Ruth Lorand ist Professor emiritus für Philosophie an der Universität Haifa. Sie hat Bücher über Ästhetik, Kunst, Interpretation und Ordnung publiziert, darunter: „über die Natur der Kunst“ (1991), „Die Ästhetik“ (2007), „Interpretation und Erkenntnis“ (2010). Außerdem publizierte eine Sammlung von Geschichten und eine von Gedichten, und den Roman „Ungarische Spitze“ (2018).
»Ungarische Spitze« ist eine Reise, mit der eine Rechnung beglichen werden soll. Die Erzählerin, ehemals Literaturlehrerin und heute Immobilienmaklerin, fährt ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter nach Budapest. Während der beiden Monate ihres Aufenthalts in der Stadt will sie das Bankkonto ihrer Mutter, einer Shoah-Überlebenden, schließen, das Ungarisch ihrer Kindheit auffrischen, in Budapest eine Wohnung kaufen und sich die Einnahme von Schlaftabletten abgewöhnen. Bürokratische Ärgernisse, unerwartete Bekanntschaften und Begegnungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit bringen ihr neue Erkenntnisse über das Elend ihrer Familie, ihren Heimatort und ihr Elternhaus, über die Freundschafts- und Liebesbeziehungen ihres Lebens sowie über die Kluft zwischen Literatur und Realität. Durch von Selbstironie durchsetzte, nachdenkliche Betrachtungen und traurigen Humor versucht die Erzählerin, das Gleichgewicht zwischen prosaisch Alltäglichem, Emotionalem und Dramatischem, zwischen körperlichem und seelischem Schmerz und den kleinen Trostpflastern des Lebens nicht zu zerstören.
Ungarische Spitze
von Ruth Lorand
Übersetzung: Rachel Gruenberger Elbaz
Als sie neunzehn Jahre später zum zweiten Mal in das nordungarische Dorf fährt, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist, erinnert sich die Erzählerin an ihren vorherigen gemeinsamen Besuch vor Ort.
»Gehen wir«, sagt sie, während sie sich bemüht, ihren Körper aus dem Taxi zu hieven. Auch unser freundlicher Fahrer steigt aus, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, das Autofenster zu schließen oder seinen Wagen abzusperren. Ich folge den beiden. Die Straße heißt, wie könnte es auch anders sein, Petöfi. Sie zeigt auf eine kleine weiße Kirche an der anderen Straßenseite, gegenüber einem langgestreckten Gebäude, das wie eine Schule aussieht. »Dort«, sagt sie, »dort stand das Haus, gegenüber dieser Kirche.« Ich versuche, den genauen Punkt auszumachen, auf den sie weist, aber ihre Handbewegung ist rund und weit ausholend. »Wo genau war das?«, frage ich, während wir der Kirche näherkommen. »Hier«, sagt sie, »fast die ganze Straße hier gehörte uns. Mein Großvater hat das Haus gebaut, als er heiratete. Es war ein großes Haus und ein Hof, und ein Laden mit einem Keller zum Lagern von Mais und einen Kühlkeller mit großen Eisblöcken, und dahinter gab es noch einen Lagerraum. Hier war eine Steinmauer und ein großes schönes Tor aus Eisen.« »Hieß es schon damals Petöfi-Straße?«, frage ich und sie zuckt mit den Schultern. Was spielt das schon für eine Rolle?
