Lektorat: Nina Zivy
Warnung: Dieser Artikel enthält Spoiler
Am Mittwoch, dem 29.5.2019, war die Weltpremiere des Films "Jagd auf Jehoschua" von Shay Fogelman. Der Film wurde im Rahmen des israelischen Doku-Festivals "DocAviv" ausgestrahlt, das jedes Jahr in Tel Aviv stattfindet.
Ein Porträt ist ja an sich etwas Großartiges, weil es tausend Aspekte nicht nur von dem gibt, den man darstellt, sondern auch von dem, der darstellt, und schließlich noch von dem, der die Darstellung anschaut. (Hans Wimmer, 1968)
Der Skandal um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erschüttert die Gemüter seit Jahren. Das Benediktinerkloster Ettal in Bayern kämpft sich durch einen hauseigenen Skandal von sexuellem Missbrauch an seinen Internatsschülern. Doch was hat all das mit dem Mord an einem palästinensischen Taxifahrer namens Sa’il Staya zu tun?
Suche nach der Identität des Täters
Obige Frage wurde bisher von keiner gerichtlichen Instanz gestellt und wird es wahrscheinlich auch nie, obschon sie Jehoschua Elitzur vielleicht geholfen hätte.
Aber erst einmal der Reihe nach.
Im Jahr 2010 wurde Shay Fogelman von seiner Zeitung nach Salem, einem Dorf in der Nähe von Nablus in der Westbank, geschickt. Er sollte Jasmin Ichlass Shtaya zum Tod ihres Vaters im Jahr 2004 interviewen. „Seit ich Jasmin getroffen habe, lässt mich diese Geschichte nicht mehr los“, sagt Fogelman. Die Blinde, damals 21-Jährige, wies ihm den Weg.
Er begann, Jehoshua Elitzur zu suchen, den Siedler aus Itamar, der 2004 ihren Vater erschossen hatte, vom Gericht verurteilt worden war, und seither spurlos verschwunden ist.
Fogelmans Recherche, die er „Jagd“ nannte, dauerte fünf lange Jahre. Während der meisten Zeit hatte Fogelman keine Ahnung, wo Jehoshua Elitzur sich versteckt hielt.
Der daraus entstandene Dokumentarfilm ist ein Thriller, aber in einem ganz besonderen Sinn: Zu Beginn hat man den Eindruck, dass man weiß, wer der Täter ist. Aber dann wird immer mehr verständlich, dass seine Identität – oder besser: seine Identitäten – ganz und gar nicht klar sind.
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Jehoshuas Herkunft
Nach langwieriger Suche findet Fogelman heraus, dass Jehoshua Elitzur als Johannes Wimmer in Pfarrkirchen in Bayern, zwanzig Kilometer nördlich von Braunau am Inn, in einer katholischen Familie geboren wurde. Sein Großvater, von dem das Zitat am Anfang dieses Artikels stammt, war ein bekannter Bildhauer. Sehr viel später findet Fogelman heraus, dass Jehoshua seit seiner Flucht mit einer dritten Identität lebt – als Michael Pichoto.
Johannes Wimmer ist ein katholischer Knabe aus Bayern, Jehoshua Elitzur ist ein extremistischer israelischer Siedler, und Michael Pichoto ist ein Maschgiach Kaschrut in Mexico und Brasilien, also einer, der in jüdischen Restaurants die Einhaltung der koscheren Speiseregeln kontrolliert.
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Einfach verschwinden
Was Fogelman in seiner Jagd antrieb, war die Tatsache, dass Elitzur so einfach verschwinden konnte – dass Gericht und Polizei in Israel völlig versagten.
In einem Zeitungsartikel beschreibt Fogelman seine Arbeit am Film. Er zitiert darin die Zahlen der israelischen Organisation Yesh Din: Von 1163 Fällen, in den Jahren 2005-2017, in denen ein Palästinenser bei der Polizei eine Klage einreichte, kam es nur in 1.9 % der Fälle zu einer Verurteilung. In 91 % der Fälle kam der Fall gar nicht vor Gericht. Als Resultat davon verzichten 58 % der Palästinenser, in den Fällen, die „Jesch Din“ bekannt sind, auf eine Klage. „Mein Bruder Mohammad, der wie ich blind ist“, sagt Jasmin Ichlass Shtaya, „sitzt im israelischen Gefängnis. Ich bin die Tochter eines Ermordeten. Ich repräsentiere die Geschichte des palästinensischen Volkes, eine Geschichte von Schmerz und Leid. Wir sind eine Familie von Märtyrern, Häftlingen und Behinderten. Unsere Familie repräsentiert, wie die Besatzung das Opfer dafür bestraft, dass wir Opfer sind.“
„Ich wollte nicht, dass Sa’il Shtaya noch so ein Fall wird, wie alle diese mehr als 1000 Fälle im Bericht von ‚Jesch-Din‘. Ich wollte, dass dieser Fall anders ausgeht“, sagt Fogelman.
