Schai ist Musiklehrer an einer Schule in Jaffa. Die Schüler kommen aus jüdischen, muslimischen und christlichen Familien. Er ist sehr darauf bedacht, seine Homosexualität zu verstecken. Er ist überzeugt, dass er in dieser Umgebung, im Gegensatz zu Tel-Aviv, nicht überleben kann, wenn es sich herumspricht. Der Roman ist 2012 erschienen. Das folgende Kapitel beginnt, nachdem er einen seiner Schüler nach Hause gebracht hat.
Zu Yoav Shamash – siehe Gespräch mit ihm auf unserer Website.
Schahada
von Yoav Shamash
Uebersetzung: Uri Shani
Kapitel 9
Dima stieg bei den Wohnblocks von Schickun Dalet aus, wo er mit seinem Vater wohnte, und ich fuhr nach Hause. Ich war zufrieden mit dem vergangenen Tag, nahm einen Zeichenblock, überquerte die Straße und ging weiter bis zum „Givat-Alija“-Strand, der von den Bewohnern von Jaffa immer noch „Aldschabalija“ genannt wird, das war sein ursprünglicher Name. Ich setzte mich auf eine Betonmauer zwischen dem Abfall neben dem Meer und begann, das Meer zu zeichnen.
Der Strand war leer. Ich saß allein, schaute auf das Meer und zeichnete es mit meinen Farbstiften. Nach einiger Zeit sah ich jemand, der dem Strand entlang ging. Es war Abu George, den ich im Kaffeehaus bei Torsina kennengelernt hatte. Ich lud ihn ein, sich neben mich hinzusetzen, und wir betrachteten das Meer. Abu George erzählte mir, dass er hier am Meer aufgewachsen sei, und er erinnere sich an alles, sogar an die Namen der Felsen.
„Die Felsen hier hatten Namen?“
„Na sicher! Das waren uralte Namen, die die Fischer benutzten, um den Standort genau zu definieren. Ich spreche von riesigen Felsen, deren Ende ins Meer hinein ging. Jeder Felsenkopf reichte mindestens zwanzig Meter ins Meer rein, und manche noch mehr. Jetzt ist alles mit diesem Abfall überdeckt“, sagte er, auf die Baureste weisend. „Es gab hier wunderschöne kleine Buchten, nichts ist davon übrig, die Natur ist völlig zerstört.“ Er zeigte auf den südlich gelegenen muslimischen Friedhof. „Das wurde nicht angetastet, der Felsen dort heißt Rass el-Makbara, Friedhofkopf. Die anderen Felsen kann ich dir nicht zeigen, die sind alle begraben unter dem Sand und dem Abfall.“
Meine Neugier war geweckt. „Kannst du zeichnen, wie der Strand einmal aussah?“ fragte ich und gab ihm den Zeichenblock mit einem leeren Blatt, und die Stifte.
„Hier ist Rass al-Makbara im Süden und davor la plage, ja’ni der Strand von Dschabalija. Wir, zum Beispiel, sitzen, wo einmal der Felsen war, der al-Matjane hieß“, sagte er, während er den Strand und die Felsen skizzierte.
„Matjane?“
„Ja, Tin auf arabisch ist Schmutz. Matjane ist ein schmutziger Ort. Dieser Felsen wurde so genannt, weil hier hinter uns eine Fabrik war, wo Felle verarbeitet wurden.“ Er zeigte auf den Ort, wo die Fabrik einmal gestanden hatte. „Und da ist eine Menge Öl aus der Fabrik geflossen, und da waren zwei oder drei Rohre, durch die das Öl hier in diese kleine Bucht floss. Und so entstand hier mit den Jahren eine schmutzige Bucht. Das war wunderbar für zum Fischen, wir haben da eine Menge Netze ausgeworfen, und weil das Wasser so schmutzig war, haben sich die Fische in unseren Netzen verfangen“, sagte er und fuhr mit der Skizze fort. „Hier war ein Felsen, der ‚der große Felsen‘ genannt wurde, und dahinter war ein natürlicher Hafen. Da gab es Platz für etwa zehn Fischerboote. Als wir Kinder waren, haben wir dort gebadet.“ Und er erzählte weiter über die Felsen und ihre Namen – Rass el-Babur, der so hieß, weil dort ein Schiff – Babur aus arabisch – untergegangen war, und Rass Issmail, und der Halima-Felsen, und der Paradiesfelsen, und mehr.
„Ich kannte den ganzen Strand auswendig, nicht nur über dem Wasser, sondern auch unter dem Wasser. Ich tauchte hier ohne Sauerstoff. Die Fische kamen zu diesen Felsen und versteckten sich darunter und ich fing sie. Meeräschen, Barschen, was du willst.“
Die Karte war jetzt fertig, und ich sah einen ganz anderen Strand, als den, den ich bisher gekannt hatte. Ich sah mir die Karte an und konnte mir vorstellen, wie das alles ausgesehen hatte. Durch Abu Georges Geschichten erwachte der ganze Strand zum Leben. Ich schaute auf die Eisengerüste und die verrosteten Metalle, die überall herumlagen, und ich sah, wie das Meer mit jeder Welle, die auf sie niederschlug, versuchte, sie zu erbrechen. Ich fühlte, wie wenn wir ein lebendes Wesen verletzt hätten.
