Daniella Danziger Zaitman ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin aus Tel-Aviv. „Der Doktor“ (2020, Teper) ist ein historischer Roman, in dessen Zentrum ihr Urgroßvater, Dr. Felix Danziger, eine zentrale Figur in der zionistischen Bewegung, außerdem Chirurg und Pionier der hebräischen Medizin, steht.
Felix Danziger, 1887 in Ostpreußen geboren, war ein Freund des späteren israelischen Justizministers Pinchas Rosen, der damals in Berlin noch Felix Rosenblueth hieß. Dieser machte Danziger mit seiner Schwester Malli bekannt, und 1914 heirateten sie. Ein anderer Bruder der Rosenblueths heiratete Käthe Danielewicz, die in Tel-Aviv die bekannte „Pension Käthe Dan“ eröffnete, woraus später die Hotelkette „Dan“ erwuchs. Die beiden Felix‘ waren, wie gesagt, befreundet, aber politisch standen sie sich in Palästina gegenüber. Um die beiden voneinander zu unterscheiden, wird Felix Danziger im Buch meistens bei seinem Kosenamen „Lix“ genannt.
Danziger wanderte mit seiner Familie 1923 nach Palästina ein (sehr früh im Vergleich mit den meisten Einwanderern aus den deutschsprachigen Ländern) und gründete das „Danziger“-Krankenhaus in Jerusalem und später in Tel-Aviv. Damit beginnt die Geschichte der Familie Danziger in Israel, zu der heute Minister, Künstler und Juristen gehören.
Die folgende „Kostprobe“ handelt vom Mord des führenden zionistischen Politikers Chaim Arlosoroff. Arlosoroff geriet 1933 ins Kreuzfeuer der Kritik von rechts wegen des berühmt-berüchtigten „Haawara“-Abkommens zwischen Nazi-Deutschland und der zionistischen Bewegung. Der Mord ist bis heute ungeklärt.
Die „Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland“ wurde 1932 gegründet und heißt heute „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“.
Die Mörder fragten auf Hebräisch: „Kama Hascha’ah?“ – „Wieviel Uhr ist es?“ Allerdings fragt man auf Hebräisch nicht „Wieviel Uhr…“, sondern „Was ist…“. „Wieviel Uhr…“ fragt man auf Arabisch, Jiddisch und Deutsch, eine Tatsache, die bis heute zu viel Spekulationen führte. Unter Anderem gibt es sogar eine Theorie, dass der Mord ein Auftrag von Goebbels war. Goebbels Frau Magda war eine Zeitlang Arlosoroffs Geliebte.
Der Bürgermeister von Tel-Aviv war 1933 Meir Dizengoff.
Das heutige Datum zur Publikation dieser „Kostprobe“ wurde ausgewählt, weil der 24. Oktober der Jahrestag von Danzigers Tod ist.
Der Doktor
von Daniella Danziger Zaitman
Übersetzung: Uri Shani
Der Mord von Chaim Arlosoroff
… Der 16. Juni 1933 war eine stille Schabbatnacht. Ein angenehmer Wind wehte am Strand von Tel-Aviv, und die Stadt erholte sich von der schweren Hitze, die zu Mittag geherrscht hatte. Im prachtvollen Kaffeehaus von Käthe Dan saß die gehobene Gesellschaft der Stadt und genoss den Wein, das gute Essen, Musik und Tanz.
Käthe Dan war frischvermählt mit Josef Rosenblueth, weshalb die Familienmitglieder des Öfteren die Pension besuchten. An jenem Abend labte sich Felix an einer herrlichen Mahlzeit, und als er gerade aufstehen wollte, sah er Chaim und Sima Arlosoroff. Er bezahlte und ging zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen.
„Herr Arlosoroff, schön, Dich wieder im Land zu sehen. Sima, Du siehst wunderbar aus!“
„Lix, mein Freund, komm, setz dich zu uns, nimm dir einen Stuhl!“ Felix nahm einen freien Stuhl und setzte sich.
„Also, was sagst du, war Deine Reise erfolgreich?“
„Ich glaube, angesichts der Umstände war sie sehr erfolgreich. Ich erhielt die Ermächtigung der Zentrale in London, und am Samstagabend werde ich mich mit den führenden Figuren der Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland, um mit ihnen den Plan zu besprechen.“
„Was den bevorstehenden Kongress betrifft: Ich glaube, wir sollten sehr vorsichtig sein, was da gesagt wird.“
„Da bin ich ganz mit Dir einverstanden, und deshalb habe ich vor, die meisten Sitzungen geschlossen und im kleinsten Forum abzuhalten.“
„Ausgezeichnet, und sei es auch nur, um nicht noch mehr entrüstete Reaktionen und Artikel von Seiten der Revisionisten zu provozieren.“
„Ist dein Schwager und Namensvetter nicht ein Revisionist?“ erinnerte sich Sima.
