Jugend, Tod, Trauer, Israel, Briefe, Ruthie Vital Gilad

Wie man sich davor hütet, einen Pizzaboten zu überfahren

Heute wieder etwas für unsere jugendlichen Leser. Wir hoffen, dass es unter den Leserinnen und Lesern auch solche gibt, die jugendliche Kinder haben, oder vielleicht haben wir sogar jugendliche Leser.

„Diesen Sommer finden wir Arbeit und einen Freund.“  Das versprechen sich Alma und Michal gegenseitig. Während Michal sofort eine Beziehung mit einem Freund eingeht, bleibt Alma alleine, ohne Freund und ohne Arbeit, nur mit den Querelen mit ihrer Mutter und mit den Briefen, die ihr verstorbener Vater ihr hinterlassen hat. Und dann, am Ort, wo es am wenigsten zu erwarten gewesen wäre, trifft sie einen ungewöhnlichen Mann. Sie lernt durch ihn Metula kennen, die Kaffeehausbesitzerin, und beginnt dort zu arbeiten. Dort lernt sie, ganz klein gehackten Salat zu schneiden, trifft trauernde Menschen wie sie, und vor allem lernt sie sich selber kennen.

Einfühlsam und humorvoll beschreibt Ruthie Vital Gilad die Welt einer jungen Frau, die um ihren Vater trauert und lernen muss, an sich selbst zu glauben und den Blick auf die Zukunft zu richten.

Ruthie Vital Gilad ist eine Schriftstellerin und Dichterin. Für dieses Buch „Wie man sich davor hütet, einen Pizzaboten zu überfahren“ (Keren, 2014), erhielt sie den „Dwora-Omer-Preis“ für Kinder- und Jugendliteratur. In diesen Tagen erscheint ihr dritter Gedichtband.

Einfühlsam und humorvoll beschreibt Ruthie Vital Gilad die Welt einer jungen Frau, die um ihren Vater trauert.

Wie man sich davor hütet, einen Pizzaboten zu überfahren

von Ruthie Vital Gilad

Übersetzung: Uri Shani

…Wir fuhren nach Hause. Der Schabbat war schon vorüber. Mama saß am Steuer, ich neben ihr, wir waren beide hundemünde und vollgefressen. Wir aßen viel, denn wir sind uns gutes Essen von zu Hause nicht gewöhnt.

Der Geburtstag von Ro’i, meinem Cousin. Wir feierten zehn Jahre der Belästigung und der Verwöhnung. Der überfüllte Tisch stand im Garten, und manchmal ging ich hin, um meinen Teller zu füllen. Aber meistens blieb ich im Haus, schaute fern, spielte am Computer und versuchte, anspruchsvolle Rätsel aus Magazinen zu lösen, die ich im Wohnzimmer fand.

„Mama, was bedeutet der Ausdruck ‚die Krönung des Tages‘? Hat das etwas mit dem Zeitvertreib eines Königs zu tun?“ fragte ich, und sofort bedauerte ich, dass ich gefragt hatte.

„Ich geb dir ein Beispiel. Die Krönung des Tages ist, dass du dich für irgendetwas interessierst. Ro’i mag dich so sehr. Alle mögen dich. Konntest du nicht ein wenig geselliger sein? Glaubst du, das macht sich, dass du die ganze Zeit mit schlechter Miene drinnen sassest?“

„Wir waren doch im Dorf, also darf ich. Außerdem weißt du, dass ich sie nicht mag. Sie bemitleiden mich, als sei ich ein streunender Hund, den niemand aufnehmen will.“

„Also bitte, Ali. Mach mal ’n Punkt. Ich hab dir schon gesagt: Das ist alles in deinem Kopf. Sie lieben dich und fühlen Schmerz mit uns zusammen. Was willst du denn von ihnen? Es ist nicht ihre Schuld.“ Und in Klammern, die sie nicht aussprach, aber ich hörte sie, fügte sie hinzu: „Und auch nicht meine!“

Wir schwiegen wieder. Besser so. Sicher im Sommer, wenn du nicht mal die Kraft hast, dich zu streiten.

Nach zehn Minuten kamen wir nach Hause.

Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür.

Stimmt nicht, Mama. Das ist die Krönung des Tages.

