Heute vor 20 Jahren ist Hanoch Levin gestorben. Dies ist der dritte und letzte Teil dieser kleinen Serie.
Ich sprach auch mit Levins Sohn Aharon Levin, der in Berlin lebt.
U: Kannst du dich bitte in Kürze vorstellen?
A: Ich bin 39 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern, Regisseur, und ich schreibe auch, aber nicht viel.
U: Beschäftigt dich das Werk deines Vaters?
A: Ja, sicher. Weniger direkt als früher, aber es begleitet mich und lebt in mir, sogar gegen meinen Willen.
(In einem Interview im Jahr 2013 sagte er: „Das erste Stück, das ich sah und an das ich mich sehr stark erinnere, war ‚Der Unschlüssige‘. Ich kann heute versuchen zu analysieren, was ich da besonders mochte, aber als Kind konnte ich das nicht. Ich erlebte es als totales Erlebnis, und es bewegte mich sehr. Ich hab es Dutzende Male gesehen und kann mich an fast jedes Wort und an jede Geste von Moni Mushonov und Orly Silberschatz erinnern. Ein anderes Stück, das ich sehr mag, vielleicht am meisten, ist ‚Die in der Finsternis gehen‘. Das ist wie ‚Otto e mezzo‘ von Fellini, das kann man gar nicht beschreiben. Verblüffung vielleicht, das ist das Wort.“)
U: In der Diskussion um Hanoch Levins Werk gibt es, grob gesagt, zwei Lager. Die einen sagen: „Alles was er sagt, ist: ‚Es gibt nichts. Keine Bedeutung. Keinen Gott. Keinen Grund. Keinen Zweck.‘ Wozu brauchen wir das?“ Das andere Lager sagt: „Stimmt. Das sagt er. Aber er sagt es als Herausforderung. Er will, dass WIR die Antworten finden auf die Fragen, die er aufwirft.“ Was sagst du zu diesen beiden Ansätzen?
A: Ich glaube nicht, dass er will, dass wir Antworten finden. Ich glaube, er drückt seine Weltanschauung und seine Wahrnehmung der Welt fast gegen seinen Willen aus. Ich glaube, er sagt, was er sagt, aus einem Drang heraus und nicht aus einer tieferen Analyse. Was seinen radikalen Pessimismus angeht, der aus seinem Werk spricht und die Frage stellt, was es für einen Zweck geben soll, eine Welt darzustellen, die so voll ist von unerklärlicher Grausamkeit – ich habe über Dostojewski gelesen, dass er gesagt hat, es gebe nur drei Gründe zu schreiben: Anerkennung, Frauen und Geld.
U: Inwieweit und inwiefern siehst du dich als Nachfolger?
A: In keiner Weise. Ich verspüre eine immense Anziehung zu seinem Werk (und auch Ablehnung!), denn es ist wie Butter, und ich verspüre eine unglaubliche Nähe zu ihm, sodass die Schauspieler in meiner Anleitung genau das spielen, wie ich es richtig finde. Aber zwischen der Identifizierung mit Werken von anderen und dem Gefühl, dass ein Werk aus deinem eigenen Innersten heraus kommt, da liegt ein tiefer Abgrund.
U: Vielen Dank, Aharon –
A: Ich denk auch, vielleicht, durch das Schreiben hat er sein Verlangen, seine Lust ausgedrückt. Er schrieb nicht, um etwas über etwas zu sagen, oder für jemand, sondern er schrieb, um lebendig zu bleiben. Um seine Sinne zu schärfen. Wenn du schreibst, so wie er schrieb, das hilft dir, lebendiger zu sein, energischer, vehementer, Adrenalin! Was meinst du?
U: Da bin ich völlig einverstanden. Da ich selber schreibe, kann ich das spüren. Ich kann mir nicht vorstellen, etwas „Realistisches“ zu schreiben. Wozu?
A: Ich denke jetzt an noch was anderes. Er ging immer sehr schnell. Vielleicht hat das auch mit dem Drang zu tun zu schreiben. Es fieberte etwas in ihm, er musste das irgendwie entleeren.
Das Kind träumt – Uraufführung 1993 – Photo: Pesi Girsch
Hanoch Levin als Herausforderung
Ich habe auch Ilan Ronen die Frage gestellt über die leere Welt, in der es keine Bedeutung und keinen Zweck gibt.
I: Hanoch Levin hat in dieser Hinsicht nichts Neues erfunden. Er hat Kafka und Beckett weiterentwickelt. Das ist natürlich eine Herausforderung für das Publikum, er biedert sich nicht an, und in der heutigen Kulturlandschaft in Israel ist es nicht einfach, dafür Publikum zu finden.
