Oshrit Mintz wurde 1947 in Polen geboren. 1957 kam sie mit ihrer Familie nach Israel. Sie studierte englische Literatur an der Hebräischen Universität und Theater und Übersetzung an der Universität von Tel-Aviv. Sie unterrichtete 30 Jahre lang Englisch. Heute zeichnet und übersetzt sie und schreibt Gedichte und Theaterstücke.
Das Buch „Marthas Tod und andere Geschichten“ (Argaman, 2016) enthält die Novelle „Marthas Tod“, die von ihrer Biographie inspiriert ist, und vier Geschichten, in denen sich jeweils die weibliche Hauptfigur in einer problematischen Situation in ihrem Leben befindet. In allen Geschichten lernt die Hauptfigur etwas über sich selber und erfährt eine Erweiterung ihres Bewusstseins und eine Veränderung ihres Lebens.
Der Zahn muss gezogen werden
von Oshrit Mintz
Übersetzung: Uri Shani
Bruria sitzt auf dem Zahnarztstuhl mit weit aufgerissenem Mund. Ihre Halsmuskeln sind von der Anstrengung angespannt, den Schmerz zu überwinden und den Schrei zu unterdrücken, während der Arzt im faulen Backenzahn in der rechten Seite ihres Mundes wühlt. Der Schmerz konzentriert sich immer mehr in ihrer Kehle und bedroht sie zu ersticken, aber sie strengt sich an und erleichtert sich nicht einmal mit dem winzigsten Stöhnen.
Genau so machte sie es auch Ende August, als Ram ihr verkündete, dass er sie und die Töchter verlassen werde. Sie sei nicht die Frau, von der er geträumt habe, und wie sie genau wisse, habe er sie nie wirklich geliebt. Sie sei in diese Sache mit offenen Augen hineingegangen, und jetzt könne er nicht mehr. Er schätze sie sehr, sie sei eine gute Frau und gar nicht dumm. Aber nicht sein Typ; sie hätten nicht die chemische Verbindung, die es zu einer Partnerschaft braucht, und überhaupt, auch sie habe jemanden verdient, der sie wirklich wolle.
Bruria öffnete den Mund, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Moria, deren Zähne zu wachsen begannen, schrie und wandte sich in ihren Armen ohne Unterbruch. Alles Streicheln und Beruhigen half nichts. Ihre zitternde Hand, erfüllt von der Anspannung und der Beleidigung, signalisierten nicht den erwünschten Trost, und die zehn Monate alte Moria verdoppelte ihr Schmerz- und Krängungsgejammer. Das mechanische Beruhigungsstreicheln blähte einen Schuldballon in Brurias Brust auf, ein Ballon voll von verschmutzter Luft, der zu platzen drohte.
Als sie ihren Kopf wandte, sah sie Chagit, wie diese sich am schweren naturfarbenen Leinenvorhang festhielt. Der Vorhang schaffte eine Atmosphäre von Gemütlichkeit und Beruhigung im Wohnzimmer, und Bruria war stolz auf ihren Geschmack gewesen, als sie den Stoff gekauft, genäht und aufgehängt hatte. Jetzt verbarg sich dahinter Chagits schmaler Körper, und nur ihr Gesicht lugte aus den Falten, ihre weit aufgerissenen Augen auf Ram gerichtet.
„Papa, schrei nicht!“ bettelte ihre dünne, kindliche Stimme.
„Ich schreie nicht, mein Liebes. Mama und ich sprechen nur.“
Er näherte sich Bruria und nahm Moria aus ihren Armen, die jetzt leise jammerte, hob sie in die Luft und nochmals, bis das Baby den Zahnschmerz vergaß, und ein vergnügtes Lächeln verbreitete sich auf ihrem von Tränen aufgeweichten Gesicht. Bruria blickte sie einen Augenblick lang an und ging dann in die Küche, von wo der Geruch eines Bratens aufstieg, der gleich verbrannte.
