Wardimon war mit Shulamit Aloni einer der Begründer von „Ratz“ (heute: Meretz), hat mit Motti Ashkenasi die Protestbewegung nach dem Oktoberkrieg von 1973 angeführt und hat „Shalom Achschaw“ mitbegründet. Beruflich war er in verschiedenen Bereichen tätig, vor allem als Geschäftsmann. Unter anderem war er Produzent der Erstaufführung des Musicals „Hair“ in Israel.
Drei seiner Bücher sind eine Art Trilogie, das erste, „Meine kleinen Kriege“, zugleich sein erstes Buch, ein Initiationsroman mit Uri als Hauptfigur, einem Jüngling aus Tel-Aviv. „Tausend Meter“ ist das erste Kapitel dieses Buches. Zu dieser Zeit war „Uri“ Schüler der legandären „Gimnassia Herzliya“, die erste Mittelschule in Palästina, in der Hebräisch Unterrichtssprache war und in der auch Itzchak Rabin zur Zeit der Mittelschule gelernt hat (und auch mein Vater…U.S.). Die „Gimnassia Herzliya“ befindet sich heute im Norden von Tel-Aviv. Wo das Gebäude von Gimnassia Herzliya einstmals stand, steht heute der „Migdal Shalom“.
Tausend Meter
von Orgad Wardimon
Übersetzung: Uri Shani
…Chemi rannte herrlich. Ich mochte die Atmosphäre des Wettkampfes, und noch mehr mochte ich es, wenn ich die Gemeinschaft mit dem Widersacher verspürte, den ich persönlich kannte. ‚Ich bin kein Arschkriecher der Lehrer, was geht mich die Ehre und das Symbol der „Gimnassia“ an‘, meckerte ich bei mir, als plötzlich eine Unruhe im Publikum entstand. Alle Augen waren auf die Hochsprunglatte gerichtet. Die Latte war nicht weit von uns und stand jetzt auf ein Meter siebzig. Alle folgten dem hohen und mageren Wettkämpfer, der angespannt in angemessener Entfernung stand und sich auf den Sprung vorbereitete. „Arajot“ [=Löwen], raunte das Publikum voller Ehrfurcht, „das ist Arajot.“ Bis zu diesem Tag hatte ich nur Legenden über „Arajot“ gehört. Er war in der „Ironi Alef“ [städtische Mittelschule Nr. 1], und obwohl er von meinem Sitzplatz aus sehr erwachsen aussah, riesig, war er in meinem Alter. Beim Sprung über 1.70 hatte er noch zwei Konkurrenten. Ich wusste, dass er gewinnen wird. Alle wussten es. Er war Landesjugendchampion, und als die beiden Konkurrenten es nicht schafften, machte er noch weiter, auch als die Latte auf eins fünfundsiebzig gehoben wurde, und auch danach. Fast hätte er eins achtzig geschafft. „Arajot“, staunten alle, und er sah so nett aus. Ein richtiger Sportler, und es war mir völlig egal, dass er von „Ironi Alef“ war und nicht von unserer „Gimnassia“. Er war ein wunderbarer Sportler, und sofort dachte ich: ‚Wenn der in unserem Alter schon so hoch springt, kann er in fünf, sechs Jahren Weltmeister werden!
Es hatte sich gelohnt herzukommen, auch wenn es nur war, um ihn zu sehen. „Warum nennen sie ihn Löwen?“ fragte ich Chemi, der sich neben mir setzte. „Arajot ist Arje“, antwortete er. „Die Freunde, ich glaub von den Pfadfindern, nennen ihn Arajot, aber sein Name ist Arje, Arik Einstein.“ [Und das ist der bekannte Popsänger, der vor sechs Jahren gestorben ist… U.S.]
Den dritten Platz erreichte jemand von der Gimnassia, dessen Name ich nicht mal weiß.
„Hör mal“, wandte sich Chemi an mich, „Ewen-Sahaw“ will, dass du mitmachst.“ [Ewen-Sahaw ist eine Hebräisierung von Goldstein. U.S.]
