Chebron, Hebron, Massaker, Araber, Juden, Israel

Tarpat 1929 und das Massaker in Hebron

Das Jahr Null im jüdisch-arabischen Konflikt um Palästina?

Letzten Monat jährte sich zum 90. Mal, was „Massaker“, oder „Ereignisse“ genannt, und was Hillel Cohen als „das Jahr Null im jüdisch-arabischen Konflikt um Palästina“ bezeichnet. 133 Juden und 110 Araber wurden ermordet, die Hälfte der ermordeten Juden wurden in Hebron ermordet.

Haim Rachamin Jossef Franko wurde 1835 in Rhodos geboren und kam 1868 mit Frau und Kindern nach Hebron. Er gründete das Krankenhaus, das heute als das Hadassa-Haus bekannt ist. Sein Enkel Abraham Franko war 32 Jahre alt zur Zeit des Massakers. Sein Leben lang bemühte er sich um die Besitztumsrechte der Juden in Hebron. Nach dem Krieg von 1967 übergab er die Grundrechte auf das Hadassa-Haus Moshe Levinger, einem der Gründer von Gush Emunim und jahrelang Symbol der extremen Rechten. Bis heute ist das Hadassa-Haus einer der explosivsten Brennpunkte im israelisch-palästinensischen Konflikt.

Eine andere jüdische Familie, die das Massaker in Hebron überlebt hat, war die Familie Bajayo. Diese Familie stammte von portugiesischen Marranos ab, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Hebron kamen. Haim Bajayo war der letzte Rabbiner in Hebron. Für seinen Enkel, Haim Hanegbi, ein paar Jahre nach dem Massaker geboren und letztes Jahr gestorben, war die politische Konsequenz ein lebenslanger Kampf für ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Araber, was ihn zu einem „Linken“ machte.

Haim Hanegbi, Photo: Eran Turbiner

15 Monate nach Ausbruch der „Zweiten Intifada“ schrieb er folgendes:

Die israelische Armee im Warschauer Ghetto

Historische Gedächtnishilfe: Gen Ende des britischen Mandates, als die Gewalttaten von “Etzel” und “Lechi”  – Terroristengruppen gemäß der damaligen Sprachregelung – häufiger und heftiger wurden, befahl General Barker, Kommandant der britischen Truppen in Palästina, seinen Soldaten, keinen gesellschaftlichen Kontakt mehr mit der jüdischen Bevölkerung zu pflegen und sich nicht mehr jüdisch verwalteten Clubs und Läden zu nähern. So “werden sie [die Soldaten] die Juden auf die Weise strafen, die dieser Rasse verhasster ist als jede andere: durch den Schlag auf ihre Brieftaschen und durch die Demonstration unsres Ekels ihnen gegenüber…”

Das war genug, um im Lande einen öffentlichen Sturm auszulösen. Der Sturm gelangte nach Britannien, übersprang den Ozean und verbreitete sich auch in den USA. Die Briten waren gezwungen, eine Entschuldigung zu veröffentlichen, um nicht zu Antisemiten gestempelt zu werden. Nicht nur Erwachsene, auch Kinder wie wir lernten, den General zu hassen. Gerede über “den Juden auf die Brieftasche schlagen” war jahrelang ein Beispiel für deftig antisemitischen Stil. In den Jugendbewegungen und in der Schule war Barker Hassobjekt.

Und siehe da, hier und jetzt, im jüdischen und demokratischen Staat, im Januar 2002, mehr als 50 Jahre nach Barker, lasen wir alle folgende Worte:

“Um uns gut auf die folgende Schlacht vorzubereiten”, sagte letzthin einer der Kommandanten der Armee in den besetzten Gebieten, “ist es gerechtfertigt und sogar nötig, von jeder Quelle zu lernen. Wenn das Ziel die Eroberung eines dicht bevölkerten Flüchtlingslager ist, oder der Kassba von Nablus, und die Pflicht des Kommandanten die Erreichung dieses Ziels ohne Opfer, dann muss er zuerst Konsequenzen früherer Schlachten analysieren und sich diese einverleiben; auch – so grausam sich dies auch anhören mag – wie die deutsche Wehrmacht im Warschauer Ghetto agierte.”

