von: Hilde Shmerling-Becker
Heute vor neun Jahren, am 13.1.2011, es war ein ganz normaler Freitagabend, öffnete ich wieder einmal den Schrank mit dem Nachlass meiner Mutter, die sechs Jahre davor gestorben war. Ich suchte nach nichts Besonderem, aber meine Hand führte mich nolens volens zu einem Manuskript, das ich nicht gekannt hatte. Es nicht einer der Gedichtbände, es war auch keiner der Romane, auch nicht ihr Buch über den gemeinsamen Ursprung aller menschlichen Sprachen, auch nicht ihr Mathematikbuch. Es war etwas, das ich nicht kannte, denn sie hatte es nicht mehr geschafft es einzuscannen. Alles andere hatte sie vor ihrem Tod in digitaler Form hinterlassen. Ich machte die erste Seite auf: Mutter zwischen den Fronten. Tagebuch. Erster Eintrag: 13.1.1991. Also genau heute vor zwanzig Jahren!
An diesem Abend entstand die Idee, an jedem Tag das abzutippen, was sie heute vor zwanzig Jahren geschrieben hatte und es aufs Internet zu stellen. Das erzeugte eine Gemeinschaft von Lesern, von Miterlebern, die mit Hilde Shmerling, ihren Söhnen, ihren Schwiegertöchtern alle zusammen den Krieg nochmals miterlebten, an dem Israel offiziell nicht teilnahm, dessen Zivilbevölkerung aber sehr wohl „mitmachte“. Meine Mutter hatte beschlossen: Wenn ich zwei Söhne in Tel-Aviv habe, dann will ich nicht tatenlos in der Schweiz sitzen. Das Ultimatum sollte am 15.1. auslaufen, und Hilde bestieg am 13.1. das Flugzeug nach Tel-Aviv.
Dienstag, 15. Januar, nachmittags
Heute überlege ich mir dass es sinnvoll ist, ein Tagebuch zu führen. Buch über die Tage des Schreckens – alles zu schildern, was in mir auf und ab steigt.
Diese ohnmächtige Angst, die mich von allen Seiten hält und die ich doch längst zugegeben habe, vor zwei Wochen schon, als ich beschloss, hierher zu kommen. Eine Angst, die ausgelebt sein will; die ich vor sechs Jahren in den Gedichten „Am Tag danach“ zum Ausdruck brachte – die teuflische Angst vor dem absoluten Null, dem absoluten Schwarz, das auf uns kommt…
[…]
Heute abend wollen Esthi und Doron die Flasche Champagner aus dem Taxfree öffnen, weil morgen früh das Ultimatum ausläuft.
[…]
Dienstag, 15. Januar, abends I
Nach dem Abendbrot besprach Uri mit mir ein Theaterstück, in dem ein Traum die Hauptrolle spielt neben der Frau (die ihn träumt) und ihrem Mann. Wechselspiel zwischen Person und Leuchtkraft – gibt es Vieldeutbareres, als Abstraktes mit Konkretem parallel zu setzen? Die Welt wird zur Figur, und die Figur, aus sich herausgestülpt, zur Welt. – Ich genoss das geistige Duell mit meinem Sohn als seltenen Leckerbissen
Dienstag, 15. Januar abends II
[…] Edith und Uri kommen um elf wie versprochen, und wir telefonieren wie verabredet mit Tochter-Schwester Dani in Zürich. (Zwei Monate später wird sich Doron über die Telefonrechnung wundern, aber jetzt bin ich noch arglos.)
Kurz darauf öffnet Doron die Champagnerflasche (und jetzt: sich etwas wünschen – das Glas ganz austrinken – sich etwas wirklich wünschen und niemandem sagen, sonst bringts Unglück. Wie Silvester. […])
Hier könnt Ihr das lesen, was ich damals aufs Netz stellte, entweder am Stück, oder Ihr könnt es so machen, wie wir es damals erlebten: An jedem Tag das lesen, was Hilde heute vor 29 Jahren geschrieben hat.
Wow ist es schon 9 Jahre her seitdem Du das Tagebuch täglich gepostet hast? Ich bin jeden Tag fast vergixelt in Erwartung des folgenden Eintrages.