Der Zahnarzt zieht seine Hand aus Brurias Mund und spricht leise mit seiner Assistentin. Die Schmerzwelle nimmt jetzt ab, und Bruria hebt ihre Augen, ihr Blick schweift über die Decke, wo er in der rechten Ecke auf ein dichtes Spinnennetz trifft. Sie strengt sich an, und sie glaubt, ein schwarzes Etwas im Spinnennetz zu erkennen, das sich darin wendet und zu befreien versucht. Wahrscheinlich eine Fliege oder eine Mücke, die mit ihren letzten Kräften um ihr Leben kämpft. Bruria schließt die Augen, um das unvermeidliche Ende des Kampfes nicht zu erleben.
„Ich schlage vor, wir ziehen den Zahn raus“, hört sie die Stimme des Zahnarztes. Ein Paar blaue, Sicherheit einflößende Augen betrachteten sie interessiert.
„Ich schlage vor, wir ziehen den Zaun raus“, widerholte er. „Man kann es zwar mit einem Stiftaufbau versuchen, nachdem die Entzündung sich gelegt hat. Aber ich glaube, das wird nicht lange halten. Es wird bestimmt nicht besser. Wenn Sie sich entscheiden, den Zahn zu ziehen, können wir später eine Brücke einsetzen, oder wenn Sie das wollen, ein Zahnimplantat. So oder so, Sie können sich jetzt ein wenig ausruhen, eine halbe Stunde, und danach sagen Sie mir, was sie entschieden haben.“
Der Zahnarzt schaut sie an, als erwarte er eine Antwort, und als sie nichts sagt, reicht er ihr die Hand und hilft ihr aufzustehen. Er begleitet sie sogar zur Tür, stützt sie an ihrem Arm, bis sie das helle Wartezimmer betritt, wo ein paar Patienten warten und in alten Zeitschriften blättern.
Bruria kennt niemanden von ihnen. Obschon sie alle kamen, um ihre Zähne zu behandeln, scheint es ihr, als gehörten sie einer anderen Spezies an. Niemand ist auch nur potentiell ein Partner für ihre Sorgen. Sie wirft einen argwöhnischen Blick auf sie und geht ins Treppenhaus hinaus. Dort zückt sie ihr Handy aus der Tasche und wählt die Nummer von Zuhause.
Ram antwortet gleich, Bruria erklärt ihm, was der Zahnarzt ihr eröffnete und fragt ihn, was er meine.
„Wieviel kostet das?“ fragt Ram nach ihrer ausführlichen Erklärung. „Du weißt, dass wir uns jetzt keine großen Ausgaben leisten können. Du musst daran denken, bevor du etwas entscheidest.“
Sie hört den nachdrücklichen und schulmeisterlichen Ton seiner Stimme, der sich in ihren Ohren wie ein Chor von Kritik und Beschuldigung anhört.
Und wieder schwillt der Schuldballon in ihrer Brust an und bedroht sie zu zerplatzen. Bruria schaut sich um und findet keinen bekannten und freundlichen Gegenstand, der sie tröste.
