Napoleon, Israel,

Der Napoleonhügel

Benjamin Rosendahl ist Projektleiter, Übersetzer und Journalist. In München geboren, lebt er in Tel-Aviv mit seiner Frau Liron und der gemeinsamen Tochter Alma.

 

Der Napoleonhügel

Von Benjamin Rosendahl

„Noch ein Meter. Nur noch ein einziger Meter…“

Und dann erinnerte er sich: Wie Napoleon, er höchstpersönlich, hier gestanden hatte und auf den Hügel hinaufgegangen war, der heute Ramat-Gan von Tel-Aviv trennt, Städte mit großer wirtschaftlicher Kraft und Wolkenkratzer allerseits, und damals – nichts. Sand. Wüste. Von weitem konnte man Jaffa sehen, die einzige Stadt in der Umgebung. Das Jahr war 1800. Ein Großteil von Napoleons Soldaten waren einer Epidemie auf dem Weg von Ägypten erlegen. Was dachte er sich, als er auf diesen Hügel mitten im Nichts stieg und auf die riesige Wüstenlandschaft schaute? Die Legende erzählt…

„Noch ein Meter. Nur noch ein einziger Meter…“

Er rannte schon eine halbe Stunde, wie an jedem Morgen, seit jenem Morgen. Und immer gab er hier auf, an dieser Stelle, ganz knapp vor dem Gipfel. Normalerweise brach er zusammen, und erbrach, manchmal schaffte er es nicht mal bis hierhin, aber nie erreichte er den Gipfel. Den Gipfel sah er nie, und so stellte er sich nur immer die Landschaft vor, die Napoleon beschrieben hatte, die Weite, leer von Gebäuden und vor allem von Menschen. Seit den napoleonischen Kriegen waren viele Völker in der Region vorbeigekommen – die Ottomanen, das britische Imperium, und natürlich die beiden Völker, die immer noch da sind. Dachte er an das? Darüber, dass der Grundbesitz dieser Erde, dieses Hügels, Hände gewechselt hatte, dass Blut geflossen war auf diese Landschaft, die er soeben erobert hatte – von wem eigentlich?

Die Legende erzählt, dass Napoleon, als er den Hügel erobert hatte, schwere Bauchschmerzen überfielen, wegen derer er seine Hand zwischen zwei Knöpfen seiner Weste schob, eine Geste, die später ikonisch wurde, als Symbol des Heldenmutes. Aber er dachte nicht an Heldenmut, sondern an sein Magengeschwür. Warum immer in diesen Momenten? „Lasst mich in Ruhe! Eitelste Eitelkeit, alles ist eitel!“ wollte er sagen, aber was er sagte, war etwas ganz anderes.

„Nur noch ein Meter…“

Die Sonne war schon aufgegangen. Wie kann man diese Pracht, des Parks mit seinem See, und des Nebels, der alles bedeckt, mit den Schmerzen, dem heftigen Atmen und dem Leid vereinbaren? Keine Ahnung. Seit jenem Morgen rannte er. Seit jenem Morgen, als er beschloss: Genug! Er will dieses Leben nicht mehr, er beginnt ein neues. Im Unterschied zu den schönen Geschichten gab es kein auslösendes Ereignis – keine neue Liebe, keine Krankheit, nichts. Er war einfach eines Morgens aufgestanden und begann zu gehen. Er ging zuerst, denn laufen konnte er noch nicht.  Es war halb sechs in der Früh, wie an jedem Tag danach. Und jedes Mal war er von dem Reiz, dem reinen Reiz, den nur Morgenmenschen sehen, entzückt. Von den Farben, den angenehmen Gerüchen, dem Gezwitscher der Vögel, und der Stille. Nur auf den Gipfel dieses Hügels schaffte er es nie. Und immer scheiterte er an derselben Stelle.

„Die Freiheit“, sagte er, „hat ihren Preis.“ Und er dachte an seine Bauchschmerzen, die ihn nicht losließen. Sein ganzer Magen drehte sich. Die Freiheit hat tatsächlich ihren Preis.

„Noch ein Meter. Nur noch ein einziger Meter…“ Diese Freiheit, die Schönheit des Morgens zu sehen, den Moment davor, hat einen Preis, einen teuren. Schlafstörungen, Gelenkschmerzen, und vor allem dieser Hügel. Aber er ist es wert, sie ist die Essenz des Paradieses vor der Hölle des Alltags, des Stresses, der Wut, des unangenehmen Kontaktes mit Menschen. Ein Moment, bevor die Sonne ihnen das Hirn verbrennt. Diese Ruhe vor der ungeheuerlichen Gewalt, die das ganze Land befällt, nicht nur im politischen Konflikt, auch auf der Straße. Das Leben ist billig geworden.

„Wenige seid ihr, die die feindlichen Kanonen, die Wüstenhitze, die Malaria und die Epidemie überlebt habt. Ihr durftet es miterleben, wie wir diesen Hügel erobert haben, von der man die weite menschenleere Landschaft überblicken kann. All dies wird sich verändern…“

Die Freiheit hat einen Preis, dachte er. Und die Hoffnung hat einen. Und seine kleine Hoffnung ist, dass er es heute auf den Gipfel des Hügels schafft, damit er die Landschaft sähe, wie sie heute ist, im Jahr 2000, und nicht wie sie 1800 war. Frei einatmen und Herr dieser Landschaft sein. Herr des Landes, nicht im politischen Sinn – solange alles um ihn herum schläft, gehört diese Landschaft ihm, nur ihm. So sagt er sich an jedem Morgen, seit jenem Morgen.

„Diese Freiheit, die Herren dieses Land zu sein, hat einen Preis. Dieser Hügel, und das ganze schöne Tal hier, wird nicht ewig menschenleer sein. Wie in Jaffa, der einzigen Stadt in der Umgebung, wird auch hier Blut fließen, das das ganze Tal füllen wird. Viele Völker werden ihre Nächsten, ihre Söhne für diesen Landstrich opfern. Und wenn sie nicht mehr da sein werden, werden andere Völker kommen, die auch ihr Blut hier fließen werden lassen. Deshalb genießt die wunderschöne Landschaft, beleuchtet von der Sonne, die soeben aufgegangen ist ….“

Albert Camus, in seinem Buch über Sisyphos, füllte diese aussichtslose Geschichte mit ein bisschen Hoffnung. Er sagte, dass es in dieser Geschichte über den Mann, der den Stein immer wieder auf den Hügel rollen muss und der dazu verurteilt ist zu sehen, wie dieser Stein immer wieder hinunterrollt, keine Hoffnung gibt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Schluss konzentrieren, aber es gibt eine, wenn wir sie auf den Anfang konzentrieren.

Lassen wir den Mann unten, am Fuß des Hügels, mit der Hoffnung, dass es diesmal gelingen wird.

„Noch ein Meter. Nur noch ein einziger Meter…“

Israel, Benjamin Rosendahl,

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Andy
Andy
5 Jahre

Hi Ben. Beautifully written and powerful story! Thanks for sharing!

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