Ich war schockiert. Mitmachen? Ich? In welcher Disziplin? Was soll das, in welcher Disziplin kann ich gut sein? Ich bin klein und schwach. Zum Glück war der Wettkampf im Kugelstoßen schon vorüber.
„Ist er auf den Kopf gefallen?“ fragte ich. „Wieso ich?“
„Es fehlt uns einer für den Tausend Meter.“
Ich war so erstaunt, dass ich kein Wort über die Lippen brachte, und mein Blick blieb reglos an ihm hängen. Er brach in freies und wildes Gelächter aus und sagte wieder: „Ja, es fehlt uns einer für den Tausend Meter.“
Ich fühlte mich wie ein Idiot. Was fehlt, wer fehlt, und was heißt das eigentlich Tausend Meter laufen? Langsam taute ein verlegenes Lächeln meine eingefrorene Maske auf. „Was ist das, Tausend Meter?“ fragte ich ihn, und diesmal, für einen Augenblick, sah auch er verlegen aus der Wäsche. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken, und er schaute mich an, als ob er nicht verstünde.
…..
Und so fand ich mich am Startblock, wie ein Liliputaner, das Herz rasend, meine Schläfen drohten zu zerplatzen, und ich wiederholte immer wieder die Worte von Ewen-Sahaw: „Atme in gleichmäßigem Rhythmus. Zähle – vier einatmen – vier ausatmen. In gleichmäßigem Rhythmus. Schon beim Start, lass die Spannung dir nicht den Rhythmus ändern. Atmen. Atmen. Atmen….“
Die Zeit stand still, und die Luft hatte schon meine Lungen verlassen. Der Schatten der Konkurrenten, die sich auf den Start vorbereiteten, drückte meine Füße fest in den Boden. Das Echo der Worte des Lehrers verwirrten mich nur. Ich versuchte, den Rhythmus meines Atems beizubehalten und verlor alles. ‚Den Rhythmus beibehalten!‘ schrie ich mir zu. ‚Den Rhythmus beibehalten!‘ befahl ich meinem pochenden Herzen. Aber welchen Rhythmus? Welchen Rhythmus beibehalten? Den Rhythmus, in dem ich jetzt atmete? Aber ich atmete ja so schnell wie ich weiß nicht was, und schon atmete ich noch schneller, soll ich also den neuen Rhythmus beibehalten? Wie? Das ist so schnell. Es ist vorbei. Ich habe keine Luft!
Alle verschwanden. Für eine Sekunde dachte ich, dass sie alle schon abgehauen seien, und plötzlich hörte ich das Echo des Schusses, das mir von allen Seiten auf die Ohren schlug. Alle begannen zu rennen, und so auch meine Beine. Meine Beine, was für ein Glück, hörten den Schuss noch vor mir. Ich lief ein wenig dahinter, hinter der großen Gruppe der Läufer, aber ich lief! Das Gefühl, dass ich lief, erleichterte mich unglaublich. Der Abstand zwischen mir und der Gruppe der Läufer vor mir störte mich nicht. Ein unglaubliches Gefühl von Fortschritt. Die Beine bewegten sich wie von selbst und trugen meinen leichten Körper über die Laufbahn. Ich lief mit den Großen! Auf einer richtigen Laufbahn in einem Stadion von „Profis“! Ich hätte beinahe begonnen zu singen. Die Anspannung löste sich, und die Beine machten, was sie können – sie liefen. Und ich lief.
Noch einige Dutzend Meter lief ich so, bis ich das Publikum sah. ‚Es gibt ein Publikum!‘ erinnerte ich mich plötzlich. ‚Man sieht mich im Stadion laufen.‘ Ein angenehmes Kitzeln durchfuhr mich, bis ich plötzlich verstand, dass ich zwar lief, aber das ist nicht einfach ein Vergnügungslauf, hier ist ein Wettkampf, und ich bin einer der Wettkämpfer, Profi oder nicht, das ist egal, da ist ein Publikum, und ich – ich bin nicht einfach eine bedeutungslose Nummer. Ich habe einen Namen. Ich gebe nicht auf, ich werde nicht als Letzter ankommen!
