Exklusiv bei Re:Levant ein Auszug aus dem Buch von Arye Sharuz Shalicar „Der neu-deutsche Antisemit“ über seine Erfahrung als Jude in Deutschland. Wir danken dem Autor für die Genehmigung! Und hier geht’s schon los:
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, dass ich zum Bezirksfeind Nummer Eins werden würde, sobald ich mich als Jude „outete.“
Doch genau das war der Fall.
Mit 14 saß ich nach der Schule am U-Bahnhof Pankstraße im Herzen von Berlin-Wedding. Ich war noch relativ neu im Bezirk und hatte noch nicht so viele Freunde, aber Sahin, ein Deutschtürke, war einer von ihnen und saß an meiner Seite. Wir schrieben das Jahr 1991, fast 92, und es waren Tage der Annäherung zwischen den Palästinensern und den Israelis. Es waren die Tage der Osloer Friedensgepräche. Aber was hatte ich mit Israel und Oslo zu tun? Nichts!
Nur mit Palästinensern hatte ich enorm viel zu tun, denn sie stellten eine große Gruppe im Wedding dar und standen am U-Bahnhof Pankstraße plötzlich vor mir. Es waren etwa zehn Männer im Alter von 17 bis 20 Jahren. Ihr Anführer hielt eine Packung Erdbeeren in der Hand, baute vor mir auf und sagte mir im Befehlston:„Jude, mach den Mund auf!“ Ich war entsetzt. Auch Sahin wusste nicht, wie zu reagieren.
Kurz darauf schrie er mich erneut an:„Jude, mach dein dreckiges Maul auf!“ Ich hatte Angst und machte den Mund auf. Er stopfte mir eine Erdbeere in den Mund und sagte „Friss Jude, friss!“ Ich spuckte sie aus und fragte, was das denn solle, was ich ihnen getan hätte? Von hinten kam ein anderer Palästinenser nach vorne, gab mir eine enorme Backpfeife und schrie mich an: „Jude, verpiss dich aus unserem Bezirk.“
Mein Kopf zerplatze fast von einer Wucht der Backpfeife. Der junge Mann war Amateurboxer. Ich fühlte mich öffentlich und vollkommen grundlos misshandelt und gedemütigt. Die Gruppe ging lachend weg. Es waren die Jungs der PLO-Gang.
Dieser Zwischenfall, jene langen Momente der öffentlichen Demütigung, haben mich sehr stark geprägt und begleiten mich bis zum heutigen Tag, 25 Jahre später, fast täglich.
Es war einer von Dutzenden, wenn nicht hunderten antisemitischen Zwischen-fällen, denen ich in den darauffolgenden Jahren von Seiten junger aggressiver Muslime ausgesetzt war.
Judenhass war unter ihnen weit verbreitet. Es war eine Ausnahme, wenn ein junger Muslim den Juden gegenüber keine Vorurteile hatte und keinen tiefen Hass verspürte. Und das, obwohl keiner von ihnen je einem Juden über den Weg gelaufen ist. Ich war für sie alle der erste Jude und manch einer war bereit, die Freundschaft mit mir zu kündigen, nur weil es nicht mit sich ausmachen konnte, mit einem Juden befreundet zu sein.
In der 9. Klassse auf dem Diesterweg-Gymnasium an der Frankstraße, saß ich im Unterricht neben meinem besten Freund, einem Deutsch-Inder namens Mahavir. er war für mich ein Deutsch-Inder genauso wie ich für ihn ein Deutsch-Iraner war. Wie ein Bruder war er für mich, bis er mich im Deutschunterricht vollkommen überraschend und abgrundtief enttäuschte.
Wir lasen ein Buch, das zur Zeit der Naziherrschaft über Deutschland spielte. An einer bestimmten Stelle ging es um ein kleines jüdisches Mädchen, das sich vor den Nazis verstecken musste, um ihr Leben zu retten. Mahavir drehte sich zu mir um und flüsterte mir zu:„alle Juden sollten getötet werden“.
Ich war schockiert und fragte ihn, wieso er denn so etwas sagen würde, woraufhin er mir antwortete: „Die Juden sind unsere Feinde.“ Daraufhin konnte ich nicht anders, weil ich wirklich nicht verstand, was er mit „unsere Feinde“ meinte, gneauso, wie ich damals nicht verstand, was meine Eltern mit „wir“ meinten, und fragte ihn: „Was meinst du mit unsere Feinde?“
„Juden sind die Feinde von uns. Die Feinde von uns Muslimen.“
„Ich bin aber kein Muslim.“
„Wie, du bist kein Muslim? Natürlich bist du Muslim. Du bist doch Iraner.“
„Ja, meine Eltern stammen aus dem Iran. Sie sind jedoch keine Muslime, sondern Juden.“
„Das kann nicht sein. Du verarschst mich gerade. Es gibt keine iranischen Juden.“
„Oh doch. Ich bin Jude, und was du gerade gesagt hast, hat mich sehr enttäuscht.“
„Sharuz, hör auf zu spinnen. Du kannst kein Jude sein. Erstens, weil ich Juden aus der Ferne erkenne und zweitens, weil du mein Freund bist.“
„Ich werde es dir beweisen. Morgen.“
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir uns, falls überhaupt, an jenem Tag verabschiedeten. Ich ging niedergeschmettert nach Hause und legte mir die goldene Davidsternkette um, die ich von meiner Großmutter bei unserem letzten Besuch in Israel geschenkt bekommen hatte. Es was ihr Geschenk zu meiner nie stattgefundenen Bar Mizwa.
