Hauptfoto mit freundlicher Genehmigung von Ishai Parasol "Judäische Wüste"
Die Geschichtensammlung ‚Zu viel Licht“ (Pardes, 2016) kann man auch als zusammenhängendes Werk mit einer inneren poetischen Logik lesen. Ein Hauch von Traum und unlogischem Surrealismus vermischen sich darin. Das Realistische in der Handlung ist von der bekannten und konkreten äußeren Realität inspiriert: die Tankstelle an der neuen Autobahn Nr. 6, eine Überbauung in Givatayim, oder eine Pension in Akko, und jedes Mal scheinen von neuem durch überraschende, ironische Ritzen Realitäten des Jenseits hindurch. Die Autorin versucht, die geheime Gesetzlichkeit des Universums, der Schöpfung, der Erinnerung, zu erforschen, und stößt immer wieder an ein großes, unverständliches kosmisches Nichts.“
(Eleonora Lev)
Yael Pincus ist bildende Künstlerin und Fotografin. Ihre Fotografien erschienen in Büchern und Magazinen in Israel und der ganzen Welt, sie lebt mit Mann und zwei Kindern in einem Dorf im Zentrum des Landes. „Zu viel Licht“ (Pardes, 2016) ist ihr erstes Prosabuch.
„Meine Mutter war die Tochter eines Seiden- und Gewürzhändlers in Baghdad, mein Vater ist ein Verwandter von Houdini. Ich verbrachte meine Kindheit auf einem Melia-Baum, zwischen dem Tigris und der Donau.“

Geschichte ohne Ende
von Yael Pincus
Übersetzung: Uri Shani
Die ganze Nacht wehte der warme Wind, schlug auf die Zeltstangen, blies und schnaubte, und brachte immer mehr Sand mit sich. Aber nicht der Wind war es, der mich aufweckte, auch nicht die Unruhe der Ziegen, ihr Treten und Meckern. Ich höre ihre Bewegung außerhalb des Zeltes, und ich weiß, dass er da ist, dass er wieder die ganze Nacht draußen herumläuft.
Ich weiß nicht, was er dort macht, in diesen seinen schlaflosen Nächten. Diese endlose, ruhelose Geschäftigkeit, sein langer Bart, der im Wind in alle Richtungen wedelt, als hätte ihn jemand zum Leben erweckt, sein fiebriger Blick, der mir ausweicht.
Tagelang geht er umher, als erfülle er geheime Anweisungen. Raunt sich selbst etwas zu, schiebt Gegenstände irgendwohin und dann wieder zurück, bindet, löst die Knoten, fuchtelt mit den Händen, schleppt Dinge aus dem Zelt, packt sie auf den Esel, holt sie wieder vom Esel herunter, bindet sie wieder auf den Esel, sortiert, zählt, gruppiert die Ziegen nochmals, treibt sie von einer Seite zur anderen, zeichnet, schleift dieses Messer, murmelt in sich hinein, fuchtelt mit den Händen, packt erneut den Esel, holt es wieder herunter, packt ihn abermals.
Ich kann mich nicht erinnern, wann genau das begonnen hat, ich habe es nicht bemerkt. Zuerst dachte ich, er gehe zu den Ziegen raus, er könne nicht schlafen. Aber jetzt ist es klar. Ich muss das Kind holen und abhauen. Ich kann es nicht mehr herauszögern. Einfach packen und gehen.
Ich habe keine Angst, denn wer mir das Kind gegeben hat, wird mir auch helfen, dafür zu sorgen. Ich spüre den Wahnsinn, der in ihn gefahren ist. Irgendetwas verfolgt ihn, ich weiß nicht, was er vorhat, zu was er fähig ist, was er mit diesem Messer machen will, immer wieder sticht er es irgendwo hinein, denkt, dass ich es nicht sähe. Er schleift es und versteckt es, schleift es und versteckt es. Ich warte, dass er sich ein bisschen entferne, dann werde ich das Kind aufwecken und abhauen. Was brauchen wir schon, ein bisschen Wasser und Brot, vielleicht nehmen wir auch eine Ziege mit, dann haben wir auch Milch. Nein, das ist zu gefährlich. Er wird es bemerken. Er wird Verdacht schöpfen.
