Dona Gracia Mendes Nassi (1510-1569) war eine herausragende jüdische Frau, eine der wichtigsten der jüdischen Geschichte der letzten zweitausend Jahre.
Gracias Eltern lebten als Marranos oder „Neuchristen“ (im Gegensatz zu den im Folgenden erwähnten „Altchristen“) in Lissabon, ihr Vater war Arzt am Hof des Königs. Ihre Heirat im Alter von achtzehn Jahren mit Francisco Mendes, einer der reichsten Männer seiner Zeit, und sein früher Tod, hinterließen ihr ein Vermögen und eine Tochter. Sie erholte sich schnell, verließ Portugal und verwaltete die Familiengeschäfte an verschiedenen Orten in Europa, wobei sie vielen Juden und Marranos finanziell half. Der Schluss des folgenden Auszuges ist eine Anspielung für die herausragende wirtschaftliche Bedeutung, die Dona Gracia im Bereich der Mittelmeerländer spielte. Sie ließ sich schließlich in Konstantinopel nieder, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches und befreundete sich mit dem Sultan Süleyman I., genannt: der Prächtige (ca.1495-1566). Von ihm erhielt sie die Erlaubnis, eine jüdische Gemeinde am See Genezareth, in Tiberias, zu gründen.
Sie wollte so viel Juden wie möglich nach Palästina bringen, sodass sie leben könnten, wie sie es wollten, in religiöser und nationaler Freiheit, aber sie hat ihr Ziel nicht erreicht, einerseits wegen der Kommunikationsschwierigkeiten zu jener Zeit, und andererseits, weil zu wenig an ihre Idee glaubten.
Im folgenden Ausschnitt aus „Dona Gracia“ (2012) bereitet sich die junge Gracia zu ihrer Konfirmation vor, als…
Der Autor Guiora Barak ist Touristenführer, mit Spezialisierung auf Spanien und Portugal.
Dona Gracia
von Guiora Barak
Übersetzung: Uri Shani
…Außer den Bildern waren die Wände voll von Ikonen, sowie einige Ikone als Skulpturen in den Ecken. Neben einigen von ihnen waren Blumenkränze aufgehängt. Die Ikonenbilder und -Skulpturen waren mit dem Gesicht zur Wand umgedreht. Nur wenn „alte Christen“ zu Besuch kamen, wurden sie umgedreht und mit frischen Blumen beschmückt. An der mittleren Wand im großen Zimmer war ein Bild von Jesus, sein Haupt mit Blumen beschmückt. Das Gemälde war goldig eingerahmt, und daneben leuchtete eine Gaslampe die ganze Zeit. Ein großer Blumenstrauß umrahmte das Bild.
Philipa, die Hausherrin, war mit einem langen schwarzen Kleid mit aufgebauschten Ärmeln bekleidet, einem biederen Dekollete und einem Schal um die Schultern, wie es sich für die Frau des Hofarztes gehörte und zu diesem besonderen Tag passte. Ihr Haar war hinter dem Kopf zusammengebunden, und ihren Kopf zierte ein runder Stoffhut, der leicht zur Seite neigte, mit einer mit Edelsteinen beschmückten Nadel befestigt, an ihrem Hals hing eine Kette mit dicken Perlen. Sie wandte sich an Gracia, küsste sie auf die Wangen und sagte zu ihr:
„Guten Morgen, meine Liebe. Wie hast du heute Nacht geschlafen? Komm mit mir, bitte. Ich möchte mit dir über etwas Wichtiges sprechen.“
Bevor Gracia antworten konnte, schritt die Mutter davon und Gracia ihr hinterher. Die Mutter ging die Treppe in den Keller hinunter und öffnete eine schwere Tür.
„Aber Mutter“, sagte Gracia. „Das ist Vaters Zimmer. Du weißt, dass wir hierhin nicht hinein dürfen.“
In diesem Zimmer im Keller empfing ihr Vater seine privaten Patienten. Außerdem kamen zu ihm in dieses Zimmer verschiedene Menschen, vor allem Männer. Am Freitagabend kamen immer gut Angezogene. Gracia hatte das schon längst bemerkt, aber immer wenn sie danach fragte, hatte ihre Mutter ihr gesagt, dass dies Männer seine, mit denen ihr Vater Geschäfte mache.
„Das ist in Ordnung, meine Liebe. Heute erlaubt uns Vater, hier zu sein.“
Das Zimmer war groß und fensterlos. An allen Wänden standen volle Bücherregale. Teppiche in angenehmen Farben und mit symmetrischen Mustern bedeckten den Fußboden. Am entfernten Ende stand ein großer Holztisch, dahinter ein Sessel und davor ein paar Stühle.