Ich hätte gern die genaue Adresse gekannt, hätte gern das Haus gesehen und gewusst, wie viele Zimmer es hatte, und ob sie dort ihr eigenes Zimmer besessen, und wo dieses gelegen hatte, und was sie sehen konnte, wenn sie aus dem Fenster sah. Ich fotografiere die Kirche und die Schule. Davor hatte ich meine Mutter neben dem Taxi fotografiert, aber jetzt, als sie neben dem Fahrer steht, gibt sie mir ein Zeichen, keine Fotos zu machen. Schade. In meiner Fantasie schicke ich Yosske das Bild und schreibe ihm: »Du wirst es nicht glauben, aber Mutter hat einen neuen Freund.« Wir kehren zum Taxi zurück und sie sagt etwas zum Fahrer. Dann fahren wir zwei Minuten und machen abermals halt. Ich gehe ihr nach. Auch der Fahrer weicht nicht von ihren Fersen. Am Ende der Straße, die den Namen des Nationaldichters trägt, liegt das Haus der Kommunalverwaltung. Wir steigen in den zweiten Stock hinauf. Sie steuert auf den einzigen Schalter zu, den es in dem kleinen, leeren Saal gibt, spricht mit der Beamtin und zeigt ihr ihren Reisepass. Der Fahrer steht an ihrer Seite, für den Fall, dass sie ihn brauchen sollte, und ich stehe dahinter. Die Beamtin erhebt sich, geht ins Hinterzimmer und kehrt mit zwei großen Registerbänden und einer zusammengefalteten Karte zurück. Die Karte wird ausgebreitet und die drei fahren mit dem Finger darauf herum. Dann wird die Karte beiseitegeschoben und eines der beiden großen Register aufgeschlagen. Die Beamtin sucht und findet schließlich den Namen Weiss, einen der letzten auf der Liste. Dort steht vermerkt, Herr Gabriel Gabor Weiss habe sich an diesem oder jenem Tag in diesem oder jenem Jahr mit Regina, geborener Berkovitz vermählt. Auch der Name von Rabbiner Frenkel ist vermerkt, als derjenige, der das Paar traute. Später sagte mir meine Mutter: »Er war ein ganz besonderer Mensch, dieser Rabbiner Frenkel. Er war bereits Rabbiner von Pirisce, bevor ich geboren wurde, und zog als alter Mann nach Satmar. Wir haben ihn dort besucht. Aber er hatte keine Stimme wie mein Vater und war auch nicht so schön wie mein Vater. Mein Vater war etwas anderes.«
Jetzt ist das zweite Register an der Reihe. Er enthält die Listen der Hauseigentümer des Dorfes vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Beamtin dreht den großen Band so hin, dass meine Mutter darin lesen kann und verweist sie auf die richtige Seite. Wieder breitet sie die beiliegende Karte aus und fährt mit dem Finger zwischen Register und Karte hin und her. Ich kann weder das eine noch das andere sehen, da ich seitlich stehe, hinter dem Fahrer. Ich beobachte meine Mutter. An ihrem suchenden Blick, der plötzlich haltmacht und für den Bruchteil einer Sekunde wie erstarrt, erkenne ich, dass sie gefunden hat, was sie wollte. Die Parzelle soundso und das Haus soundso sind auf den Namen von Gabriel Gabor Weiss eingetragen. Inzwischen ist die Immobilie längst vom ungarischen Staat beschlagnahmt worden, zur Nutzung durch die Öffentlichkeit, das Haus zu einem Schutthaufen zertrümmert. Wie ihr der Rechtsanwalt in Budapest bereits klargemacht hat, besteht nicht die geringste Aussicht darauf, das Grundstück oder irgendeine Entschädigung dafür zu bekommen. Die ungarische Regierung könne das Rad der Geschichte nicht zurückzudrehen. Dennoch bereitet ihr die Tatsache, die Register gefunden zu haben, die bestätigen, was sie ohnehin schon wusste, eine gewisse Befriedigung. Sie dankt der Beamtin, die die Karte wieder zusammenfaltet und die großen Bände schließt, und wir drei kehren zum Taxi zurück.
Der Fahrer sieht meine Mutter an. Er erzählt ihr etwas über die Zeit in Nyírbátor vor dem schrecklichen Krieg und über die Werkstatt, die er damals besaß, zur Herstellung von Ledertaschen. Eine solche habe es kein zweites Mal gegeben, im ganzen Landkreis Szabolcs-Szatmár-Bereg nicht. Meine Mutter hört schweigend zu, vielleicht hört sie auch gar nicht zu. Ich weiß ganz genau, dass alles, was er sagt, sie nicht die Bohne interessiert, und vielleicht sogar noch weniger als das. Schließlich hat sie den langen Weg von Budapest hierher in den beiden Bummelzügen nicht zurückgelegt, um sich mit einem achtzigjährigen Mann zu befassen, dessen ganz ruhmreiche Vergangenheit aus der Herstellung von Ledertaschen in einem abgelegenen ostungarischen Landstrich bestanden hatte, und der nun ein weißes Taxi über ungepflasterte Straßen fuhr und sie bewundernd ansah. Er interpretiert ihr Schweigen anders. Fährt munter mit seinen Erzählungen fort, fast wie ein kleiner Junge, und trotz der herbstlichen Kühle stehen auf seiner Stirn kleine Schweißperlen, die er mit dem Ärmel wegwischt. Er beeilt sich nicht, den Wagen zu starten. Mir geht ein verrückter Gedanke durch den Kopf: Hier, im Dorf ihrer Kindheit, im hohen Alter, wird ihr eine neue Liebe erblühen. Was für ein paprikagewürzter ungarischer Film sich daraus doch machen ließe! Der alte Liebhaber fährt sie in seinem weißen Taxi hinaus in die gelben Maisfelder vor dem Dorf, im Hintergrund ertönt die Weise eines ungarischen Volkslieds:
Wenn der Mais gelb wird und blüht den Weg entlang,
und vor dem Horizont zwitschert der Vogelgesang,
stehst du, mein geliebtes Täubchen am Feldesrand,
und wartest auf mich, ein besticktes Tüchlein in der Hand.