„Ich werde daran denken“, sagt sie angestrengt und beendet das Gespräch. Sie steigt schnell die Treppen hinunter, als wolle sie entfliehen. Draußen schlägt ihr die Hitze ins Gesicht, das Gewicht der Hitze vor dem Regen. Ende Oktober. Der Himmel ist mit schwarzen Wolken bedeckt, die wie alte, dreckige Lumpen über ihrem hellen Kopf hängen. Bruria hebt graue Augen gen Himmel, flehend. Soll doch der Regen schon kommen und diese Last von ihr wegspülen! Aber wenn es jetzt regnet, wird es sie bis in die Knochen durchnässen. Warum hat sie keinen Regenschirm mitgenommen! Ram wird wieder sagen, dass sie unvorsichtig sei, dass sie keine zwei Schritte vorausdenkt, dass sie… dass sie…
Bruria setzt sich auf eine Bank in der Allee unter verstaubten Zypressen. Den Backenzahn auf der rechten Seite ausziehen oder nicht ausziehen, das ist die Frage. Ihre Mutter sagt immer, man müsse alles tun, um einen Zahn zu retten und nie ausziehen. Aber in ihrem Mund sitzt schon lange eine Brücke. Wie um sie zu ärgern, zerbrachen ihre Zähne einer nach dem andern und fielen raus, trotz ihres starken Willlens, sie zu retten. Und der Kopf ihres Vaters, der meistens auf die Brust sinkt, hebte sich, wenn sie drüber sprach, wie aus einem Winterschlaf erwachend, oder aus einem Spuk von dauernder Abwesenheit, als wünschte er plötzlich, seinen Rücken gegen den Rollstuhl anzuspannen. Er schickte ihrer Mutter ein schnelles und verschmitztes Lächeln und ließ dann seinen Kopf wieder in die Tiefen seiner ständigen Abwesenheit fallen. Als wäre er nie gestört worden.
Mama konnte dieses Lächeln nicht aushalten. Ihr Gesicht verzerrte sich in Hass, den Bruria nicht richtig einsortieren konnte. Der Gedanke an eine Scheidung von ihrem behinderten und zermürbten Vater, oder nur schon eine Einlieferung in eine passende Anstalt, schien ihrer Mutter wie etwas, woran man gar nicht denken durfte. Sie pflegte ihn weiterhin Tag und Nacht, und ihre Zermürbung richtete sie ganz auf Bruria und ihren Zwillingsbruder Uri mit schwarzen Klumpen von Schmutz.
Aber Uri konnte seine Ohren mit einer halb durchlässigen Membran bedecken, und nur die Worte, die ihm angenehm waren, sickerten in sein Bewusstsein, der ganze Rest floss an ihm herunter und hinterließ keine Spuren. Wie gerne würde sie wie er sein, dachte Bruria vielfach. Aber sie wusste nicht wie. Die grimmigen Worte ihrer Mutter, ihre Vorwürfe, ihre schmerzende und böse Einmischung gruben in ihr Höhlen von Not, Trauer und Schuld, genau wie Rams „konstruktive Kritik“.
Bruria sitzt auf der Bank zwischen den verstaubten Zypressen und betrachtet die schwarzen Wolken. Der Zahnarzt wird viel Geld kosten, und Geld fehlt ihnen sehr. Ihre dürftige Arbeit bringt wenig Einkommen, und Ram ist seit vier Monaten arbeitslos. Wann er den Computerkurs beendet und eine einträgliche Arbeit findet, das steht in den Sternen. Aber dann erinnert sie sich, dass Ram, wenn er den Kurs beendet, schon nicht mehr mit ihr und den Töchtern sein wird. Sie beißt ihre Zähne zusammen und fühlt den Schmerz im Backenzahn, der aus der Narkose aufwacht. Bruria schaut auf die Uhr. Sie muss in die Klinik zurück und ihre Entscheidung mitteilen.
Sie steht schwerfällig auf und schleppt ihre müden Glieder in die Klinik. Sie steigt langsam die Treppen hinauf, als versuche sie, den Moment der Entscheidung hinauszuschieben. Als sie eintritt, kommt ihr die Assistentin mit einem Ausruf von Erleichterung entgegen:
„Ah, da sind sie ja, Frau Naim! Der Arzt hat gerade nach ihnen gefragt. Sie können jetzt hineingehen.“
Bruria spürt, wie sich ihre Kehle zuschnürt und will kehrtwenden, aus der Klinik fliehen, laufen, weg… aber wohin? Sie hält inne. Ihr Blick fällt auf den Feigenbaum vor dem Fenster, auf dem ein riesiger grüner Vogel seine Federn nach dem Nachtschlaf ausschüttelt. Die Feigenäste bewegen sich auf den Flügeln des Windes.
