behandelt. Das hat seine Vor- und Nachteile. Viel Gewicht auf den Schultern, wenn Sie mich fragen“, antwortete Gott. Dr. Selkowitsch gab ihm schließlich eine Drei, auf der Skala von eins bis sieben, aber da es nicht genug qualifizierte Kandidaten gab, beschloss die Vorsteherin der Personalabteilung der Bank ihn anzustellen.

Im Ausbildungskurs, der einen Monat dauerte, lernte Gott die Grundlagen des Bankwesens, die Computerbedienung und die Lehre der Kundenbetreuung. „Erinnern Sie sich immer daran: Sie sind kein Kundenbetreuer“, wurde immer wieder gesagt. „Sie sind telefonischer Bankier. Seien Sie stolz darauf.“ Während des ganzen Kurses wurde er von den Ausbildern positiv bewertet, und nur in den Simulationen erhielt er schlechte Noten. „Sie müssen auf einem Niveau sprechen, die dem normalen Volk entspricht. Niemand spricht so wie Sie“, wurde ihm gesagt, und Gott dachte, dass dies eine ausgezeichnete Bemerkung sei und beschloss, sie sofort umzusetzen.

Im ersten Gespräch war er ein bisschen angespannt. Nachdem er mit Moses auf dem Berg gesprochen hatte, hatte er wenig Gelegenheit gehabt, persönliche Gespräche zu führen, und er spürte, dass diese Fähigkeit ihm ein wenig abhandengekommen war. „Poalim am Telefon, Chaim zu ihren Diensten“, sagte Gott, und die Frau am anderen Ende bat zu wissen, wie es um ihr Konto stehe. „Ihr Konto steht momentan auf Tausend fünf hundert zweiundvierzig Schekel im Soll“, sagte Gott, und sie fragte, ob dies heiße, dass sie in den roten Zahlen sei. „Ja, zu meinem Bedauern heißt das, dass Sie in den roten Zahlen sind. Kann ich Ihnen eine Anleihe anbieten?“ fragte Gott. „Der Zins ist viel tiefer als der Zins auf das Soll, sodass Sie davon profitieren.“ Etwas in der Stimme des Kundenbetreuers beruhigte die Frau, und sie beschloss, die Anleihe zu nehmen. „Liebe Mitarbeiter, herzliche Glückwünsche für Chaim. Er hat eine Anleihe schon im ersten Gespräch eingefädelt“, sagte der Schichtverantwortliche und klingelte. Alle Mitarbeiter klatschten, und Gott verstand nicht, waren alle so fröhlich waren.

Gott war ein Superstar. Die Mitarbeiter und die Kunden liebten ihn, er übertrumpfte alle Ziele, die ihm gesteckt wurden und war der Beste in der telefonischen Abteilung von zweihundert fünfzig Kundenberatern. „Sie sind unser bester telefonischer Bankier“, sagte ihm der stellvertretende Generaldirektor in einem persönlichen Gespräch. „Und deshalb erwarten wir von Ihnen, dass Sie jetzt einen Schritt weitergehen. Sie sind der Einzige, der dazu fähig ist.“ Und Gott machte wie ihm geheißen. In seinem nächsten Kundengespräch fragte er, ob es etwas Zusätzliches gäbe, was er machen könnte, und der Kunde sagte, er würde sich freuen, den großen Preis im Lotto zu gewinnen. „Und haben Sie diese Woche einen Schein ausgefüllt?“ fragte Gott. „Ich fülle keine Lottoscheine, ich glaube nicht an dieses Zeug.“ Gott bat ihn, einen Schein zu kaufen, und nach einer Woche erhielt einen riesigen Blumenstrauß und einen sehr bewegenden Dankesbrief. Dann begann er, persönliche Gespräche mit den Kunden zu führen, um herauszufinden, wo es ihnen wirklich schmerzt. Einer Alten half er, die Beziehung mit ihrer Schwiegertochter zu bereinigen, einem arbeitssüchtigen Mann half er, mit seinen Töchtern Zeit zu verbringen. Er verarztete seine Kunden, löste ihre wirtschaftlichen Probleme und machte sie glücklicher. Es gab Kunden, die den Kundendienst anriefen, nur um mit ihm zu sprechen und wollten von keinem Anderen bedient werden. Er erhielt die höchste Note in der Zufriedenheitsskala der Kunden, und ein spezieller Briefkasten für Briefe an ihn wurde installiert.