Das ist also Vaters Arbeitszimmer, sagte Gracia zu sich. Warum hatte er ihnen den Zutritt verboten?
Ihre Mutter setzte sich auf einen der Stühle vor dem Tisch und lud Gracia ein, sich auf den anderen zu setzen. Das Mädchen setzte sich, indem sie sorgfältig ihr weißes Kleid glättete, damit es keine Falten kriege.
„Ja, Mutter.“
Philipa schien zu zögern. Eine lange Minute lang saß sie schweigend, blickte ihre Tochter sanftmütig an, streichelte ihre Hand, die in ihrer Hand lag. Inzwischen nahm Gracia wahr, dass der dunkelbraune Holztisch mit Schnitzereien in Formen von Früchten, Zweigen, Anker und Seilen geschmützt war. Auch der prunkhafte Sessel war mit denselben Schnitzereien geschmückt. Das Polster weich, in angenehmen Farben und mit Blumen verziert. Ähnlich, aber bescheidener waren die Stühle, auf denen ihre Mutter und sie selbst saßen, und der Stuhl daneben.
Schließlich nahm Philipa tief Atem und sagte:
„Hör genau zu, meine geliebte Tochter, was ich dir sagen werde. Ich weiß, dass Du danach viele Fragen haben wirst, aber wir haben nicht viel Zeit, denn wir müssen dann sofort in die Kirche.“
„Dann verschieben wir das vielleicht besser auf morgen“, sagte Gracia.
Philipa lächelte und sagte: „Das geht nicht. Dieses Gespräch muss heute stattfinden. Heute wirst du gefirmt, und du bereitest dich mit deinen Freundinnen schon seit einigen Monaten auf die Firmung vor. Und was ich dir erzählen werde, hat mit diesem Tag heute zu tun, wo du im Alter von 12 Jahren unabhängig und verantwortlich für deine Taten wirst.“
„Na gut, aber was ist denn dieses Wichtige, was du mir sagen willst? „
„Kannst du dich erinnern, dass vor einem Jahr, etwa, Menschen durch die Straßen geschleppt wurden, und du fragtest mich, wer sie seien, und was sie getan hätten?“
„Ja, ich kann mich erinnern, und du sagtest mir, das seien Juden, diese Verfluchten, die unseren Herrn Jesus getötet haben.“
„Bist du böse auf sie?“
„Aber sicher, Mama. Was für eine Frage! In jeder Stunde des Religionsunterrichts und besonders jetzt vor der Firmung wurde uns erzählt, wie böse diese Menschen seien, wie sie unseren Herrn Jesus getötet hätten und uns peinigen wollten“, antwortete das Mädchen wütend.
Philipa atmete wieder tief, nahm beide Hände des Mädchens in die ihren und sagte leise: „Hör mir gut zu: Du bist auch eine Jüdin.“
Das Mädchen riss die Augen auf, öffnete den Mund, sprang von ihrem Stuhl und schrie: „Mama, was ist in dich gefahren? Bist du verrückt geworden? Wie kannst du mir so etwas sagen?“
Philipa lächelte traurig und sagte still: „Hör mir gut zu. Genau an diesem Tag, an dem du in die Kirche gehst und eine bessere Christin wirst, musst du die Wahrheit wissen: Wir sind alle Juden!“
„Mama, ich will nichts mehr darüber hören. Hör auf, ich will nicht Teil sein von diesen bösen Menschen!“ Das Mädchen schrie und war bleich vor Erschütterung.