Vor zwei Jahren hatte ich die sehr erfreuliche Gelegenheit, Stephan Bartunek, einen österreichischen Schauspieler, kennenzulernen. Er lud mich nach Wien zu einem Vortrag und einem Workshop ein, die ich dort gab.
U: Wie hast Du Hanoch Levin „kennengelernt“?
St: Während meiner Ausbildung am Max Reinhardt Seminar hatte ich einen Studienkollegen aus Israel. Er studierte Regie und wollte mich für die Produktion von „Der schlanke Soldat“ von Hanoch Levin als Schauspieler für die Rolle des dicken Soldaten. Ich war bis dahin wenig vertraut mit dem israelischen Theater oder generell mit israelischer Kunst. Ich kannte Ephrahim Kishon als Autor und die „Eis am Stil“ Filme als israelisches Kino. Beides zum Lachen, Kishon eher mit tiefgründigen, intelligenten, man kann auch sagen: typisch jüdischen Humor.
„Eis am Stil“ war halt dann so gehalten, dass es sogar in Deutschland Erfolg hatte. Bild-Zeitung auf Kinoleinwand – Dummheit mit nackten Brüsten als Aushängeschild.
U: Was war besonders an dieser Erfahrung mit Hanoch Levins Stück?
St: Als ich zum ersten Mal „Der schlanke Soldat“ lesen durfte, war ich sehr beeindruckt von der abstrakten Form der Erzählung, die es aber trotzdem schaffte, sehr konkrete Gedanken und Empfindungen zu formen und zu gestalten.
Obwohl sich das Stück auf Heinrich von Kleist´s „Amphytreon“ bezog, war ich auf eine besondere Art erschüttert über die tiefe kritische Haltung gegenüber dem israelischen Staat und vor allem gegenüber der Besatzung.
In dem Stück von Hanoch Levin war jede der Figuren für sich ein Opfer, in der Wahrnehmung der anderen aber auch Täter. Sogar der dicke Soldat, den ich spielen durfte, sah seine Brutalität, seine Gewalt nur als Notwehr an. Er gefiel sich in seiner Stärke und Überlegenheit, aber er rechtfertigte es stets mit der Gefahr die aus Schwäche wachsen kann.
Obwohl ich mich damals im Jahr 2010, als wir das Stück auf die Bühne brachten, kaum mit Benjamin Netanyahu beschäftigt hatte, sehe ich heute vieles was ich in der Figur des dicken Soldaten gefunden hatte in dem israelischen Premierminister.
Natürlich weiß ich, dass Hanoch Levin nicht Bibi portraitierte, er zeichnete nur den Archetypen eines Machtmenschen, der, solange es Herrschaftsstrukturen gibt, auch in unserer, in jeder Gesellschaft zu finden sein wird. Der dicke Soldat prügelt auf den verkrüppelten Soldaten, der am Boden liegt, er sieht sich von seiner bloßen Existenz bedroht – das physische Gebrechen des verkrüppelten Soldaten wird nicht anerkannt, solange dieser die absolute Macht des dicken Soldaten in Frage stellt.
Der schlanke Soldat, der es gegen den dicken Soldaten aufnehmen könnte, ist erschüttert von der Brutalität und Rücksichtslosigkeit des dicken Soldaten und gibt jeden Widerstand auf.
Er passt sich der Brutalität der Machtfigur an und hofft still auf Reste, sei es Essen oder gelegentliche Aufmerksamkeit der Frau, mit denen er sein bisschen Leben das ihm bleibt, zu füllen probiert.
Ich glaube nicht, dass Hanoch Levin nur ein ausgesprochener Kritiker der israelischen Verhältnisse war. Viel mehr hat er geschafft, was wenigen Künstlern gelingt, die menschliche Existenz in all ihren Verirrungen zu erkennen und zu portraitieren.
Natürlich waren es seine Erfahrungen in Israel, die strukturelle Gewalt in der Gesellschaft dort und die belastende und mahnende Vergangenheit die jüdisches Leben mit sich trägt, die Hanoch Levin und seine Kunst prägten, aber trotzdem hat er in seinen Werken Welten geschaffen, die weiter über die Grenzen seines Landes, weit über seine Kultur und seine Erfahrungen hinaus gingen.
Leider hat Hanoch Levin nicht die Aufmerksamkeit, die sein Schaffen verdient hat.
U: Danke, Stephan!
Das Kind träumt – Uraufführung 1993 – Photo: Pesi Girsch
Matthias Naumann hat ein Buch über Hanoch Levin geschrieben („Dramaturgie der Drohung“, 2006) und zwei der drei Stücke von Hanoch Levin übersetzt, die bisher auf der deutschsprachigen Bühne aufgeführt wurden.
M: Ich denke, dass gerade das, was Levins Qualität ausmacht, die Tiefe der Texte und dass sie nicht eine direkte Abbildung von gesellschaftlichen Verhältnissen mit einer bestimmten politischen Position machen, hat zugleich die zögerliche Rezeption in Deutschland mitbegründet.