Der Zuschauer erlebt im Zeitraffer, wofür Shay Fogelman Jahre brauchte. „Ein Film muss ein destilliertes Kunstwerk sein“, sagt Fogelman. „Ich musste aus fünf Minuten Material die wichtigsten zwei oder drei Sekunden herausschneiden. Am Schwierigsten war für mich, das meiste herauszuschneiden, was damit zu tun hatte, wie die israelischen Behörden einfach beide Augen zudrückten in diesem Fall. Die israelische Polizei behauptet zwar, dass sie Elitzur gesucht hätten, aber ich habe dafür keine Anzeichen gefunden. Außerdem musste ich auf sehr vieles verzichten, was mit der Biographie von Jehoshua zu tun hatte, mit seinem berühmten Großvater usw.“
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Der Täter war selbst Opfer
Ganz langsam erfährt der Zuschauer mehr und mehr über den Gejagten. Als kleiner Junge wird Johannes Wimmer mit seinem Bruder in das anerkannte Internat des Benediktinerklosters Ettal, nicht weit von Garmisch-Partenkirchen, geschickt. Zuerst gibt es nur Andeutungen, was dort geschah, erst ganz am Schluss ist das Puzzle zusammengesetzt: Johannes war ein bildhübscher Junge, sehr viel später bekleideten Poster mit ihm als Model die Autobushaltestellen in Israel. Schon am ersten Tag in Ettal wird er sexuell missbraucht, und danach jahrelang. Er ist nicht der Einzige. Andere, wie Matthias Katsch, gründen sehr viel später die Organisation „Eckiger Tisch“. „Ich war in tausend Stücke zerbrochen. Das Judentum hat die Stücke wieder zu einem Ganzen zusammengebracht“, sagt Jehoschua im Film. Er schaffte es durch den totalen Bruch mit seinem nationalen, familiären und kulturellen Hintergrund. Sa’il Shtaya und seine Familie waren die Opfer dieses „Erfolgs“.
Produkt der Gesellschaft
Fogelman: „Jehoshua ist ohne Zweifel das Produkt einer Gesellschaft, einer Realität, auch das Produkt dieses sexuellen Missbrauchs in seiner Kindheit. Ich würde ihm also nicht mildernde Umstände zugunste schreiben, aber es ist eine Anklageschrift gegen diese Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist.“
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Nachdem ich den Film gesehen hatte, erhielt ich von Shay Fogelman Jasmin Ichlass Shtaya’s Telefonnummer, und ich rief an. Ich musste nur zweimal eine kurze Frage stellen, ansonsten sprach sie fließend, ohne dass ich auf sie eindringen musste.
Aussagen der Tochter
„Leider ist der Mörder meines Vaters ein Deutscher. Ich höre so viel darüber, wie fortschrittlich und gebildet die Deutschen seien, und so kam es für mich völlig unerwartet, dass von dort der Mörder komme. Ich wünsche mir, dass unsere Geschichte beim deutschen Publikum das Bewusstsein erwecke, dass sie ihre moralische Unbescholtenheit bewahren müssen, und dass die Deutschen die Verantwortung auf sich nehmen für diese Tat.
Wir litten, als Familie, sehr, und nach der Ermordung unseres Vaters, verschlimmerte sich unser Leid noch mehr. Wir hatten immer versucht, fröhlich zu bleiben, aber nach dem Mord gibt es keine ganze Freude mehr. Ich und mein Bruder erhalten wegen unserer Blindheit eine Behandlung in einem deutschen Universitätsspital, aber wir können das nicht bezahlen. Ich habe ein M. A. in Übersetzung, und ich würde gerne ein Ph.D. machen, um meine ökonomische Lage zu verbessern.
Das Leben hat nach der Ermordung unseres Vaters nicht aufgehört. Seine Enkeltochter, die vor vier Monaten geboren wurde, kann er leider nicht mehr umarmen, aber wir lieben den Frieden.
Wir wollen keinen Krieg mit Israel. Wir haben ein Problem mit einer einzelnen Person, dieser Jehoschua, oder Johannes Wimmer, nicht mit allen Israelis. Und wir weisen jeden Gedanken an Rache zurück.
Aber der Staat sieht in uns Feinde. Er versteht nicht, dass wir keine Probleme machen wollen, aber sie geben uns keine Bewilligungen [um durch die Absperrungen zu kommen], wir können keine Arbeit in Israel erhalten. Wir, als Opfer, werden dafür bestraft, dass wir Opfer sind.“ Bevor wir uns verabschieden, fragt sie mich: „Glaubst Du, das deutsche Publikum wird positiv reagieren?“
Die Besprechung des Films „Jagd auf Jehoschua“ hat mich tief berührt. Sollte dieser Film je in Schweizer Kinos gezeigt werden, werde ich ihn mir unbedingt ansehen. In diesem Film wird die ganze Welt auf die Anklagebank gesetzt. Im Film laufen drei ineinander verwobene Geschichten ab.