„Das stimmt, und er posaunt öfters ganz skandalöse Meinungen hinaus. Deshalb gebe ich mir Mühe, nicht mit ihm über solche Dinge zu sprechen.“
Arlosoroff lehnte sich zu Felix hinüber. „Ich sage Dir ein Geheimnis. Ihre Bewegung wird immer schwächer. Im nächsten Kongress werden wir sie besiegen, wart’s nur ab.“
Sima verlor ihre Geduld, stand auf und nahm ihre Handtasche. „Ich mache einen kleinen Spaziergang. Guten Abend, Lix!“
„Lix, das ist mein Zeichen. Es war schön, dich zu treffen.“ Arlosoroff stand auf und drückte ihm die Hand. „Ich mache mit meiner Frau einen Spaziergang am Strand.“
„Sehr gut. Schönen Abend!“
Chaim und Sima gingen friedlich am Strand in Richtung Norden, atmeten die frische Meeresluft ein und lauschten dem Branden der Wellen. Es war niemand am Strand, außer zwei Männer, ein niedriger und ein hochgewachsener, die hinter ihnen gingen. Sima blickte zurück, und als sie sie sah, zwickte sie ihren Mann im Arm.
„Die gefallen mir nicht.“
„Mach dir keine Sorgen, das sind Juden. Sie werden bald an uns vorbeigehen.“ Arlosoroff blickte auch zurück, und tatsächlich gingen die beiden an ihnen vorüber und blieben stehen. Das Paar ging weiter, und dann gingen die beiden Männer wieder an ihnen vorüber und entfernten sich.
Die Arlosoroffs beschlossen, in Richtung des Machlul-Viertels zu gehen, wo aus einigen Fenstern Licht schien. Als sie sahen, dass die beiden Männer verschwunden waren, waren sie erleichtert und gingen weiter, bis sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.
„Gehen wir zurück“, sagte Chaim, und sie kehrten um.
Und da sahen sie plötzlich die beiden Männer vor ihnen stehen. Sie versperrten ihnen den Weg.
„Wieviel Uhr ist es?“ fragte der Mann und blendete sie mit seiner Taschenlampe.
„Das geht Sie nichts an“, antwortete Arlosoroff, aber versuchte, ruhig zu bleiben.
„Wieviel Uhr ist es?“ fragte er wieder. Arlosoroff steckte seine Hand in die Tasche, um nachzusehen, und da zog der Zweite einen Revolver und schoss ihm in den Bauch. Arlosoroff fiel zu Boden, und die beiden liefen davon.
„Zu Hilfe! Zu Hilfe!“ schrie Sima und hielt Chaims Hand. „Chaim, hörst du mich? Bleib bei mir. Zu Hilfe!“
Vier Männer hörten sie von weitem und liefen zu ihnen hin.
„Schnell, bringt Hilfe!“ rief Sima. Drei von ihnen hoben den verletzten Chaim, und der Vierte lief zusammen mit Sima zur Pension. Sima stieg schnaufend die Treppen hoch, ihr Kleid blutverschmiert, und Käthe Dan kam ihr entgegen.
„Was ist geschehen?“
„Sie haben ihn erschossen. Sie haben Chaim erschossen!“ schrie Sima.
„Oh Gott!“ Käthe rief sofort per Telefon einen Krankenwagen. Noch bevor dieser kam war auch schon Captain Stafford von der Polizei da und bat Sima, mit ihm zu kommen und eine Zeugenaussage zu machen.
„Ich gebe Ihnen meine Zeugenaussage nachher“, sagte Sima und wandte sich von ihm.
„Ich befürchte, ich muss darauf bestehen, Frau Arlosoroff, solange die Details noch frisch in Ihrer Erinnerung sind.“
Einer der Gäste hörte das Gespräch, eilte zu Sima und bot an, ihren Mann in seinem Auto zu fahren. Lola Blumstein, eine Freundin von Sima, kam hinzu und hielt ihr die Hand. „Ich fahre mit ihm, mach dir keine Sorgen.“
„Gut, nehmt ihn sofort mit, schnell! Ich komme dann hinterher.“
Das Auto hielt neben dem verletzten Arlosoroff. Die Männer hoben ihn ins Auto, und das Auto fuhr ins Krankenhaus Hadassa in der Balfour-Straße.
Als sie dort ankamen, war kein Chirurg zugegen. Der Chefarzt, Dr. Levontin, versuchte, den berühmten Chirurgen Max Marcus zu erreichen, doch vergeblich. Lola beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen, und bat ihren Mann, Dr. Danziger herzuholen, bevor es zu spät sei.
Herr Blumstein kam an der Grunsbergstrasse 8 auf einem Motorrad an.
„Dr. Danziger! Herr Doktor“ Er schlug an die Tür. Lix öffnete erstaunt die Tür. „Blumstein?“
„Dr. Danziger, kommen Sie sofort, ein Araber hat Arlosoroff erschossen!“
„Mein Gott!“ rief Lix. „Aber nur Dr. Levontin hat die Befugnis, mich zu rufen. Fahren Sie zu ihm und sagen Sie ihm, er soll mich anrufen, ich werde bereit sein.“
Drei Stunden lang saß Lix auf seinem Bett, erschüttert von der Schreckensnachricht, angezogen, bereit und seine Glückstasche neben der Tür, auf den Anruf wartend. Nach widerholten Bitten von Lola Blumstein rief Levontin schließlich an.
