Während Jahrzehnten beschatten CIA-Agenten die israelische Familie Peer, Holocaustüberlebende aus Ungarn, die kurz vor Staatsgründung ins Land gekommen waren. Vor dem Krieg hatte die schöne und elegante Lili Peer von einer Pianistinnenkarriere geträumt und von einer Heirat mit Gyula, einem ehrgeizigen Studenten und Journalisten. Aber der Krieg machte den Träumen ein Ende. Lili verlor ihre Eltern und ihren kleinen Bruder, aber überlebte die Konzentrationslager.
Gyula verschwand, obschon er eine nahe Beziehung hatte zu Rudolf Kastner, einem jüdischen Rechtsanwalt, der mit Eichmann verhandelte und es schlussendlich schaffte, 1684 Juden zu retten, die er ausgewählt hatte. Damit das Geschäft mit dem Teufel gelang, versprach Kastner Eichmann, dass die ungarischen Juden – diejenigen, die nicht auf seiner Liste waren – sich nicht wehren und nicht nach Rumänien entfliehen würden. Kastner organisierte eine Beruhigungskampagne, und tatsächlich bestiegen die Juden, die nichts von den Todeslagern wussten, die Züge in der Einbildung, sie würden zur Arbeit in einem ungarischen Dorf gebracht, das es aber gar nicht gab. Auch Lili und ihre Familie wohnten nicht weit von der rumänischen Grenze und hätten sich ohne Umstände retten können, wenn sie nur gewusst hätten, was ihnen bevorstand.
Erst am Schluss des Romans erfährt der Leser das Geheimnis: warum der CIA sie beschattet. Und mit ihm noch ein paar Geheimnisse mehr, die auch mit der Affäre Kastner zu tun, ein Thema, das die israelische Gesellschaft bis heute beschäftigt.
Ofra Offer Oren, Jahrgang 1951, erhielt 1994 den Premierministerpreis für hebräische Literatur. Sie publizierte zwischen 1989 und 2017 neun Romane und Geschichtensammlungen.
Beschattung
Von : Ofra Offer Oren
Übersetzung: Uri Shani
1
Es wurde Lili gesagt, sie solle am besten zu Herbert Samuel runtergehen, dort bei der zweiten Straße nach dem Platz links abbiegen, das sei eine kleine Straße, zweite Etage. Sie hatte vorgestern dorthin von der Apotheke an der Disengoff-Strasse angerufen und geflüstert, aber sie spürte, dass die Apothekerin versuchte mitzuhören, und deshalb machte sie es so kurz wie möglich, zahlte und ging. Die Adresse schrieb sie auf einen Zettel, nachdem sie sich ein wenig entfernt hatte, deshalb wusste sie danach nicht, ob sie es nicht durcheinander gebracht hatte. Was für komische Namen hatten ihre Straßen hier: Nach dem Propheten Jonas kommst du gleich zur Erlösung… Wenigstens in der Adresse der Wohnung, die Joel ihnen eingerichtet hatte, war kein Pathos von „zum ersten Mal seit zweitausend Jahren“ und all diese peinlichen Mythen, dem König David oder Moses im Korb. Ein ganz banaler Namen. Karotte.
Als er sie in die neue Wohnung brachte, sagte sie ihm, sie sei nicht bereit, in einer Straße mit so einem lächerlichen Namen zu wohnen. Er schaute sie an, und sie sah, dass er sich dachte: Mit was für Nebensachen beschäftigt sie sich, wen interessiert das? Was macht das schon aus? Auf jeden Fall wollte er sie überraschen, deshalb hatte er schon den größten Teil des Geldes auf den Tisch gelegt, in bar. Er war sich offenbar sicher, dass sie sich freuen würde: Eine Luxuswohnung, auch wenn sie im Erdgeschoss war und nicht auf der Seite der Straße lag, zwei miteinander verbundenen Schlafzimmern mit einer großen Glastür, Vestibül, Salon mit Fenstern, zwei Windrichtungen, eingerichtete Küche, und sogar den neuesten Schrei heute auf dem Markt: Boiler mit Solaranlage! Es gibt solche, die schätzen nicht was sie haben, hörte sie ihn denken und schwieg, denn vielleicht hatte er ja recht. Wirklich, wie wichtig war das schon.
Als sie aus dem Haus trat, verstand sie, dass die hohen Absätze ihren Gang verlangsamten, und das war ein Problem, denn in einer Stunde, spätestens in anderthalb Stunden, kam Joel zurück. Amichai spielte inzwischen mit dem Sohn von Miri Peled, der Witwe. Beide knieten neben dem Haus und kugelten Murmeln in ein kleines Loch, das sie an der Hauswand gegraben hatten. Erstaunlich, wie genau Amichai die Regeln dieser Spiele kannte, und wie schnell er schon einen Freund hatte, und dann noch dieser, Amnon, der ein Jahr älter als er war, zwar ein Waisenkind, aber gut erzogen. Amichai gehörte völlig hierhin. Einheimisch.
