Gal Amir: „Ich schreibe normalerweise Kriminalromane, aber das hier ist ein historischer Roman. Ich habe in den letzten Jahren ein Doktorat in Jurisprudenz gemacht, was mir eine Ahnung über das osmanische Imperium gegeben hat. Aber ich wollte mehr darüber erfahren und lernte und forschte, und dieses Buch ist ein Teil des mentalen Produktes aus dieser Zeit meines Lebens.“
Der Roman „Haudegen Engarde“ (Kinneret Zmora-Bitan Dvir, 2019) ist eine pittoreske Reise des Jakob ben Simon Hacohen, genannt Jacques, nach seiner Taufe: Pierre Dufront, genannt „Engarde“, eines französischen Jeschiwe-Schülers, der gegen seinen Willen ein Pirat wird und nach Irrfahrten auf dem Mittelmeer in die Wirren des Krieges zwischen dem beduinischen Emir Daher el-Omar und den osmanischen Truppen gerät. Der folgende Auszug ist eine „Action“-Szene, die für das Buch charakteristisch ist, in einer gewalttätigen Epoche in einem Land ohne Gesetz am Rand des Imperiums. Die Hauptfigur befindet sich auf der „San Sebastian“, einem maltesischen Piratenschiff, angeführt von Helenie, einer befreiten karibischen Sklavin, deren Ziel es ist, Sklaven zu befreien. Dieses Schiff wird ihn von Frankreich des Louis XV. zum Zentrum des Geschehens – nach Tiberias – bringen.
Haudegen Engarde
von Amir Gal
Übersetzung: Uri Shani
…Während dieser ganzen Zeit fuhr der türkische Kapitän fort, uns zu beschießen und sich uns sehr schnell zu nähern. Als er schon ganz nah war, sah ich die Ruder in gleichmäßigem schnellem Tempo rudern. Sklaven. Wie viele von ihnen waren aus meinem Volk? Und wenn mich mein Schicksal nur um wenige Millimeter in eine andere Richtung geworfen hätte, würde ich heute als Sklave in Richtung der „San Sebastian“ rudern, anstatt als freier Mann auf ihrem Deck zu stehen?
Helenie sah die Ruder der Sklaven auch und wütete. „Lass keinen am Leben. Und nimm keinen Sklaven gefangen“, sagte sie zu Baldesar. „Lass die Boote ins Wasser und stürme das Schiff!“
Er begann, Befehle zu erteilen, und bald waren fünf mit Korsaren beladen Boote im Wasser. Das sechste, das von Baldesar, auf dem auch ich war, wurde gerade ins Wasser gelassen, als Helenie Einhalt gebot.
„Santeria“, sagte sie.
„Haben wir Zeit dafür?“ fragte er.
„Dafür haben wir immer Zeit“, lachte sie laut.
Sie reichte ihre Hand, und von irgendwo erschien der glatzköpfige Pater Lucas mit einem großen Messer in der Hand. Er machte einen kleinen Schnitt in ihrer Hand und drückte seinen Finger auf ihr Blut. Wir, die sechs Piraten auf dem Bott von Baldesar, knieten vor ihr nieder, während Lucas mit dem Finger das Zeichen des verkehrten Kreuzes mit Helenies Blut auf unsere Stirn machte, und sie sang ein Lied mit ihrer tiefen Stimme in einer fremden Sprache. Im Lied waren Wörter auf Französisch und Spanisch, aber zum großen Teil war es in einer rhythmischen und seltsamen Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Während sie sang, kam ein Junge und gab ihr eine Trommel, und sie begann, ekstatisch darauf zu trommeln, und ihr rotes Blut befleckte die weiße Haut, die auf die Trommel gespannt war. Ich wagte mich nicht zu fragen, wem diese Haut einmal gehört hatte.
„Ego non baptizo te in nomine patris, sed in nomine diaboli!“ schrie Lucas auf lateinisch. Das war das Zeichen. Wir beeilten uns und steigen ins Bott runter, unsere Stirne gezeichnet mit Helenies Blut. Wir begannen, in Richtung des Galions zu rudern, die anderen Boote waren ihm schon nahe, und vom Galion wurde aus Pistolen und Gewehren auf uns geschossen. Ich warf einen Blick zurück, zur „San Sebastian“, wo Helenie ihr Kleid zerriss und halb nackt stehenblieb, immer noch trommelnd, eher rot als schwarz im Licht der sinkenden Sonne. Königlicher in ihrer Nacktheit als jede mit den besten Kleidern eingepackte christliche Königin jemals war. Es war ein erhabener und schrecklicher Anblick.