„Ich verstehe deine Überraschung. Aber es ist Tatsache. Wir sind Juden, und wir sind stolz darauf, denn wir sind Teil eines sehr alten und besonderen Volkes. Ich kann dir jetzt nicht viel erzählen, aber ich verspreche dir, dass ich in den nächsten Tagen abends zu dir ins Zimmer kommen und dir alles erklären werde. Eines aber musst du jetzt schon verstehen: Wir sind keine böse Menschen, wir haben niemanden umgebracht, und ganz bestimmt nicht den Herrn Jesu. Und alles, was über uns erzählt wird, das kommt von der Eifersucht. Kennst du das, dass Kinder alle möglichen Dinge über andere Kinder erfinden, weil sie eifersüchtig sind?“
„Ja, Mama, das kenne ich. Aber so viele böse Dinge über so viele Menschen – das scheint mir doch nicht logisch, dass das alles aus Eifersucht kommt. Vielleicht weißt du nicht alles, Mama?“
Philipa lächelte und sagte: „Glaubs mir, ich erfinde das nicht. Du kannst dich auf Papa und auf mich verlassen, denn wenn die Juden wirklich so niederträchtig wären, wären wir glücklich, sie zu verlassen. Aber wir tragen in uns einen großen Stolz – wir sind nicht irgendein Volk, sondern ein ganz besonderes, zu dem viele kluge und große Menschen gehören.“
„Auch Papa und mein Bruder Rodrigo sind Juden? Warum hat Papa mir bis heute nichts gesagt? Auch Rodrigo habt ihr das erzählt? Und Rodrigos Frau, Magdalena? Und wenn sie Christin ist, wie geht das zwischen ihnen, und wenn wir Juden sind, warum verhalten wir uns wie Christen?“
„Deine Fragen sind gut und klug, und natürlich fragt ein kluges Mädchen, wie du eines bist, diese Fragen. Ich antworte dir jetzt nur ganz kurz. Wir sind alle Juden. Auch Papa, auch ich, auch Rodrigo, und Magdalena, und auch Juan. Magdalena kommt aus der jüdischen Familie Almosnino aus Aragon, wie wir, einer Familie, aus der wichtige Rabbiner abstammen, Rabbiner sind unsere Priester, und auch Gelehrte. Wenn Juan erwachsen sein wird, wird ihm seine Mutter erzählen, dass er Jude ist. Zu unserem Leidwesen können wir nicht offenkundig Juden sein. Denn der König verbietet das. Und so sind wir eben zu Hause Juden, und auch das nur still und geheim, aber draußen sind wir ganz und gar Christen.
„Sind wir die einzigen Juden in Portugal?“
„Nein“, lachte Philipa. „Es gibt noch Tausende wie wir. Und wir leben alle ein Doppelleben. Zuhause nennen wir dich Gracia, und in der Schule ist dein Name Beatrice di Luna, und so gibt es viele, die einen christlichen Namen haben, aber zuhause einen jüdischen, und sie verhalten sich zuhause als Juden und draußen als Christen.“
„Und wissen wir, wer sie sind, Mama? Eine meiner Freundinnen ist auch wie ich? Wie kann man wissen, wer ein richtiger Christ ist und wer, wie ich, eigentlich ein Jude?“
„Auch das ist eine gute Frage, mein Herzblatt“, sagte die Mutter. „Wir werden jetzt nicht weiter darüber sprechen. Aber wir Juden haben genau an diesem Tag, an dem du in der Kirche gefirmt wirst, auch eine ähnliche Zeremonie, und du wirst jetzt „Bat-Mitzva“, eine erwachsene Jüdin. Am nächsten Samstag werden wir das im familiären Rahmen feiern. Und heute, in der Kirche, mach alles genau so, wie du es mit deinen Freundinnen gelernt hast. Es wird dir die Hostie gereicht, die in ihren Augen den Körper Jesu symbolisiert, und du wirst es essen. Und sie werden dir den Wein reichen, der in ihren Augen sein Blut symbolisiert, und du wirst alles genau wie deine Freundinnen machen. Wir werden mit dir dort sein und uns an deiner Freude laben. Erinnere dich nur daran, dass du ein besonderes Mädchen bist. Am heutigen Tag wirst du zweimal erwachsen, in der Kirche, aber vor allem in deiner wahren Familie, dem Volke Israel. Und jetzt will ich dir ein Geschenk geben.“
Philipa wühlte in der tiefen Tasche ihres Kleides und zog eine lange Kette mit schwarzen glänzenden Perlen heraus.
„Diese Kette gehört ab heute dir. Heute wirst du sie nicht tragen, denn während der Firmung darf man keinen Schmuck tragen. Diese Kette erhielt ich von meiner Mutter, und sie bat mich, sie meiner ältesten Tochter an ihrer Bat-Mitzwa zu geben. Meine Mutter glaubte, dass in dieser Kette geheime Kräfte seien, die dir bei gegebener Stunde helfen könnten. Lege sie in dein Zimmer und komm schnell ins Esszimmer. Ich muss nochmals betonen: Versuche nicht zu erfahren, wer von deinen Freundinnen zu uns gehört. Du darfst mit niemandem darüber sprechen, auch mit niemandem hier im Haus, ohne dass ein Erwachsener, und nur jemand aus Deiner Familie, es tut! Wenn jemand Fremder oder sogar jemand, den du kennst, dich darüber fragt, weißt du nichts und sagst, du seist eine gute Christin!“
„Aber Mama“, rief Gracia, „warum diese Geheimnistuerei?“
„Ich habe jetzt keine Zeit, es dir zu erklären. Wisse nur, dass es böse Menschen gibt, dich uns nachschnüffeln und ein Indiz dafür finden wollen, dass wir Juden sind, und dann wird es uns übel ergehen. Ich werde dir alles erklären. Glaube mir, ich übertreibe nicht. Du musst sehr sehr gut achtgeben! So viele von uns wurden erwischt, weil sie nicht genug vorsichtig waren, und sie sind nicht mehr. Glaube mir. Mach, wie ich dir geheißen. Jetzt komm, Chana Nassi, das ist dein jüdischer Name“, und sie zog ihre Tochter zu sich und umarmte sie fest.