Zunächst ist da die Geschichte der Unterdrückung der arabischen Bevölkerung in Israel und in den besetzten Gebieten. Die arabischen Bewohner Israels genießen zwar Bürgerrechte, aber sie sind Bürger zweiter Klasse. Viele von ihnen beteiligen sich nicht einmal mehr an den Wahlen, da ihnen die Illusion genommen wurde, dass sie irgendetwas ausrichten können. Sie werden nicht gehört. Sie haben resigniert. Die Araber in den besetzten Gebieten auf der anderen Seite sind keine Bürger, somit nicht einmal Bürger zweiter Klasse, und sie haben beinahe keine Rechte. Sie erleben jeden Tag erneut Willkür und Schikanen.
Die zweite Geschichte handelt von Korruption. Israelische Richter können zwar einigermaßen unabhängig entscheiden, und ihnen drohen keine Repressionen, wenn sie Entscheide fällen, die nicht mit der Politik Israels konform sind. Im Falle der Ermordung des arabischen Vaters durch einen jüdischen Siedler kam es tatsächlich zu einer Anklage und sogar zu einer Verurteilung des Mörders, aber die israelische Polizei wusste genau, wo sie nicht hinsehen sollte, um sicher zu stellen, dass der Verurteilte ja nie gefunden werden konnte. Die israelische Polizei ist von der israelischen Politik korrumpiert, und diese, und das ist eine Misere, die bereits Jahrzehnte andauert, wird von Splitterparteien kontrolliert, da sonst nie eine mehrheitsfähige Regierung in Israel gebildet werden kann. So sind es die Extremisten in der Regierung, die den Ton angeben, nicht erst unter Netanjahu.
Die dritte Geschichte schließlich ist die der verkrachten Existenz eines jungen Deutschen, der als Kind missbraucht worden und an einer Gesellschaft zerbrochen war, die ihn im Stich gelassen hatte. Nichts durfte die Idylle der vermeintlich heilen Welt Bayerns stören, und so wurde der Junge auf dem Altar der Bequemlichkeit geopfert. Ihm blieb nichts anderes übrig als sich abzuwenden, und entwurzelt suchte und fand er eine neue Gruppenidentität in einer Sippengesellschaft, in der er sich aufgehoben und verstanden fühlte; in einer Gesellschaft, in der sich jeder als Opfer sah, und in der jeder vom Opfer zum Täter wurde, so auch er. Da er sich selbst verloren hatte, da er ein Niemand war, machte es ihm auch nichts aus, sich nach der Tat nochmals eine neue, eine dritte, Identität über zu stülpen, denn eine neue Identität erwerben kann man als Erwachsener nicht mehr. Dies geschieht nur in den formativen Jahren, in den Jahren, in denen sich die Introjekte bilden, die unser Überich ausmachen. Später angenommene neue Identitäten können nur wie Kleider getragen werden. Sie verschmelzen nicht mit der Persönlichkeit. Sie sind eine Maskerade, und so können sie beliebig ausgewechselt werden. In Wirklichkeit aber ist er immer noch der missbrauchte Junge, der keinerlei Selbstachtung hat, der nie lernen durfte, sich selbst zu mögen, und so nahm das Schicksal seinen Lauf.
– François
Kennen sie Yehoshua persönlich, um so eine gewagte Beschreibung seiner Persönlichkeit geben zu können. Für so eine Beurteilung würde ein Psychologe/Psychiater viele Stunden Therapiesitzungen benötigen. Alle Achtung wie Sie einen Menschen so einfach beurteilen, den Sie nie persönlich kennengelernt haben. Geschweige seine Familie kennen…
„Merci, lieber Uri, ein ganz berührender, toller Beitrag, sehr schön geschrieben, offenbar genau wie der Film.“
– Mathias
Ich habe diesen Artikeljetzt wieder seit der Erscheinung gelesen und erneut stelle ich fest, wie gut es geschrieben ist! Ein wirklich fesselnder und trauriger Beitrag. Danke Uri für deine gute und wichtige Zusammenfassung!
Eine schreckliche Geschichte, auf die ich da stoße…
Ich war mit Johannes in der Klasse in Ettal. Im Rückblick war er ein typisches Opfer. Im Gegensatz zu der Beschreibung als „bildhübscher Junge“ war er allerdings eher ein pummeliger unsportlicher Bub – entfernt von „bildhübsch“. Er wurde auch von seinen Kameraden oft geärgert und in seiner Not und Traurigkeit wurde er wohl in die Arme der „kümmernden“ Patres getrieben. Was für ein Verbrechen…
Im Juli 2023 wurde „Jehoshua Elitzur“ zu fuenfzehn Jahren Gefaengnis verurteilt.