Als ich mich taufen ließ, waren mir, dem Jeschiwe-Bocher, die Begriffe fremd. Ich verstand nicht, wie die Christen an drei Götter glaubten, die ein einziger waren, wer der Vater, wer der Sohn und wer der Heilige Geist seien, welche Aufgaben jeder von ihnen hatte, und wie die Heilige Jungfrau in das Ganze hineinpasste. Aber das Fundament war mir bekannt. Der Gott war in etwa derselbe Gott, das Heilige Buch war dasselbe, die Helden dieselben, und die religiösen Pflichten ähnlich. Sei ein guter Mensch, mach was man dir sagt. Aber diese Santeria war reinster Götzendienst. Das Feuer, das Helenie in mir entfachte, war fremdes Feuer. Mein Herz schlug mit der sich entfernenden Trommel in einem fernen, schwarzen, tiefen Rhythmus. Das Blutritual, mit Helenies Blut, das war etwas Anderes, als was ich vom Judentum oder vom Christentum gekannt hatte. Das war etwas Tiefes, Mysteriöses und Böses, sehr Böses. So wurde auch ich, solange Helenies Blut auf meiner Stirn klebte, zutiefst böse.
Als wir beim Rudern etwa die Hälfte der Entfernung zwischen den beiden Schiffen erreicht hatten, gab jemand auf der „San Sebastian“ den Feuerbefehl und das Getöse der Kanonen der „San Sebastian“, das stärker war, als jede Kanone, die ich bisher gehört hatte, zerriss das den Abendhimmel. Die „San Sebastian“ war ursprünglich eine dreimastige Galeone, aber ihre Ruder wurden mit Kanonen ausgewechselt, und ihr Deck wurde verstärkt, damit das Schiff das zusätzliche Gewicht, insbesondere beim Rückstoß, aushalte. Wie der Glatzkopf Lucas mir einmal erklärte, hatten die Architekten der neuen „San Sebastian“ die Geschwindigkeit reduziert, um mehr Stoßkraft zu erhalten. Ein wesentlicher Nachteil, wenn das Schiff im Rückzug war, ein wesentlicher Vorteil im Kampf gegen eine türkische Galeone. Ich hörte die Kanonenkugel über mir hinüberfliegen und sah, wie sie die Galeone traf, während die Ruder fleißig weiterruderten, und dann noch eine und noch eine. Eine geübte Besatzung, und die der „San Sebastian“ war geübt, konnte alle neunzig Sekunden eine Salve abfeuern. Drei Salven genügten, um auf dem gegnerischen Schiff Panik auszulösen und seine Verteidigung zu lähmen, noch bevor wir dort angekommen waren. Das ganze Meer zwischen uns füllte sich mit Rauch und Splittern, und schwer nur konnte ich den Rücken des Ruderers vor mir erkennen. Ich ruderte weiter mitten im Rauch in Richtung des Lärms, als ich plötzlich vor mir das riesige Stück Holz des feindlichen Schiffes sah.
Die Ruder des Schiffes lagen im Wasser wie Baumstämme, wie Leichen, und behinderten unsere Boote. Ich war nahe an einer der Luken und schaute rein. Der Ruderer hielt noch das Ruder in der Hand, aber er war geköpft. Die Kabine war voll von Leichen und Blut. Ich weiß nicht, wer das gemacht hatte. Etwas Schreckliches war auf dem Schiff geschehen, auf das ich steigen sollte. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich in wenigen Minuten von einem Menschen getötet werden könnte, der mich nicht kennt, und ich kenne ihn nicht, und wir hatten nichts gegeneinander. Helenie und ihre Santeria erschienen mir plötzlich als ein schlechter Witz. Ich wollte in diesem Moment nur ins Wasser springen und schwimmen, schwimmen. Nach Malta zurück und von dort weiter, nach Gibraltar, und in den großen, grauen Atlantischen Ozean, schwimmen und weiter schwimmen, bis ich nach Saint Malo käme, dort fände ich meine Mutter und würde meinen Kopf in ihren Schoss legen, und sie würde leise „Jankel“ zu mir sagen.
Das Leben schreibt die besten Geschichten. In diesem Zusammenhang kann man auch Emin Pascha erwähnen: https://de.wikipedia.org/wiki/Emin_Pascha