Der Journalist Amir Oren, der diese Worte letzten Freitag in “Haaretz” veröffentlichte, fügte hinzu: “Der Offizier bewirkte tatsächlich eine Erschütterung, unter anderem, weil er nicht der einzige ist, der so denkt…” Aber, Oren, der Erschütterte, verlangte nicht den Rausschmiss des Offiziers. Auch seine Redaktoren nicht. Niemand in Israel, außer dem Schriftsteller Chanoch Bertov, der einen bewegten und wütenden Brief an die “Haaretz”-Redaktion schrieb, reagierte.

Der Generalstabschef Schaul Mofas, nationaler als das nationale Lager, fand es nicht am Platz, dem Offizier die Uniform zu zerreißen und ihn zum Teufel zu schicken. Meint auch der Generalstabschef, man sollte von der Erfahrung Jürgen Stoops lernen, des SS-Generals, der die Liquidierung des Warschauer Ghettos befehligte, um morgen besser “ein dicht bevölkertes Flüchtlingslager oder die Kasba von Nablus zu erobern”?! Stoop schrieb tatsächlich tägliche Berichterstattung und dazu noch eine abschließende Berichterstattung über die Vernichtung des Ghettos im April-Mai 1943.

Es hat keinen Sinn, mit dem Offizier zu diskutieren, “der nicht der einzige ist, der so denkt”, aber es ist eine grundlegende menschliche Pflicht, das militärisch-politische Establishment, das ihn (und sie) verteidigt und pflegt, anzuklagen. Wenn dieser Offizier und diese Offiziere ein dicht bevölkertes Flüchtlingslager und die Kasba von Nablus erobern werden, wird der General Barker ausschauen wie ein sich verplappernder Idiot.

Wer lernen will, ”wie die deutsche Wehrmacht im Warschauer Ghetto agierte”, muss wissen, dass das tausendjährige Reich nur knappe zwölf Jahre wütete, bis es in Rauch und Asche unterging.

(Maariv, 1.2.2002)

Eine andere Familie ist die Familie Kastel, auch eine sephardische Familie. Meir Shmuel Kastel wurde in seinem Haus umgebracht. Sein Enkel Meir Shmuel Gabay war Jurist und von 2000 bis 2002 Präsident des Verwaltungsgerichts der Vereinten Nationen, als einziger Israeli, der jemals einen offiziellen Posten in der UNO einnahm. Sein Sohn Yakir Gabay ist Besitzer von Aroundtown, dem größten börsennotierten Immobilienunternehmen in Deutschland.

Yakir Gabay, Photo: Aroundtown

Auf beiden Seiten haben sowohl Juden wie Araber verschiedene Konsequenzen aus dem Massaker in Hebron und im ganzen Land gezogen.

Hillel Cohen gehört zur Gruppe der „Neuen Historiker“, wie Ilan Pappe, die versuchen, die Geschichte dieses Landes gemäß Dokumenten, die jetzt frei ersichtlich sind, neu zu beleuchten, nicht unbedingt, wie es die offizielle Linie möchte.

Das Zündholz, das das Feuer im August 1929 entfachte, war der Konflikt um die Klagemauer, auf hebräisch „Hakotel“, auf arabisch „AlBurak“ genannt, und deshalb werden die Ereignisse im August 1929 auf arabisch „die Burak-Revolution“ genannt.

Gibt es eine historische Wahrheit?

