Als sie eines Morgens zwei rosarote Linien auf dem Stäbchen sahen, machte er vor Freude Luftsprünge, aber für sie – fiel der Himmel auf den Kopf. Das Buch „Zwei rosarote Linien“ (Matar 2018) handelt von der Schwangerschaft als ein komplexer Prozess, einer Metamorphose, während derer das Leben der Frau sich für immer und dramatisch verändert. Die Hauptfigur entdeckt Gefühle von Trauer über den Verlust des Lebens, so wie sie es gekannt hatte, und Erwartungen auf ein neues, dessen Eigenschaften sie noch nicht kennt. Ihr Mann, wie die andern Menschen um sie herum, versteht sie nicht, und ein Riss geht durch ihre Beziehung. Als ihr geliebter Großvater, der sie gelehrt hatte, mit den Anselm zu pfeifen, und mit dem sie auf Gänseflügeln zu fernen Sternen geflogen war, stirbt, schließt sich ein Kreis. Aber dann, zwischen den Tränen, erscheint ein Lächeln, und etwas Neues beginnt.
Die Autorin Michal Steinitz, von Beruf Architektin, ist verheiratet und erzieht drei Kinder, eine Hündin und zwei Katzen. Sie lebt in den Bergen Jerusalems. Das Buch beschreibt ihre Erlebnisse während ihrer ersten Schwangerschaft.
Schwarze Löcher und Amseln
von Michal Steinitz
Übersetzung: Uri Shani
Ich schreite langsam hinter der stillen Kolonne her. Wir begleiten meinen Großvater auf seinem letzten Weg. Sein Körper ist klein und geschrumpft, als verschwinde er gleich, wie sein Leben, das von ihm gegangen ist. Sein Körper war klein, aber seine Seele riesig, und seit diese in das weit entfernte All entschwunden war, blieb nur der leichte und trockene Körperüberbleibsel, wie ein Natternhemd, und wurde, eingehüllt in ein weißes Laken, mühelos von den Männern getragen. Wenn das Laken nicht so dünn gewesen wäre, dass man fast den Körper darunter sehen konnte, hätte man meinen können, sie trugen eine lehre Bahre. So leicht und belanglos war die Last, die bis vor kurzem mein Großvater gewesen war.
Mein Beine zogen mich von alleine vorwärts, zusammen mit dem Rhythmus der anderen, und mein Geist zog mich zurück zu jenen Morgenstunden mit Großvater, meine kleine Hand in seiner großen, als wir hinauszogen, um den Feind zu bekämpfen, der seinen Garten bedrohte. Ich, die Kleine, in roten Gummistiefeln, und Großvater, der Jäger, kein Jäger wie in den Legenden, mit langem Gewehr oder vergifteten Pfeilen, sondern ein Handjäger, bewaffnet mit einem Kessel und Kuhstallstiefel. Mein Großvater liebte es zwar nicht, Tiere zu jagen, er war Vegetarier bis in die kleinsten Poren seines Körpers, und er liebte alles Lebende oder Wachsende, oder sonst irgendwie Existierende, sei es ein Wiedehopf, eine geologische Senke, oder ein Kunstwerk eines Renaissancemalers. Aber trotzdem – Jäger, denn er jagte Schnecken! Mein Großvater hatte ihnen den Krieg erklärt, denn sie hatten seinem Garten, seinem Augapfel, den Krieg erklärt.
„Wenn wir die kleinen Raubschnecken nicht einsammeln, zerstören sie den Garten“, sagte er, und meinte vor allem die stolzen Dahlien und die eleganten Gerberas, die er hegte und pflegte, die Delikatessen für die kleinen Fresser waren. Wenn er frühmorgens aufstand, als alle im Haus und im Quartier und in der Welt noch tief schliefen, zog er sich eilig an und zog zum Kampf aus, mit mir, seiner geliebten Enkelin. Wir prüften jede Pflanze, jedes Blatt und jede Blume, sammelten die kleinen Schneckenhäuser sorgfältig ein, denn wir wollten den Bewohnern nicht wehtun, und auch, weil es unangenehm war, wenn wir sie irrtümlicherweise zwischen den Fingern zerquetschten, diese schleimigen und klebrigen Viecher. Während wir herumzogen und Schnecken einsammelten, belehrte mich mein Großvater. Das war meine großväterliche Volks-Universität. Mit lebendigen Beispielen erklärte er mir die Grundsätze der Evolution und der ökologischen Nischen, und zusammen untersuchten wir die Lebewesen, die wir fanden. Wir hörten dem Vogelgezwitscher zu, und Großvater erkannte die Vögel an ihrer Stimme und ihrer Melodie, und als ich es schaffte, mit den Anselm zu zwitschern und sie mir antworteten, und ein Duett daraus wurde – war ich vor Glück beseelt. Manchmal segelten wir mit seinem Odysseus-Schiff zwischen den Sirenen zu den Kyklopen. Und manchmal flogen wir auf dem Rücken der Wildgänse des Nils Holgersson, oder stiegen zu den Ringen des Uranus hinauf und hüteten uns vor schwarzen Löchern und weißen Zwergen. Bei Großvater war alles in einem einzigen ganzen, großartigen, packenden und erhabenen Weltall verbunden. Und ich, winziger Komet im reichen riesigen All, schwebte zwischen rosaroten Blüten und den Schwertern der Lilien und sammelte mit winzigen Fingern Schnecken ein. Ich war entzückt von den taufeuchten Blättern unter der zögernden und vorsichtigen Sonne des frühen Morgens, von den frischen, durchsichtigen Morgengerüchen und von Großvaters welteröffnenden und Fantasie erweiternden Geschichten. Ohne es zu bemerken, während dieser Reise in Raum und Zeit, füllte sich unser Kessel mit der Beute – den Schnecken. Und dann kam der Moment, wo Großvater verkündete – wir haben es geschafft! Wir traten aus den Beeten in den Betonplatz, Großvater nahm mir den Kessel aus der Hand, schüttete den Inhalt auf den Beton und sofort begannen wir mit einem merkwürdigen Stepptanz, wie Traubendrescher, zerquetschten mit unseren Gummistiefeln die Schnecken. Pchchchch… Ptzchchch…Klebrig und breiig zerflossen sie auf dem Beton. Ich war immer ein bisschen angewidert und ein bisschen gebannt von der Veränderung, die sich unter meinen Beinen ereignete, aber Großvater tanzte und sang ein Trauerlied, ein Requiem auf die Schnecken, und verabschiedete sich von ihnen traurig und freudig und mit allem Respekt.