Ich umarme den Buben, der hier neben mir schläft. Versenke meine Nase zwischen seinem Hals und seiner Schulter, an diesem zarten und süßen Ort. Atme ihn ein. Seinen Atem. Seine Körperwärme. Mein Wunderkind. Ich höre mir seinen Atem an. Er ist so ruhig, dass ich ihn kaum höre. Ich nähere mein Ohr seinem Mund, seiner Nase, versuche, seinen süßen Hauch zu spüren.
Kein Wunder, erweckt er seine Eifersucht. Sein engelhafter Gesichtsausdruck, seine langen Wimpern, sein süßer, zusammengepresster Mund, wie der eines Säuglings, nachdem er gestillt wurde, das ist genau der Ausdruck, den er hatte, wenn er satt eingeschlafen ist. Schwer zu glauben, aber es sind schon dreizehn Jahre seither vergangen, und derselbe engelhafte Gesichtsausdruck ist ihm geblieben. Er wird sogar noch stärker, wird von Tag zu Tag klarer, und nicht nur im Schlaf, auch wenn er wach ist. Sein stilles Betrachten, seine Sanftmut, diese Augen, die wie zwei tiefe Brunnen, voll von Lebenswasser, aussehen.
Er weiß es bestimmt, und wenn nicht, dann spürt er es. Kein Zweifel, dass der Verdacht und die Eifersucht sein Herz auffressen wie ein Rudel von Ratten.
Es gab eine Zeit, am Anfang, als er noch an das Wunder glaubte, das uns geschehen war, an dieses Geschenk, das wir erhielten. Aber jetzt, ich weiß nicht, was ihn mehr verrückt macht, sein Verdacht über mich, oder sein Verdacht über ihn, seinem Gott, dass er ihn betrogen hat. Wann wurde das Geschenk zum Grund für Eifersucht und Verdacht?
Zunächst war er noch glücklich, er war froh, liebte mich, den Buben. Er betrachtete ihn während Stunden, legte seinen Finger auf seinen Mund, strahlte vor Glück, sogar seine Ziegen liebte er, streichelte sie sanft, flüsterte ihnen zu, manchmal sang er sogar.
Wann schlich sich der Verdacht in sein Herz? Wie konnte er dorthin hineinkriechen, ohne dass ich es bemerkte? Ich versuchte ihm zu sagen, es sei ein Segen, dieses Wunderkind zu erziehen, aber das half nicht, nichts half. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht einmal von mir, sondern von seinem Gott, verließ ihn nicht. Das Gefühl, von Gott hereingelegt worden zu sein, machte ihn wahnsinnig.
Ich weiß es. Er wird ihn mir wegnehmen. Er wird ihn seinem Gott opfern, diesem verrückten und neidischen Gott, den er in seinem hitzigen Kopf erfunden hat. Wie konnte ich das übersehen. Wie konnte ich es nicht früher verstehen. Ich muss ihn aufwecken. Jetzt. Wir müssen abhauen. Es reicht ihm nicht, dass er den anderen Knaben in die Wüste geschickt hat, dass er dort verrecke, hatte er auch sie im Verdacht?
Nein! Diesmal wird es nicht geschehen!
Ich vergrabe wieder meine Nase in seinem Hals. Ich bringe es nicht über mich, ihn aufzuwecken. Ich möchte hier liegen und ihn umarmen, bis er aufwacht. Bis er seine langen Wimpern aufschlägt und mich anschaut. Verwundert, unschuldig, mit diesem Blick, der mir die Tränen hochkommen lässt, wenn ich nur an ihn denke, wie wenn ich die erste Frau auf der Welt wäre. Ich, die Alte, die schon längst vergessen hat, was Liebe ist, und bezweifle, ob ich sie jemals gespürt habe.
Ich weiß nicht einmal mehr genau, was da in der Wüste geschehen war. Ich erinnere mich an die Stille. An das Licht. An den Geruch des Wassers im Brunnen. Das Rauschen der Datteln im heißen Wind. Ich erinnere mich, dass sie plötzlich neben mir standen, ohne dass ich gesehen hätte, dass sie sich näherten. Ich bot ihnen Wasser an, sie nahmen mir den Krug aus der Hand. Ich erinnere mich an das weiße, blendende Licht, und an das Gefühl, das ich noch nie gefühlt hatte. Nur an den Blick kann ich mich erinnern, die Reinheit. Die Liebe. Ich fragte nichts. Alles war klar. Offenbar. Schon beschlossen. Und alles habe ich vergessen, wie ein Traum, wie ein Gesicht.