Cohen zeigt in seinem Buch „Tarpat – das Jahr Null im jüdisch-arabischen Konflikt um Palästina“, wie tief der Unterschied in der Rezeption dieser Ereignisse
ist, einerseits von jüdischer Seite, andererseits von arabischer Seite. Cohen bezeichnet sich selber zwar als Zionist, es ist ihm aber wichtig, die andere Seite anzuhören. Um zu verstehen. Und deshalb ist das Buch nicht nur ein Geschichtsbuch, sondern auch ein Geschichtenbuch. Er erzählt die verschiedenen Geschichten aus erster Hand. Und deshalb ist es auch nicht ganz umfassend. Er erzählt viele Geschichten von Juden, die ermordet wurden, beginnend am Rand der Ereignisse: in Jaffa und Tel-Aviv, und er erzählt die Geschichte der Palästinenser, die in Madschdal ermordet wurden, das ist eine kleine Stadt, deren Einwohner erst nach dem Unabhängigkeitskrieg 1950 nach Gaza vertrieben wurden, und dort wurden 1929 neun Palästinenser ermordet und kein Jude. Manchmal ist es völlig unklar, was der Grund für den spezifischen Mord war. Vielfach scheint es einfach Rache zu sein, wie zum Beispiel der Fall von Simcha Chinkis, der den Mord seiner Kameraden rächte.

Seine Schlussfolgerung nach Betrachten der verschiedenen Geschichten:
„Eine Verpflichtung zur Wahrheit charakterisierte keine der beiden Seiten.“ In diesem Buch gibt es keine „Guten“ und „Schlechten“. Er versucht, verschiedene Sichtweisen darzustellen, und darum ist er natürlich auch von allen Seiten angegriffen worden. Warum ausgerechnet soll dieser grässliche Ausbruch des Konfliktes „das Jahr Null“ sein? Warum nicht 1920, einem ähnlichen Ausbruch, neun Jahre früher? Oder 1936, der „Große arabische Aufstand“? Oder 1917, die „Balfour-Deklaration“? Oder 1882, der Beginn der zionistischen Einwanderung?

Diese Woche habe ich mit Hillel Cohen gesprochen. Er war sehr gerne bereit, mit mir zu sprechen, aber bevor ich die erste Frage stellen konnte, fragte er mich: „Warum soll das Ganze die Deutschen überhaupt interessieren? Ich habe da ein Problem damit. Wir müssen die Probleme zwischen uns und den Palästinensern selber lösen. Die europäische Einmischung, historisch gesehen, ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.“

Nach dieser Einleitung war er dann trotzdem einverstanden, auf meine Fragen zu antworten.

U: Warum kommen verschiedene Menschen zu verschiedenen Schlüssen nach diesem Massaker?

H: Ich glaube, die Menschen benutzen Ereignisse – und das ist ziemlich trivial -, um zu rechtfertigen, woran sie sowieso glauben. Es geschieht sehr selten, dass ein Ereignis deine Auffassung ändert. In den meisten Fällen beweist dir ein Ereignis, dass du recht gehabt hast.

U: Aber Du hast diese Ereignisse „Das Jahr Null“ genannt. Also haben diese Ereignisse trotzdem etwas verändert.

H: Vor 1929 glaubten viele Zionisten, dass die Araber das zionistische Projekt schlussendlich akzeptieren werden. Entweder gerne (weil es gut für sie sei) oder weniger gerne. Nach 1929 haben die Zionisten verstanden, dass es ein schwerer Kampf werden wird. Es war das Jahr Null in Bezug auf die Militarisierung der Gesellschaft.

U: Meine nächste Frage ist ähnlich: Warum kommen verschiedene Menschen zu verschiedenen Schlüssen, wenn sie historische Dokumente anschauen? Du und Ilan Pappe einerseits, Benny Morris andererseits.

H: Die Frage ist zuerst einmal: Welche Dokumente schaust du an und welche nicht? Und das hat damit zu tun, was deine Aufgabe ist. Wenn deine Aufgabe als Historiker ist, Kritik an deiner Gesellschaft zu üben, dann findest du Ungerechtigkeiten und betonst sie. Wenn deine Aufgabe ist, deine Nation zu umarmen und die nationale Einheit zu stärken, dann findest du Dokumente, die das beweisen.