Eine neue Anspannung durchfuhr meine Muskeln. Mein Blick hatte schon meinen Widersacher vor mir fixiert. Die Linie der Läufer vor mir wurde länger. Die Vorderen suchte ich schon gar nicht mit den Augen. Ich fixierte mich auf den Letzten, der etwa zehn Meter vor mir lief. ‚Das kannst du.‘ ‚Du erreichst ihn‘, trieb ich mich an. ‚Behalte nur deinen Atem bei, ändere nicht plötzlich den Rhythmus, denk an des Lehrers Worte!‘ Aber zum Teufel mit dem Lehrer. Ich bin der Letzte, und ich muss ihn erreichen, aber wie kann ich ihn erreichen, wenn ich den Rhythmus beibehalte? Ich muss schneller laufen, den Rückstand aufholen.
Und meine Beine begannen, den Rhythmus zu beschleunigen, wie von selbst. Zunächst schien das gut zu gehen, die Distanz verringerte sich schneller, als ich vorgehabt hatte, und ich war schon hinter ihm, und gleich werde ich ihn überholen. Der Lehrer hatte gesagt: Immer schön am Zentrum des Feldes laufen, in der linken Bahn. Er sagte, das sei kürzer. Aber ich muss überholen. Und der blieb auf der linken Bahn. Ich überlegte und überholte. Der Kopf macht das Eine, die Beine etwas Anderes. Im Kopf zermartere ich mir das Gehirn, und die Beine machen das Ihre. Und ich überhole ihn von rechts und sehe schon, als ich zwei Meter vor ihm bin, den nächsten Läufer, und wir haben schon fast eine Runde gedreht. Bald schon vierhundert Meter, und ich laufe, und ich bin schon nicht mehr der Letzte. Wieder auf die linke Bahn? Mich beruhigen? Und wenn ich den Nächsten überholen will? Nochmals den Rhythmus wechseln, Energie vergeuden und von rechts überholen? Wenn schon, auch wenn der Lehrer gesagt hat… ich bleibe rechts, und mache schwebend weiter und bin schon bald neben ihm, höre ihn atmen, und er sieht so schwer aus, und jetzt haben wir schon die 400-Meter-Linie überquert, und ich auch ihn, und ich hörte das Publikum anfeuern und anspornen, und einen Moment lang dachte ich, das sei für mich, aber dann verkündete der Ausrufer ein Ergebnis im Mädchen-Weitsprung-Wettkampf. Und ich laufe, und wir nähern uns der Mitte des Rennens, und jetzt sehe ich schon die Gruppe der Vorderen, etwa fünfzig Meter vor mir, und dahinter in einer langen Reihe all jene, die noch vor mir sind und die Vorderen nicht herausfordern.
Schon drei habe ich hinter mir gelassen. Ich spüre schon meinen Atem. Er ist zu schnell. Ich kann ihn nicht halten. Ich habe nicht genügend Luft, um den Rhythmus von: ein Schritt einatmen, vier Schnitte ausatmen einzuhalten. Ich versuche, ihn einzuhalten und schaffe es nicht. Ich spüre schon den scharfen Schmerz in der Leiste. Ich kenne ihn. Das kann sehr schlimm werden. Auch Ewen-Sahaw hat gesagt: „Halte dich an den Rhythmus!“ Ich kann nicht, es schmerzt zu sehr. Ich muss was ändern, ich habe keine Luft. Ich begann zu flunkern. Ich änderte die Länge meiner Schritte. Anstatt schnelle und kurze Schritte ging ich in längere und langsamere Schritte über. Ja, ich änderte den Rhythmus, und das war nicht gut. So sagte der Lehrer – aber was kann ich schon machen? Aufhören? Der Schmerz durchfuhr meinen Körper. Und jetzt ging es eigentlich nicht schlecht. Der Rhythmus wurde ein wenig langsamer, und ich kam mit dem Atem nach. Ich pustete. Es hörte sich an wie bei dem Zweiten, den ich überholt hatte, und bei ihm spürte ich, dass er in einer Krise war, und das hatte ich ausgenutzt und ihn überholt. Und jetzt war ich es, der pustete. Ich habe keine Wahl, ich werde um jedes Molekül von Luft kämpfen, es fehlt mir, und wir haben schon sechshundert Meter hinter uns. An diesen Ort der Runde kommen wir zum Schluss, noch eine ganze Runde, und ich höre hinter mir die Schritte von einem, den ich überholt habe. Er kommt näher, er versucht, mich zu überholen, er spürt, dass ich in einer Krise bin, und er stürzt sich auf mich wie auf eine leichte Beute!