Lix kam in Krankenhaus und lief ins Operationszimmer, wo schon Dr. Stein war. Er wusch sich sofort die Hände, zog Handschuhe an und prüfte Arlosoroff, während die Krankenschwestern ihn mit Arztkittel und -Hut bekleideten.
„Die Kugel steckt in seinem Bauch“ sagte Stein, und Lix seufzte mit einer gewissen Erleichterung. Das war genau die Art von Verletzungen, auf die vom Weltkrieg spezialisiert war, Operationen, die er auch mit zugebundenen Augen machen konnte.
Glücklicherweise hatte die Kugel die inneren Organe nicht verletzt. Das waren im Normalfall gute Nachrichten, aber dann sah Lix, dass das Blut ganz schwarz war, ein Zeichen, dass der Verletzte sehr viel Blut verloren hatte.
„Es ist schlimm“ flüsterte er. „Nehmt ihm die Sauerstoffmaske ab!“ Die Krankenschwestern schauten sich verwirrt an, aber Dr. Stein nickte ihnen zu. „Schnell!“ schrie er. Sie erschraken und nahmen die Maske ab. Arlosoroff war kreidebleich.
„Was haben Sie bis jetzt gemacht?“ schrie Lix.
Marcus kam plötzlich ins Operationszimmer, nachdem Dizengoff es geschafft hatte, ihn zu erreichen und ihn mit seinem Auto geschickt hatte.
„Dr. Stein, Dr. Danziger“, sagte er und drückte ihnen die Hände. Lix nickte ihm zu und wandte sich wieder zu den Krankenschwestern. „Schnell! Dieser Mann braucht Blutinfusion! Was stehen Sie so rum?“
„Was geht hier vor?“ fragte Marcus, und Lix trat ein wenig zur Seite, damit er das Ausmaß des Desasters sehen konnte.
„Das ist nicht gut… „, murmelte Marcus. „Nein. Gar nicht gut.“
Die Krankenschwester kam mit Salzwasser und Infusionsschlauch.
„Was ist das?“ Lix schaute sich die Schläuche an, aus altem Gummi und ganz durchlöchert.
„Das ist das Material, das Sie hier haben in Hadassa? Das ist doch eine Schande, was hier vorgeht!“
Lix wütete, und sein Gesicht errötete hinter der Operationsmaske.
Die Krankenschwester band die Löcher im Schlauch mit einem Handtuch zu, und die Operation begann. Sie schafften es, die Kugel ganz aus dem Bauch zu entfernen, aber es war zu spät. Arlosoroff hatte zu viel Blut verloren. Er war tot.
Lix streifte die Operationshandschuhe ab und warf voller Wut die Geräte auf den Fußboden. Die Krankenschwester schrie erschrocken auf.
Es war still im Raum. Marcus und Stein blickten sich an und schwiegen.
„Nicht ein Araber hat Arlosoroff umgebracht, sondern dieser Saustall!“ schrie Lix und verließ das Operationszimmer, die Tür hinter sich zuschmetternd. Er ging zu Fuß nach Hause und konnte sich nicht beruhigen.
Den ganzen Weg lang dachte er an den Unsinn dieses Todes nach, und dass er ihn hätte retten können, wenn er nur genug früh zu ihm gekommen wäre.
„Vielleicht hätte ich sofort mit Blumstein hinfahren sollen und nicht auf eine Einladung warten“, dachte er, aber er wusste, dass er das nicht hätte tun können, das widersprach den Regeln der medizinischen Ethik.
Sehr interessant! Der Mord an Arlozorov ist ein Thema, das Israelis bis heute fasziniert – vor ein paar Jahren wurde ein ca. 2-stuendiger Dokumentarfilm dazu gedreht…
Das die „Dan“-Hotelkette von „Pension Kaethe Danziger“ kommt, war mir neu – ich hatte eher an die „Dan“-Region (Tel Aviv und Umgebung) gedacht, so wie bei den „Dan“-Bussen…
Frage an den Uebersetzer: wer sind die Minister, Kuenstler und Juristen, die Danziger heissen? Mir nicht bekannt…
Hier, zum Beispiel, Felix‘ Sohn: https://de.wikipedia.org/wiki/Itzhak_Danziger
Danke. Nebenbei – ist die Beschreibung der Ermordung Arlozorovs, und vor allem das Nachspiel im Krankenhaus so ueberliefert, oder ist das „poetic license“?
Ueber die Ermordung weiss ich, dass das eine ziemlich genaue Beschreibung ist, ueber das, was im Krankenhaus geschah, werde ich die Autorin fragen.
Antwort der Autorin: „Interessante Frage!
Der Mord selbst wurde so von Sima Arlosoroff und anderen Zeugen beschrieben. Was davor und danach geschah – das ist eine Kombination aus Geschichten in den Memoiren und den Interviews der Verwandten und Bekannten, Zeitungsausschnitten und Buechern, die sich damit befasst haben.Wie in jedem Buch versuchte ich, den historischen Eregnissen so treu wie moeglich zu sein, und das Drama und die Atmosphaere habe ich aus meiner Vorstellung ergaenzt.“