Nein, keine Sorge, sagte sie sich, eine Stunde, höchstens anderthalb, und sie war zurück. Außerdem sah sie, als sie aus dem Haus trat, die Nachbarin in der Küche, zwischen Tisch, Abwaschbecken und Gaskocher, sie schälte etwas, hatte gerade erst mit Kochen begonnen, sodass ein Erwachsener in der Nähe war. Lili hatte Amichai gesagt, dass sie gleich zurück sein werde und dass im Kühlschrank der Apfel sei, den Vater gestern ergattert hatte, und danach dachte sie, dass sie es vielleicht besser nicht gesagt hätte; das Kind hatte sie bestimmt gar nicht gehört, denn gerade hatte einer von ihnen gewonnen oder verloren oder sonst etwas Wichtiges, aber die Nachbarinnen hatten es gewiss gehört, na ja, nicht so schlimm, sie hatte nichts von – Gott behüte! – frischen Eiern oder dem Huhn erwähnt, das der Vater ergattert hatte, nur ein Apfel. Sie kam jetzt zur Frischmann-Straße. Zwei Katzen sprangen aus einer Mülltonne und gingen neben ihr her, miauten laut, und sie verlor fast ihr Gleichgewicht. Vielleicht hätte sie trotzdem flachere Schuhe anziehen sollen, aber nur wenn sie elegant war, war sie sicher, wenn alles perfekt war, die kleinen blauen Ohrringe passten zu den Punkten auf ihrem Kleid, der weiße Gurt an der Taille, das Haar war frisiert wie Veronica Lake mit einer Locke auf dem Auge, die Schuhe waren gut, sie strahlten, betonten ihre schmalen Knöchel, nur so hatte sie Kraft, konnte beeindruckend sein und erreichen, was sie wollte.
Sie ging vorsichtig auf dem Gehsteig, gab acht, dass die Absätze nicht in die Ritze gerieten, und da war auch schon das Meer, dieser große blaue Fleck zwischen den Häusern. Sie ging weiter in Richtung Meer und betrachtete es, wild und zerbestend, mit hohen Wellen und Gischt. Wie immer, dieser Anblick von endlosem Wasser erdrückte sie, und sie fragte sich, ob auch Etschi, ihr kleiner Bruder, enttäuscht gewesen wäre, und was er sagen würde, wenn – wenn – wenn er hier wäre, wenn er diesen See sehen würde, dessen Ende man nicht sehen konnte – auch wenn es ruhig ist, verspricht dieses Meer keine Ruhe, und das rechnet sie ihm noch hoch an, als sie mit dem Schiff hier ankamen, die ganze Zeit in Bewegung, im Wandel, unzufrieden, zerwirft sich, versucht aufzuschäumen, flieht und erwacht wieder und bläht sich auf, schaukelt leicht und erhebt sich dann gleich mit riesiger Kraft, so gar nicht, was sie erwartet hatte. So gar nicht wie ihr Fluss, der Körös, und ihre wahre Stadt, mit ihren vielen Namen.
Die deutsche Nachbarin vom dritten Stockwerk, die in ihrem Wohnzimmer eine große Fotographie von Hitler aufgehängt hatte, Mutter hatte das Gesicht verzogen und leise geflucht, wenn sie es von weitem gesehen hatte, aber mit der Frau sprach sie höflich und versuchte sogar ein paar Mal sie davon zu überzeugen, dass dieser den Deutschen nur Schaden bringen würde, diese Deutsche wohnte in Großwardein.
Die rumänische Nachbarin vom zweiten Stock, die bis 1940 mit niemandem sprach und dann eines Tages spurlos verschwand, sogar ohne ihren Schnauzer, der zwei Tage lang bellte und alle verrückt machte, wohnte in Oradea.
Aber natürlich hatten nur sie, die stolzen Ungarn, recht. Nur sie wussten, dass ihre Stadt das barocke, prächtige Nagyvárad war, durch das der Fluss floss, auf dessen Oberfläche sich Haine und Häuser und die roten Dächer und gelben Wände der Burg widerspiegelten, und die Türme der Kathedrale und der „schwarze Adler“, und die Art-Nouveau-Vitragen in der Passage zum Palast, und die Kuppel der Neologe-Synagoge. Alle Farbenpracht und Schönheit, die geplant und schwer daran gearbeitet wurde und für die es sich lohnt, die Stadt Nagyvárad/Großwardein/Oradea anzusehen, wird durch die Wiederspiegelung im Fluss verdoppelt.
Aber hier, in diesem Tel-Aviv, das vorgibt, eine Stadt zu sein, gab es nur Roheit und Gewalt, Bewegung und Spannung. Sie war auf ihre erste Ampel stolz, und auf die Schaufenster, aber die Hinterhöfe verbargen Mülltonnen und Wäscheleinen. Sogar die hohen Gebäude, die es hier gab – sie erreichte jetzt das Opernhaus, das die Luft von Westen blockierte – waren alle weniger als fünfzig Jahre alt, alle! Die meisten nicht einmal zehn Jahre, und die Architektur zweckdienlich, einfach, Verzierung -verboten! Alles musste einheitlich sein, vor allem die Blockhäuser, diese anonymen Würfel, die verrußten Wände, die Betonbeine mit Erde dazwischen, die nicht dorthin gehörte und von irgendwoher hergeschleppt wurde, damit dort Blumen sprießen sollen… Man versuchte, der Dünen Herr zu werden, die jedoch im Hinterhalt lauerten. Aber dort…dort hob die Schönheit alles auf, was man nicht wissen konnte, woran man sich nicht erinnern konnte.
Sie erreichte den Strand und blieb stehen, betrachtete alle die vielen Menschen, die ihm entlang gingen, die einen schnell, die anderen spazierten, schauten auf die Wellen. Sie überlegte sich einen Moment lang, ob sie nordwärts in Richtung Mündung des Jarkonflusses gehen sollte, oder südwärts Richtung Jaffa, das zwar wie ein malerischer Felsen auf dem Hintergrund des blauen Himmels aussah, aber keiner kannte die Wahrheit so wie Lili.