Was hinterlässt ein Mensch? Er kann immer dreckige Wäsche und enttäuschte Menschen hinter sich lassen. Das ist es, was ich hinter mir lasse.

Und wer tot ist? Er kann eine müde Frau und eine Tochter hinterlassen, bei der „alles nur in ihrem Kopf ist“, und eine traurige und unschuldige Familie. Aber mein Vater hat Brosamen hinterlassen, damit ich ihn immer finde.

Junge Frau,

Kannst du dich erinnern, als du klein warst, und ich zu Mama sagte, das Eis sei gebrochen, da hast du mich gefragt: „Und klebst du es jetzt wieder zusammen?“

Du hast nicht gefragt, ob ich das überhaupt kann. Es war dir klar, dass ich das kann. Dass ich alles kann. Du hast gefragt, ob ich es jetzt mache. Als hättest du nicht nachgeschaut, wann der Zug ankommt, nur wann er abfährt.

Ich kann mich sehr gut an diesen Moment erinnern. Es gab zwar unendlich viele bedeutende und teure Momente mit dir, aber an diesen Moment erinnere ich mich besonders, weil du ein so gänzliches Vertrauen auf mich bezeugtest. Dein Vertrauen darauf, dass ich der Herrscher über alle Welten bin, der beste Eiskleber, den es gibt.

Ich fühlte mich wie ein Comic-Held. Jaron Poleg von der Meir-Grossmann-Straße 18, sieht von außen ganz normal und durchschnittlich aus, aber eigentlich, und das wissen nur er und seine Tochter, hat er übernatürliche Kräfte und kann zerbrochenes Eis wieder zusammenfügen.

Und jetzt, da etwas in meinem Körper zerbrochen ist und ich es nicht flicken kann, und auch die Ärzte können es nicht, wie sich herausstellt, da hole ich wieder dieses Gefühl hervor, das du mir gabst, als sei es eine persische Katze unter dem Sofa, und ich streichle sie wieder und wieder.

So wisse denn: Auch wenn es momentan so aussieht, dass ich nicht immer bei dir sein werde, um zerbrochenes Eis zusammenzukleben, und noch schlimmer: ich selber werde einen riesigen Eisberg auf dir zerschmettern, so sollst du wissen, dass dieses Vertrauen gegenseitig ist. Ganz völlig gegenseitig. Ich habe volles Vertrauen in Dich, nicht weniger, als das Vertrauen, das Du in mir hast. Ich weiß, dass du übernatürliche Kräfte hast, um selber zerbrochenes Eis zu flicken, und kein Eisberg kann dir standhalten, auch wenn Du das momentan noch nicht so empfindest.

Höre nie, auf diese Welt zu vertrauen, auf das Gute, das noch kommen wird, und auf keinen Fall höre auf zu lieben. Zerbrochenes klebt man mit dem Herzen zusammen, nicht mit den Händen. Vergiss das nie. Das sagt Dir der beste Eiskleber aller Zeiten.

Papa

Papa hinterließ mir Briefe in seinem Computer. Nachdem er starb, gab mir Mama seinen Computer mit allen Briefen, die er mir geschrieben hatte. In den ersten zwei Jahren öffnete ich sie nicht. Ich konnte nicht. Nur schon der Gedanke an sie zerquetschte mir das Herz. Ganz langsam wagte ich es, einen Blick auf sie zu werfen. Heute kann ich sie auswendig.

Einfühlsam und humorvoll beschreibt Ruthie Vital Gilad die Welt einer jungen Frau, die um ihren Vater trauert.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
2 Jahre

Sehr schoen!

Frage an die Autorin und auch den Uebersetzer: macht diese Kategorie „Jugendliteratur“ ueberhaupt Sinn? Ich denke, dass Kinder und Jugendliche nicht beschuetzt werden, mit vereinfachter Sprache, Zensur und Happy End. Und auch hier ist das nicht der Fall – die Geschichte ist ein ernstes, „Erwachsenen“-Thema (Tod eines Elternteils) und die Sprache auf hohen Niveau. Warum also diese Kategorisierung?

Benjamin
Benjamin
2 Jahre
Antworten  Uri Shani

Beschuetzt werden vor der Realitaet des Erwachsenenlebens – Gewalt, Sex, Krieg, Tod – den grossen Themen der Literatur…

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