Ich habe Antje Thoms, die „Das Kind träumt“ von Hanoch Levin in Augsburg inszeniert hat, gefragt, wie es für sie war, an einem Stück von ihm zu arbeiten.
A: Zunächst wusste ich kaum etwas über Hanoch Levin, habe einfach den Text gelesen und war fasziniert und begeistert. Ich mochte die Sprache, ihre Poesie und Musikalität, die Düsterkeit, den bösen Humor, die trotz aller Traurigkeit aufscheinende Menschlichkeit der Figuren. DAS KIND TRÄUMT ist für mich eine universelle Parabel über eine verrohte Gesellschaft, die jederzeit und überall so stattfinden könnte und stattfindet (gerade heute werden wieder Schiffe mit Flüchtlingen an Häfen abgewiesen). Das Böse, die Gewalt, Macht und Unterdrückung brechen unvermutet ein in das Leben einer ganz normalen Kleinfamilie und verändern alles.
Das Ende des Stückes „Das Kind träumt“ (Übersetzung: Mattias Naumann)
Das Kind ist tot. Bei ihm sind andere tote Kinder, wie das „Visionäre Tote Kind“ und das „Ungeduldige Tote Kind“ und das „Diskussionsfreudige Tote Kind“ und andere.
Das Kind:
Nie werde ich aufhören, leben zu wollen…
Zu Staub Zerfallenes Kind:
Du wirst aufhören, beruhige dich.
Das Kind:
Bei meiner Geburt gab mir meine Mutter
das große Versprechen des Lebens…
Nie werde ich mich nicht mehr sehnen…
Zu Staub Zerfallenes Kind:
Ja, die Sehnsucht wird noch aufsteigen
vom Fleisch wie heißer Dampf;
aber wie lange
wirst du noch Fleisch haben?
Sieh mich an: Ein verstreutes Häufchen im Sand
deutet noch an, dass es mich gab. Und auch das wird vergehen.
Wie zerfällt doch alles in das eine große Gleiche.
Das Kind (weint):
Nein, ich werde nicht verzichten!
Zu Staub Zerfallenes Kind:
Und eben das hast du doch immer gesagt,
wenn du ins Bett gebracht wurdest, erinnerst du dich?
Du brachst in Tränen aus. Dein Herz schlug heftig
aus dem Verlangen nach Leben und Spielen;
so leid war es dir
um die Freuden der Welt, die du
hinter dir ließest bis zum Morgen.
Du sagtest: „Nein, ich werde nicht einschlafen!“
Aber beim zweiten „Nein“ fielen dir die Augenlider zu,
eine gewaltige Kraft, ihr Gewicht wie Blei,
zog dich ins Bett, und schon
versinkst du, tauchst unter, die Welt kommt abhanden, verschwindet
in der Dunkelheit, und du mit ihr.
Beruhige dich.
(das Lied der Kinder erstirbt allmählich. Das Sprechen des Kindes wird schwer)
Das Kind:
Nein… Nein…
Zu Staub Zerfallenes Kind:
Beruhige dich.
(Ende)
Das Kind träumt – Uraufführung 1993 – Photo: Pesi Girsch
Im Gespräch mit Ilan Ronen erzählte er mir:
I: Als ich hörte, dass Hanoch erkrankt war, saß ich mit ihm auf einer Bank, draußen vor dem Theater, und ich war etwas nervös, und so fragte ich ein wenig umständlich: ‚Und wie geht’s mit der Gesundheit?‘ – ‚Ha, wie geht’s mit der Gesundheit! Ich pfeife aus dem letzten Loch.‘
Im Juli 1999, weniger als einen Monat vor seinem Tod, schrieb Hanoch Levin:
An der Schwelle meines Todes möchte ich eine große Komödie schreiben, etwas, das euch in eine enorme und wundervolle Laune versetzen würde, etwas, das ein Lächeln auf eure Lippen hervorzaubern wird und gelegentlich ein Lachen, das euch, wenn ihr nachhause geht, mit einer tiefen Genugtuung erfüllen wird.“ (Übersetzung: Ruben Frankenstein)
Alle Photos in dieser Serie sind von Pesi Girsch.
Die Photos in dieser Serie sind von Pesi Girsch (mehr über sie – siehe erster Teil).
Hannoch Levin Reihe:
Teil 1
Teil 2
Teil 3
diese letzte, grosse komödie, die er schreiben wollte, hätte ich gern gesehen. eine art grosse bilanz? eine versöhnung? die erkenntnis, dass seine immerwährende beschäftigung mit der „dunklen“ seite ihn vielleicht krank gemacht hat und diese letzte komödie sein eigentlicher nachlass werden sollte? man wirds nicht erfahren.
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