„Das ist alles ganz anders“, sagte ich.
„Ja sicher. Eine Perle, ich sage dir, eine Perle haben sie hier unter dem Mist begraben.“
In seiner Gegenwart empfand ich das Meer von Jaffa wie einen alten Mann, und ich höre Geschichten über seine Jugend, über Tage, als ich noch nicht existierte. Abu Georges Blick wandte sich nordwärts, gen Tel-Aviv. Sein Profil war schön. Ein aufrechter Mann, mit silbernem Haar, und sein hagerer Körper sah fast jugendlich aus.
„Ich bin im Norden von Tel-Aviv geboren“, sagte er leise.
„Tel-Aviv?“ fragte ich erstaunt.
„Ja, nach Jaffa kamen wir erst in den fünfziger Jahren -“
„Ich verstehe nicht“, unterbrach ich ihn. „Ich dachte, in Tel-Aviv lebten damals nur Juden.“
„Meine Mutter ist in Kufr Kanna in Galiläa geboren, und mein Vater ist aus Beirut, er kam hierher von Europa als Instrukteur.“
„Instrukteur für was?“, fragte ich.
„Für den Leuchtturm. Die Familie meines Vaters waren Leuchtturmwächter und Fischer, und sie sind immer noch die Leuchtturmwächter des alten Leuchtturms im Hafen von Beirut. Wir wohnten neben dem Leuchtturm von Tel-Aviv, und mein Vater war der Leuchtturmwächter. Die Juden, die aus Europa kamen, hatten keine Erfahrung damit. Er kam, als sie den Hafen von Tel-Aviv im Jahre sechsunddreißig bauten. Du weißt ja, sie beschlossen, dort einen Hafen zu bauen, nachdem der große Streik den Hafen von Jaffa lahmgelegt hatte. Man gab uns ein Stück Land neben dem Leuchtturm, wo wir unser Haus bauten. Wir wohnten in einer Umgebung von Juden, es gab keine Feindschaft, wir waren Freunde. Mit unseren damaligen Nachbarn aus Tel-Aviv blieben wir auch in guter Freundschaft, bis sie in den letzten Jahren alle gestorben sind, auch mit Rotenberg, dem Boss der Elektrizitätswerke, hatten wir ausgezeichneten Kontakt.“ Seine Augen waren aufs Meer gerichtet, und er fuhr fort. „Mein Vater war bekannt als einer, der allen hilft, ein gebildeter Mann, der französisch, arabisch, italienisch, englisch und hebräisch sprach. Damals waren solche, die viele Sprachen konnten, sehr gefragt, man brauchte sie. Er half sowohl den jüdischen Nachbarn wie den Arabern von Schech Munis.“
„Wo ist Schech Munis?“
„Wo heute Ramat-Aviv ist, die Universität, die ganze Region nördlich vom Jarkonfluss. Und dann, im Jahre achtundvierzig, wurde das Gebiet, wo wir wohnten, zum militärischen Sperrgebiet erklärt und wir zu einer „Sicherheitsgefahr“, was immer das auch heißen mag. Zunächst wollte man, dass wir blieben, wegen der Arbeit von Vater, aber der militärische Verantwortliche für das Kraftwerk Reading bestand darauf, dass wir verschwinden sollten.“ Abu Georges Blick war jetzt traurig. „Wir wurden abgeholt und zum Peer-Kino gebracht. Es waren Bauern dort, die Gemüse und Obst aus dem Dorf verkauften. Man sagte uns: ‚Zwei Wochen, dann könnt ihr wieder zurück.‘ Die Eltern haben nichts mitgenommen. Nach zwei Wochen ging mein Vater hin, um zu schauen, was dort geschieht, und um ein paar Dinge zu bringen. Die haben ihn fast umgebracht auf dem Weg, und die Soldaten versperrten ihm den Weg, ließen ihn nicht ran.“ Ich verstand nicht, wer ihn fast umgebracht hatte, aber er war so vertieft in seine Geschichte, dass ich ihn nicht stören wollte. „Ein zweites Mal gingen mit ihm unsere Nachbarn, Josef und Ssimcha, Juden. Als sie dort ankamen, war das Haus verwüstet. Die Hühner, die Kühe, die Ziegen, alles hatten sie gestohlen. Und dann sagten sie ihm, dass er nicht zurückkommen soll und dass sie uns dort nicht mehr sehen wollen.“
Ich wollte mir selbst gegenüber nicht zugeben, dass es Juden gewesen waren, die sein Haus ausgeraubt hatten. Er wandte seinen Blick zu mir. „Bis heute existieren die Dokumente zum Leuchtturm, mit den Plänen zu seinem Bau, unser Haus, unsere Namen, sogar der Vertrag mit dem Namen des Offiziers, der darauf bestand, dass wir wegsollen.“
„Und dann?“ fragte ich. Abu Georges Geschichten fesselten mich, und ich wusste: Solange er hier neben mir sitzt, werde ich ihn ausfragen.