Nach einem Jahr wurde er ins Büro seines Abteilungsverwalters geladen, der ihm sagte, er sei entlassen. „Sie halten nicht mit. Ihre Gespräche sind zu lang.“ – „Aber der stellvertretende Generaldirektor bat mich doch, den Kundendienst zu verbessern. Ich machte, was ich konnte. Wirklich!“ – „Er hat bestimmt nicht damit gemeint, dass Sie Gespräche von einer Dauer von zehn Minuten – zehn Minuten! – machen. Ihr Durchschnitt ist acht Minuten und vierzig Sekunden, der Durchschnitt der andern ist zweieinhalb. Wir können uns das nicht erlauben“, sagte der Verwalter und reichte ihm den Entlassungsbrief.

Es vergingen zwanzig Jahre, seit Gott in der Bank gearbeitet hatte, und in diesen Jahren revolutionierte er den Kundendienst im Paradies, was die Lebensqualität dort oben wesentlich verbesserte. Aber trotz der vielen Komplimente, die er für die Verbesserungen im Bereich der Versorgung und der Betreuung erhielt, und trotzdem viele Jahre vergangen waren, konnte Gott das genaue Gefühl nicht vergessen, das er gehabt hatte, als Kobi Scha’aschua die Worte „Sie sind entlassen“ gesagt hatte. Das Blut, das plötzlich in die Beine sinkt. Der Knoten im Hals. Das blöde Lächeln, das dir auf dem Gesicht steht. Und vor allem der Zweifel, dieser Zweifel, der sich in jene Zelle des Körpers hineinschleicht, dass du vielleicht nicht wirklich so begabt bist, wie du dachtest.

Gott geht auf Arbeitssuche. Er wird Kundenbetreuer einer großen Bank, aber….
Eine Kurzgeschichte von Roy Yeshurun.
Roy Yeshurun, Photo: Meirav Basson

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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J
J
4 Jahre

So wie in dem Lied: what if Gd was one of us?
Hier:
https://m.youtube.com/watch?v=7Gx1Pv02w3Q

François Cellier
François Cellier
4 Jahre

Eine bissige Geschichte mit sehr viel Wahrheitsgehalt, die ich mit Vergnügen las. Als ich jung war und daran ging, mich um eine Professur zu bewerben, wurde ich sowohl von der Universität von Arizona wie auch von der Purdue Universität umworben. Ich entschied mich für Arizona. Als ich dies meinem Kollegen an der Purdue Universität mitteilte, schrieb er mir, dass er mir einen guten Rat mit auf den Weg geben möchte. Ich solle nicht versuchen, das System, das ich in Tucson antreffe, revolutionieren zu wollen, auch wenn ich gravierende Mängel darin entdecken sollte (er kannte mich wohl!). Ich müsse lernen, mit dem System zu leben, sonst werde ich scheitern. Verbesserungsvorschläge könne ich schon einbringen, aber nur sehr behutsam, und erst, nachdem ich mir das Recht dazu ersessen hätte. Ein wohlgemeinter und guter Rat!

Dies bedeutet allerdings, dass unsere Gesellschaft schlecht darauf vorbereitet ist, zu reagieren, wenn sich die Umgebungsparameter plötzlich ändern – wie zum Beispiel jetzt während der Covid-19 Pandemie. Unsere Gesellschaft ist unflexibel, und wenn wir Veränderungen anstreben, die dringend not tun würden, werden wir von allen Seiten bekämpft, auch wenn dies zu unser aller Unglück beiträgt.

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