U: Und was ist deine Aufgabe, Hillel, wenn du über 1929 schreibst?

H: Meine Aufgabe ist, genau das zu zeigen: Wenn wir die Geschichte erzählen, betonen wir, was uns wichtig ist. Und wer wirklich verstehen will, muss alle Seiten anschauen.

U: Dann stehst du also abseits, du schaust auf das Ganze von außen?

H: Ja, schon.. aber wer wirklich von außen auf das schaut, wird auch für mich einen Platz in diesem Bild finden. Man kann sagen, es gibt drei Grundtendenzen: Die Kritik, die Euphemisierung, und … na ja, ich will nicht sagen, dass ich die Wahrheit suche und die andern nicht, aber (lacht)… ich meine nicht die historische Wahrheit, sondern die Wahrheit der historischen Arbeit.

U: Kann man denn heute, im 21. Jahrhundert, überhaupt noch von „die Wahrheit enthüllen“ sprechen? Kann man noch fragen: „Was ist wirklich geschehen“?

H: Es gibt so viele Wirklichkeiten und Wahrheiten, jeder enthüllt die seine, und die Aufgabe ist jetzt die des Lesers. Er muss sich sagen: ‚Ok. Ich habe hier diese Wahrheit, und hier habe ich die andere Wahrheit.‘ Normalerweise beurteilt man dies als widersprechende Wahrheiten. Aber das ist falsch. Diese Wahrheiten widersprechen sich nicht. Eine der Dinge, die ich im Buch zeige, ist: Die verschiedenen Sichtweisen widersprechen sich nicht unbedingt. Die Juden sehen, dass Juden ermordet wurden. Die Araber sehen, dass Araber ermordet wurden. Das ist natürlich. Das Natürliche ist, dass jeder um seine Ermordeten weint. Aber das ist genau das Problem. Wenn du dich nur für dich selbst interessierst, und der Andere interessiert dich nicht, dann werdet ihr euch ewig streiten.

Wir haben noch eine Weile weiter gesprochen, und am Schluss sagte ich ihm auch, warum ich glaube, dass wir dem deutschsprachigen Publikum erzählen sollten, was hier geschieht.

Ich glaube, Cohens Buch sollte übersetzt werden, denn es beleuchtet die blutige Geschichte dieses Landes auf eine besondere Weise. 

Hillel Cohen: Tarpat: Das Jahr Null im jüdisch-arabischen Konflikt um Palästina. 2013, Keter.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Mayada
Mayada
5 Jahre

Sie schreiben: „…und dort wurden 1929 neun Palästinenser ermordet und kein Jude.“
Wen meinen Sie damit? In der Zeit des britischen Mandats nannten sich hauptsächlich Juden Palästinenser und die arabische Gesellschaft eher nicht; sie nannte sich schlicht und einfach Araber. Der Begriff Palästinenser für Araber als eigenes Volk kam erst durch Arafat 1964 auf. Man sollte bei den Fakten bleiben und nicht durch ’neue‘ Historie ersetzen, wo Fakten nicht im Mittelpunkt stehen.

Jochi Weil-Goldstein
Jochi Weil-Goldstein
4 Jahre

Lieber Uri
Habe Dein Interview mit Hillel Cohen mit Interesse gelesen, dies deshalb, weil seit Jahrzehnten immer wieder Bezug auf das Massaker genommen wird.
Die Fragen nach der Wahrheit, den Wahrheiten, der Wirklichkeit und den Wirklichkeiten beschäftigen mich weiterhin.
In einer Antwort an eine Verwandte heute Morgen habe ich das Prinzip des „audiatur et altera pars“ in einem Konflikt vorgeschlagen.

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