„Na gut, dann sind wir irgendwie in Ssalame gelandet, das heute Kfar Schalem heißt. Da waren Häuser von solchen, die wie wir vertrieben worden waren, und man gab uns so ein Haus. Und dann, anfangs Fünfziger Jahre, kamen wir nach Jaffa. Wir haben hier in der Nähe gewohnt, unter dem roten Haus.“ Er fügte auf der Skizze in meinem Zeichenblock das Haus seiner Kindheit in Adschami hinzu. „Das Haus stand am Meer. Und hier, da war mein Zimmer, da habe ich geschlafen.“ Und er machte einen kleinen Punkt mit dem Bleistift. „Neben uns war ein Haus von Christen, und daneben das Kaffeehaus von Dschasche. Bei Sturm spritzte das Wasser ins Haus hinein, und es kam auch bis ins Kaffeehaus. Ich saß im Kaffeehaus und sah die Boote im kleinen Hafen. Das ist der natürliche Hafen, den ich dir vorhin gezeigt habe. Verstehst Du?“
„Und wer wohnt da heute?“
„Das wurde abgerissen. Unsere Nachbarn sind geblieben. Der Unterschied zwischen denen und uns, die hatten Grundbesitz hier, wir wohnten in einer Sozialwohnung. Alle die in einer Sozialwohnung wohnten, denen wurde das Haus abgerissen.“
„Warum?“
„Frag mich was Besseres.“
Der Wind wurde stärker und die Wellen höher. Abu George schwieg, und ich dachte nach. Ich hatte nie an der moralischen Reinheit der Gründergeneration gezweifelt, und auch jetzt nicht, aber…. So viele Gedanken bekämpften sich in meinem Kopf! Was wusste ich denn wirklich über jene Jahre? Ich dachte an meine Großmutter, die kurz vor meiner Bar-Mitzwah gestorben war. Sie hatte mir erzählt, dass sie im Lechi-Untergrund aktiv gewesen war, wie sie mit britischen Offizieren getanzt hatte, um sie abzulenken, während ihre Kameraden zu ihren Aktionen ausgezogen waren. Zum ersten Male fragte ich mich, was sie mir nicht erzählt hatte. Wie viele Unschuldige wurden ihre Opfer, und ob ich überhaupt ein Recht hätte, die Wege zu kritisieren, die sie und ihresgleichen beschritten hatten, um zum Ziel zu gelangen. Bedanke dich, dass du hier in deinem eigenen Staat bist, hämmerte eine Stimme in meinem Kopf. Ich betrachtete die Stadt, und sie sah plötzlich anders aus. Ich hatte einen unbezähmbaren Drang, von Haus zu Haus zu gehen und mir alle Geschichten anzuhören. Wie viele unbeantwortete Fragen, wie diejenigen von Abu George, verbargen sich in den Mauern dieser Häuser? Wie viel Schmerz, Enttäuschung und Sehnsucht von einfachen Menschen, die nur ihr Leben in Ruhe leben wollen.
Ohne etwas zu sagen, sogar ohne dass wir uns anschauten, standen wir auf und gingen durch das offene Feld hinauf zurück in die Stadt.
[…] “Schahada” ist ein Buch, das aus meiner eigenen Erfahrungen stammt aber vieles entspringt auchmeiner eigenen Vorstellungskraft. Es erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der Musiklehrer für gefährdete Jugendliche ist. In seinem Nachbarsgebäude wohnt eine muslimische Araberin. Er trifft sie zufällig in Givatajim, einem Vorort von Tel Aviv. Diese Begegnung ermöglicht den beiden, eine Verbindung aufzubauen und weitere Treffen folgen. Diese Begegnungen sollen nicht nur der Auftakt einer Freundschaft und deren Konflikte sein, sondern spiegeln Israel anhand dieser zwei Menschen, die sich auf gleicher Augenhöhe treffen, wider. […]
[…] “Schahada” ist ein Buch, das aus meiner eigenen Erfahrungen stammt aber vieles entspringt auch meiner eigenen Vorstellungskraft. Es erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der Musiklehrer für gefährdete Jugendliche ist. In seinem Nachbarsgebäude wohnt eine muslimische Araberin. Er trifft sie zufällig in Givatajim, einem Vorort von Tel Aviv. Diese Begegnung ermöglicht den beiden, eine Verbindung aufzubauen und weitere Treffen folgen. Diese Begegnungen sollen nicht nur der Auftakt einer Freundschaft und deren Konflikte sein, sondern spiegeln Israel anhand dieser zwei Menschen, die sich auf gleicher Augenhöhe treffen, wider. […]