Bruria betritt das Behandlungszimmer und setzt sich mechanisch auf den Stuhl.
„So, und was haben wir beschlossen, Frau Naim? Ausziehen oder behandeln?“
Sie schaut einen Moment lang auf den Arzt, wie das Huhn den Menschen anblickt, sie starrt auf das Fenster, durch das sie sieht, wie die Bäume der Allee einen wilden Tanz in einer antiken heidnischen Zeremonie tanzen. Und dann landen auf der Fensterscheibe die ersten Tropfen des ersten Regens.
Der Arzt, der geduldig auf ihre Antwort wartete, während seine blauen Augen allmählich einen immer verwunderten Blick über ihr anhaltendes Schweigen ausdrückten, folgte ihrem Blick.
„Es regnet“, sagte er.
Die Tropfen, die einer nach dem Anderm fallen, schwer und voll, erhöhen ihre Geschwindigkeit, bis der Regen zu einem regelrechten Wolkenschauer wurden. Die Bäume in der Allee stehen – so sieht es Bruria – bereit für die Dusche, die von ihrem Fleisch den erstickenden Sommer mit seinem Staub wegspült.
Etwas Grünes beginnt, aus dem Grau der müden Äste hervorzulugen, und Brurias Glieder werden leichter, als werde auch von ihnen der erstickende Sommer mit seinem Staub weggespült. Sie spürt, wie das Blut in ihren Venen wieder schneller fließt, fast fröhlich, und sie weiß, dass sie kann, sie muss….
„Reißen Sie ihn raus!“ sagt sie dem Arzt.
„Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Sie werden sehen, es wird zunächst schmerzen, und vielleicht wird die Stelle auch empfindsam sein, aber es ist bestimmt die richtige Entscheidung.“
Der Arzt spritzt ihr ein narkotisches Mittel in das Zahnfleisch, und Bruria will lächeln und sich bedanken. Ein dunkler Klumpen wurde ihr aus der Brust gerissen, und Rams harte Worte zerblasen im Wind, fließen an ihrer Haut in schwarzen Strömen herunter. Sie schließt die Augen und vertraut sich dem Gefühl der Befreiung und dem Duft ihres reinen Fleisches in ihren Nasenlöchern an.
„Hier ist ihr Zahn. Er hatte eine lange und verwundene Wurzel.“
Bruria betrachtet den Zahn mit Abscheu. Sie entfernt aus ihrem Mund die Gaze, spült ihn mit viel Wasser und speit dieses, vom Blut rosarot geworden, in das Becken. Dann befühlt sie die Leerstelle mit ihrer Zunge.
Ein merkwürdiges Gefühl erfüllt sie, als sie nichts findet, wo zuvor so viel Schmerz war. Bruria erschrickt ein wenig. Aber nein! Der faule Zahn war mit Erfolg ausgerissen worden, und eine Erleichterung verbreitet sich in ihrem Körper. Sie versteht plötzlich, dass sie den Rat ihrer Mutter nicht befolgt hat, und auch nicht Rams wirtschaftliche Warnungen, und sofort sucht sie in sich den Ballon, der sich ja immer in ihr aufbläht und ihre Brust zu zersprengen droht. Aber zu ihrer Überraschung ist er nicht mehr da.
Schoen! Bzw schoen schmerzhaft, diese Zahnarzt-Beschreibung (Marathon-Mann laesst gruessen)…irgendwie erinnerte mich es etwas an David Grossmans „Dikduk HaPnimi“, wo nicht nur ein Zahn auf diesselbe Weise gezogen wird, sondern wo auch – wie hier – das Alltaegliche mit den grossen Ereignissen des Lebens ueberschwappt…
Frage an die Autorin (oder den Uebersetzer): in welcher Stadt spielt diese auf dem Leben gegriffene Geschichte? Inwiefern spielte sie (die Stadt) eine Rolle?