Und danach das Gefühl, dass etwas in mir keimt. Ich wusste nicht einmal, konnte mir nicht vorstellen, ich spürte es im Herzen keimen, nicht einmal im Bauch. Erst später spürte ich ihn im Bauch, den Buben, der hier in meinen Armen liegt. Ruhig und völlig sicher.
Steh auf, Kind, komm. Wir müssen gehen. Ein langer Marsch steht uns bevor.
Komm, mein Süßer, mein Atem, mein Augapfel.
Mein Herz erlaubt mir nicht, ihn aufzuwecken, ihm die letzten Augenblicke der Unschuld zu rauben. Ich gebe ihm noch ein paar Minuten. Ich werde uns inzwischen ein bisschen Essen für den Weg organisieren. Ich sage ihm, dass ich ihn mit mir zum Brunnen nehme, und von dort hauen wir ab.
Fahles Licht dringt in das Zelt. Draußen wird es schon hell. Ich versuche zu lauschen, aber ich höre keinen Laut. Vollständige Stille. Ich muss mich beeilen. Vielleicht ist es schon zu spät. Er darf nichts davon wissen. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Ich stehe auf. Sammle ein paar Kleider. Ein wenig Lebensmittel. Schnüre ein Bündel zusammen. Brot. Reis. Meine Hände zittern. Ich atme kaum.
Ein plötzlicher Lichtstrahl. Er kommt hinein. Sein Kopf im Eingang. Seine brennenden Augen suchen, haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Sein Bart und seine Haare wehen in alle Richtungen. Ich nutze die Zeit, die er braucht, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und lege mich auf das Kind, er nimmt die Bewegung wahr und nähert sich.
Er packt mich und wirft mich weg, ohne einen Laut. Niemand schreit. Als bewirkte die Gegenwart des schlafenden Kindes, dass wir still bleiben, um es nicht aufzuwecken.
Er bückt sich, um das Kind aufzuheben. Ich springe an sein Bein und packe es. „Nein! Du nimmst ihn nicht!“ Ich höre einen Schrei.
Er schüttelt mich von sich ab mit einer unmenschlichen Kraft. Er antwortet nicht, hört mich nicht. Er ist in einer anderen Welt. Hört andere Stimmen. Er hievt das Kind auf seine Schulter, als sei es ein Bündel, und geht hinaus.
Ich renne ihnen nach. Mein Sohn öffnet die Augen und schaut mich verwundert an. Er umarmt seinen Vater mit seinen kleinen Armen und legt seine Wange auf seine Schulter.
[Diese Geschichte ist eine persönliche Interpretation der biblischen Opfergeschichte.]

Sehr schön! Nebenbei ist diese Bibelgeschichte (die Opferung Isaaks bzw. Fast-Opferung) das erste Mal, dass in der Bibel Liebe (Ahava) erwähnt wird: „nimm deinen Söhnen, deinen einzigen Sohn, den du liebst…“
Die Autorin: Vielen Dank für den Kommentar. Interessante Bemerkung, ich wusste das nicht. Ich würde gerne Deine Meinung hören zu: Warum erscheint Deiner Meinung nach das Wort Liebe zum ersten Mal ausgerechnet in diesem Zusammenhang?
Erst einmal danke der Autorin, dass sie auf meinen Kommentar reagiert – ich fühle mich sehr geehrt! Zur Frage: ich denke – und das ist natürlich nur eine von vielen möglichen Antworten- dass in der Bibel (altes Testament) „Liebe“ etwas aufopfernd, absolutes ist, für das man Bereit sein muss, sogar sich selbst oder einen Geliebten zu opfern. Es heißt ja im Schma Israel Gebet: (liebe Gtt) mit deiner ganzen Seele – für Rabbi Akiwa hiess das, auch wenn du dich opferst („afilu Hotel et Neschmatcha“ – er wurde von den Römern gesteinigt, nach der Überlieferung waren seine letzten Worte das Schma Israel). Auch Korban (Opfer) ist im Hebräischen linguistische verwandt mit Karow (nah, zB ein näher Verwandter). In dem Zusammenhang empfehle ich das Buch „Reshit“ von Meir Schalew, über erste Male in der Bibel. So war auch der erste Kuss kein romantischer, aber dazu ein ander Mal…
Die Autorin: Sehr interessante Interpretation! Danke!
שלום
הודעה לאורי שני,
קיבלתי מיעל פינקוס את הקישור אליך
מעוניין לשלוח לך קטעים מהספרים שלי, סיפורים וכד
אשמח אם תיצור אלי קשר
אמנון