Am nächsten Tag ging ich mit der Kette unter dem Pullover zur Schule, und als wir dann wieder nebeneinander saßen, holte ich sie raus, hielt sie Mahavir vor seinen Augen und sagte:
„Siehst du Mahavir, ich bin ein Jude.“
Ich konnte mitverfolgen, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Sein Gesichtsausdruck war der eines Menschen, der eine Leiche gesehen hatte. In jenem Moment, als ich ihm meinen Davidstern zeigte, begrub er unsere Freundschaft. Begrub er mich!
Er stammelte nur noch die folgenden Worte heraus:„Du bist tatsächlich ein Jude. Ein echter Jude.“
Mahavir setzte sich um. Nie wieder sprach er mit mir. Wenige Monate später zogen seine Eltern mit ihm zurück nach Indien und ich sah ihn nie wieder.
Aber sein Gesichtsausdruck, als er meinen Anhänger zu Gesicht bekam, verlässt mich nicht. Es war ein bedeutender Moment, der für mich eine bittere Realität widerspiegelt. Es geht vielen Menschen, unter ihnen auch Muslimen, nicht wirklich um den sogenannten Nahostkonflikt. Sie sind einfach voller Hass gegenüber den Juden erzogen worden. Wie sonst kann man sich rational erklären, dasds ein 14-jähriger, in Deutschland geborener Junge, dessen Eltern aus Indien stammen, der Annahme ist, dass er Juden aus der Ferne erkennen kann und seinem besten Freund, einem Deutsch-Iraner, die Freundschaft kündigt, nur weil er Jude ist?
Meine Jugendjahre waren ein einziger Kampf ums Überleben. Ein Spießrutenlauf. Die Angst begleitete mich. Ich wusste, dass jeder Tag mein letzter sein könnte. Messerstechereien und Schießereien waren im Wedding absolut keine Seltenheit. Jedes Mittel war mr somit Recht, um mich und meine zwei jüngeren Geschwister zu verteidigen. Wir waren in der krassen Minderheit und ich war nicht besonders mutig und stark, also gab es nur einen einzigen Weg: den Weg der Integration, fast schon der Assimilation, nicht in Deutschland, sondern in die muslimische Parallelgesellschaft Deutschlands.
Und ähnlich wie Johnny Depp in Donnie Brasco fühlte ich mich mit der Zeit ziemlich wohl unter ihnen, meinen türkischen, kurdischen, libanesischen und palästinensischen Bekannten und Freunden.
Ich sprach wie sie. Ich aß wie sie. Ich benahm mich wie sie. Ich war sie!
Eine Handvoll Deutschtürken sind mir und unserer Freundschaft bis heute treu geblieben, und das, obwohl ich nach Israel auswanderte und sogar Offizier in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften wurde.
Ein Großteil meiner Nachbarschaft jedoch konnte sich nie damit abfinden, dass ihr Freund ARO Jude ist. Judenwitze waren an der Tagesordnung und Israel wurde verflucht und für alles schuldig gesprochen. Je älter ich wurde, desto mehr störte es mich. Mir gelang es zwar jahrelang, mit ihnen und neben ihnen aufzuwachsen, sie in- und auswendig zu kennen, sie lieben und gleichzeitig hassen zu lernen, aber ich war nie wirklich nie glücklich, nie wirklich anerkannt, nie wirklich frei, nie wirklich ich selbst.
Anfang 2001 wanderte ich schließlich aus. Nach Israel. Nicht, weil ich einen besonderen Bezug fühlte oder eine reiche Tante hatte, die mir das Studium hätte bezahlen können, sondern gerade aus dem Grund heraus, dass Israel das einzige Land war, dass von den aggressivsten muslimischen Rädelsführern im Wedding immer und immer wieder verspottet und verflucht wurde. Ich entwickelte im Laufe meiner Jugend eine Identität mit dem „Opfer“, mit dem jüdischen Staat.
Ein Staat, in dem ich anerkannt bin und als Jude frei leben kann. In dem ich selbst sein kann.
Wenn euch der Auszug aus dem Buch gefallen hat, dann könnt ihr es im Buchhandel erwerben oder online, wie z.B. von diesem Link (Anmerkung der Redaktion: wir verdienen von dem Link nichts, außer an der Freude, die uns zu Teil wird, das unsere Veröffentlichung dazu gedient hat, dass dieses Buch gelesen wird).