„Wir konnten nicht anders“, erinnerte er mich, und auch sich selbst. „Entweder sie oder der Garten. Das ist das Nahrungsgesetz der Natur.“
Nachdem keine Schnecke mehr ganz geblieben war, öffnete Großvater den Wasserhahn des Gartens und spritzte mit dem Gummischlauch innert Sekunden den Brei vom Beton und von unseren Stiefeln weg. Alles verschwand in den Sträuchern, und vom ganzen Hexentanz blieb nichts mehr übrig.
„Drei Vögel aufs Mal!“ gab Großvater kund. „Wir haben den Garten von seinen Raubfressern gereinigt, ihn bewässert und gedüngt. Die Schnecken sind zur Erde zurückgekehrt, um die Blumen, die sie vor kurzer Zeit noch verschlungen hatten, zu düngen. Der Nahrungskreis hat sich geschlossen.“ Er wedelte theatralisch mit der Hand und deklamierte: „Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ Er lüftete den Strohhut und machte einen Knicks. „Und jetzt, meine Alma! Jetzt ist es Zeit, dass wir uns selber düngen. Er lächelte mir zu, und wir gingen ins Haus. Meine kleine Hand in seiner großer, die meine kleine umschließt, und als wir so zum Haus gingen, erklangen aus unseren nassen Gummistiefeln laute Explosionen von Wasserblasen, die unter den Sohlen zerplatzten und zerbarsten. Vor der Haustüre steckten wir jeden Stiefel auf die Astreihe, die mein Großvater genau dafür neben der Tür hingepflanzt hatte. Auf den Socken gingen wir in die winzige Küche. Großvater zog den Klapptisch aus der Wand und stellte sein einziges Bein auf den Boden. Er nahm einen kleinen Emaille-Topf und stellte ihn auf den Gasherd, um uns das Frühstück zuzubereiten – Grießbrei. Als der Brei bereit war, goss er ihn in zwei weiße, tiefe Porzellanschalen, eine für mich und eine für ihn, und über den Brei tat er einen gefüllten Esslöffel Marmelade, die er selber zubereitet hatte, aus Erdbeeren oder Guaven, oder etwas anderem, das in seinem Garten wuchs, und ich begann, eine kleine Welt in meiner Schale zu zeichnen. Die Erbeermarmelade war rot und herausstechend auf dem weißen Brei. Und ich zeichnete eine spiralförmige Galaxie, die sich ausbreitete, wie in Großvaters Geschichten. Oder ich tröpfelte die Marmelade auf den Brei und zeichnete daraus einen Marienkäfer, aber mit umgekehrten Farben, und schaute zu, wie die Flecken langsam ihre Form änderten und zu Blumen oder Sternen wurden. Es war mir angenehm, so zu sitzen und der Bewegung zuzuschauen. Und als Großvater endlich neben mir saß und sagte: „Guten Appetit, meine Alma“, zerfloss ich vor Wonne wie die Marmelade im heißen Brei.
Alma-li! [Meine Alma, eigentlich: Alma für mich. U.S.] Keiner nennt mich mehr so. Und ich sehne mich so…
Jetzt standen alle um das dunkle Grab. Die Bahre wurde zum Loch hingeneigt, eine Seite lehnte am Grabrand, die andere wurde erhoben, um das, was darauf lag, hinuntergleiten zu lassen, hinunter, hinunter, in das schwarze Loch, das alles verschlingt, ans Ende der Welt. Der Körper meines Großvaters lag jetzt in der Tiefe der feuchten Erde, und schwarze Erdbrocken wurden auf ihn geworfen, bis sie ihn ganz bedeckten. „Gepriesen und gerühmt, erhoben…“ [aus dem Kaddisch. U.S.] Die Tränen flossen auf meinem Gesicht, und plötzlich sah ich die Ironie – mein Großvater vereinigte sich jetzt mit der Erde wie die Zigtausenden von Schnecken, die er gejagt und in die Erde gespült hatte. Jetzt war er mit ihnen! Gespiesen und verwühlt, tief unten – und sie wurden zu Dünger. „Alles geht an ein und denselben Ort. Alles ist aus Erde entstanden und kehrt zur Erde zurück.“ (Kohelet, 3, 20)
Ist das nicht poetische Gerechtigkeit? Großvater hätte bestimmt gerne mit mir darüber gesprochen. Und unter dem Schleier meiner Tränen verbreitete sich ein Lächeln.
Sehr rührend! Der Name “Alma” für die Erzählerin ist bestimmt nicht zufällig gewählt – er bedeutet “junge Frau”, oder nach christlicher Interpretation “Jungfrau”, und zwar eine, die (unbefleckt) schwanger wird – aber auch befleckt ist diese Erfahrung ein Naturwunder, und ein Ereignis, das eine Frau für immer ändert…