„Nur noch einen Moment, Mama.“ Gracia blieb hartnäckig. „Papa ist doch der Leibarzt unseres Königs, König Joao. Der König liebt ihn. Er wird uns doch wohl beschützen.“
„Das wäre schön, wenn es so einfach wäre“, lachte Philipa. „Der König herrscht über das ganze Königreich, aber er wird, wie es in vielen Häusern ist, von der Königin beherrscht, und sie, Katarina, weil sie aus Spanien kommt, hasst uns. Auch dieser König hasst uns eigentlich. Sein Vater, der, wie du dich bestimmt erinnerst, vor einem Jahr gestorben ist, König Emanuel „der Glückliche“, mochte uns. Es heißt, dass er sogar wusste, dass wir im Geheimen das Judentum bewahren, und wir haben ihn nicht bloßgestellt, dadurch, dass wir es an die große Glocke gehängt hätten, und er hat es sein lassen. Es peinigte ihn offenbar, all das Unrecht, das er uns wegen seiner Frau angetan hat. Aber seit Isabel gestorben war, hatte er sich offenbar beruhigt. Dem neuen König sind wir ein Dorn im Auge, und da er unerfahren ist, hat er vor allem und jedem Angst, etwas könne an seiner Machtstellung rütteln. Außerdem gibt es noch andere, die involviert sind, und darüber, wie versprochen, ein andermal. Komm, wir gehen rauf. Alle warten schon auf uns.“
Sie gingen umarmt hinauf. Alle, außer die Kinder, natürlich, wussten, was im Kellerzimmer geschehen war, gingen zu Gracia und, ohne ein Wort zu sagen, streichelten ihren Kopf, küssten sie oder legten die Hand auf ihre Schulter.
In zwei Karossen fuhr die Familie von ihrem Haus in die Stadt. Sie wohnten im Osten von Belem, unweit des Platzes, wo man heute den Padrao dos Descobrimentos, das Entdecker-Denkmal, sehen kann, das dort zur Erinnerung an „Heinrich den Seefahrer“ steht, der mehr als jeder andere dazu beitrug, dass Portugal zu einer Seemacht wurde. Der Weg führte sie zwischen den Häusern auf der einen Seite und auf der anderen der große Tejo, der aus Spanien kommt und hier, ein bisschen weiter westlich, in den Atlantischen Ozean fließt. Der Weg war nicht asphaltiert, sondern mit großen Kieselsteinen gepflastert, die aneinandergelegt wurden.
Segelboote
waren dem Steg entlang gebunden. Größere Schiffe ankerten im tieferen Wasser,
und die Fracht und die Passagiere wurden mit Booten ans Ufer gebracht. Obschon
es Sonntag war, an dem normalerweise nicht gearbeitet wurde, war im Hafen
hastiges Getriebe.
Hafenarbeiter schleppten auf ihren Schultern riesige Bündel aus den Schiffen
und ordneten sie am Hafen. Die Fracht war zum Teil in Stoffe eingebunden, und
zum Teil in Holzfässern. Kleine Ferkel, Geflügel und Hunde lungerten um die Bündel,
die in großen Haufen dalagen, und störten die Arbeiter. Frauen, wahrscheinlich
die Ehefrauen der Matrosen oder ihre Freundinnen, suchten und fragten laut nach
den Namen ihrer Männer. Es gab auch Beamte, mit Frachtlisten in den Händen, die
die Haufen inspizierten und ihre Listen aktualisierten.
Hierhin kamen Händler und erhielten, unter Aufsicht der Zollbeamten, die Waren, die sie bestellt hatten, und andere Händler kamen, um zu sehen, welche neuen Produkte gekommen waren und um mit den Schiffsoffizieren darum zu feilschen.
Klingt nach einem sehr interessanten historischen Roman – der Ausschnitt macht Lust auf mehr!
Ich muss auch zugestehen, dass ich – obwohl ich einige herausragende Frauen der juedischen Geschichte kenne (u.a. Rachel Varnhagen, Glickel von Hameln, Raschis Toechter, in moderner Zeit Rosa Luxemberg), war mir Donna Gracia nie ein Begriff – bis jetzt.
Frage an den Uebersetzer: in welchem israelischen Verlag erschien das Buch?