Meine Mutter dreht den Kopf zu mir um und fasst mich ins Auge, als habe sie sich plötzlich an meine Gegenwart erinnert und wundere sich nun, wie ich hierher gelangt sei, an diesen Ort, an dem sie fünfundzwanzig Jahre lang gelebt hatte, ohne sich vorzustellen, dass es mich eines Tages geben könne. Und ebenso wenig, wie ich ihre Gedanken lesen kann, kennt sie die meinen. Das ist eines der Dinge, die uns voreinander beschützen, eine vor der anderen. Nur mühsam unterdrücke ich ein Lächeln. Was für ein großartiges Drama ich doch soeben vor meinem geistigen Auge in Szene gesetzt hatte. Was für ein Glück, dass sie es nicht sehen konnte. Hat es für sie jemals eine wirklich große Liebe gegeben? Fünfundzwanzig Jahre war sie alt gewesen, als sie ihr Heim im Dorf verlassen musste, am Vorabend des Pessach 1944, gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern. Sie alle wurden ins Ghetto von Nyíregyháza gebracht und von dort mit einem Zug über die Grenze. Bis zu jenem Pessach hatte meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, in ihrem Elternhaus gesessen und bei den Geschäften der Familie mitgeholfen. Vielleicht war sie hinter der Theke gestanden und hatte Kunden bedient, vielleicht war sie auch in den Keller hinabgestiegen, um dort den trockenen Mais aufzuschichten, vielleicht hatte sie Marmelade eingekocht oder auch Taschentücher bestickt, vielleicht hatte sie verbotene Bücher gelesen und unter dem Apfelbaum Träume geträumt.
Vor Jahren hatte ich gehört, wie sie Zelma Szekely erzählte, sie habe an der Akademie von Drebrecen studieren wollen, ihr Vater sei jedoch nicht einverstanden gewesen. Warum hatte er es nicht erlaubt? Was hatte sie damals lernen wollen? Und wieso hatte sie im Alter von achtzehn oder zwanzig Jahren noch niemanden geheiratet? Ihre älteren Schwestern waren längst aus dem Haus und sie, die jüngste der Mädchen, aber auch nicht mehr ganz jung, war noch da. War sie womöglich unglücklich in einen der Dorfjünglinge verliebt gewesen? Vielleicht in den Sohn der katholischen Nachbarn? Vielleicht in den Sohn des protestantischen Pfarrers und vielleicht auch in den Sohn des Rabbiners im Schtetl, der längst schon der Tochter des Rabbiners im benachbarten Schtetl versprochen war. Der Blick des alten Fahrers, der die resolute kleine Frau staunend beobachtete, erinnerte mich daran, dass meine winzig kleine, alternde und schwerfällige Mutter einmal eine attraktive junge Frau mit blauen Augen und seidenweichem Haar gewesen war, und ihr Gesicht vielleicht eine längst verschwundene Sanftheit ausgestrahlt hatte und der Gegenstand der Liebe eines jungen Mannes gewesen war. Vielleicht war sie in den Abendstunden zum Feld, den Sträuchern und den Bäumen hinausgegangen, um ihn heimlich zu treffen. Wie sehr wünschte ich mir doch, ein trockenes Blatt oder eine leblose Grille in den Kammern ihres Herzens zu sein, um zu wissen, wohin ihr aus dem Fenster schweifender Blick gerichtet war, und wer dort stand, um auf diesen Blick zu warten. Es will mir nicht gelingen, aus diesem Sammelsurium von Fragen eine Geschichte zusammensetzen, auch nicht, wenn ich sie alle vermische, kräftig verrühre und durchschüttle, und ihnen dann nach Herzenslust neue Fragezeichen, Ausrufezeichen und Punkte beimenge. Nur sie selbst kann diese Geschichte erzählen, aber sie wird nichts erzählen und ich werde nicht fragen.
Sehr schoener Auszug! Nur heisst die Uebersetzerin meines Wisswns nach Rachel Gruenberger-Elbaz, und nicht, wie oben erwaehnt…
An „BR“… und wie heißt denn die Übersetzerin Ihres Erachtens?
MfG, Rachel Grünberger-Elbaz