Noch ein Moment, und ich werde ihn neben mir sehen, er läuft jetzt in einer Geschwindigkeit, die mir mörderisch erscheint, und jetzt überholt er wirklich und –
Der freche Hund schert sich einen Dreck um mich! Er überholt gesetzeswidrig, nicht wie ich. Dieser Drecksack, einer von einer höheren Schulklasse von Gimnassia Geula. Er stieß mich an der Schulter und warf mich noch vorne und auf die Seite, für einen Moment verlor ich das Gleichgewicht, bin fast umgefallen, irgendwie schaffte ich es, auf den Beinen zu bleiben, aber die Wucht des Schlages warf mich an die Grenze der Bahn. Ich wäre fast disqualifiziert worden. ‚So ein Schmock! Mich stößt er? Wer meint er, dass er ist!‘ Noch während des Stoßes dachte ich das alles, und das gab mir neue Energie. Ich nutzte seinen Stoß für einen neuen Rhythmus. Ich preschte vorwärts. Wie verrückt. Niemand gab acht, wir waren im letzten Drittel der Läufer, aber ich musste jetzt eine Rechnung begleichen! ‚Mich wird keiner stoßen!‘
Noch bevor ich verstand, was ich tat, überholte ich ihn und noch und noch andere. Ich begann den Endspurt, aber nicht in den letzten fünfzig oder hundert Meter, wie alle andern, sondern fast vierhundert! Erst als ich sicher war, dass der Schweinehund weit hinter mir war, verstand ich, was ich tat. Plötzlich, in den letzten zweihundert Metern, war ich schon viel näher bei den Ersten als bei den Hinteren. Vor mir waren nur noch vier Läufer, und die liefen schnell! Und in einheitlichem Rhythmus! Und sie schnappten nicht über wie ich und änderten den Rhythmus und rechneten mit anderen Läufern ab! Aber das Rennen war noch nicht zu Ende, und plötzlich änderte sich alles. Alles kam auf mich los in einer unmittelbaren Wucht. Alles verwirrte sich in mir, ich kam in einen Angstwirbel. Zunächst konnte ich die blitzartigen Gedanken, Schlussfolgerungen und Informationsfetzen noch sortieren.
‚Ich habe keine Luft mehr!‘
‚Ich bin ein Idiot!‘
‚Ich bin am Ende!‘
‚Du Trottel! Was für ein Wahnsinn ist in dich gefahren? Wie hast du dich in diese verrückte Geschwindigkeit mitreißen lassen? Ich kann nicht mehr. Ich hab ausgespielt. Der Schmerz an der Seite zerschneidet mir den Bauch. Mein Atem ist zu kurz. Ich habe keine Luft.‘ Ich atmete schon im Rhythmus von zwei, drei, eins, nichts ging mehr, mein Mund war trocken, ein bitterer und widerlicher Geschmack kam mir vom Magen hoch.
Die Distanz zwischen mir und den Ersten vergrößerte sich wieder. Ich will an Ort und Stelle aufgeben. Mir ist schwindlig, und meine Beine bewegen sich gar nicht.
‚Du gibst nicht auf!‘ Ich bin fix und fertig. ‚Du gibst nicht auf!‘ Ich bin fix und fertig. „Du gibs…‘ Und plötzlich kam es mir in den Sinn. ‚Ich habe einen Rhythmus, ich werds ihnen zeigen. Ich kann das. Ich mache ihnen nicht diesen Gefallen. Ich gebe nicht auf‘, und auch: ‚Ich werde nicht der Letzte sein.‘
‚Gebe nicht auf‘, atme – eins, zwei drei. ‚Gebe nicht auf‘, eins zwei drei. Dreiertakt, Schritt für Wort. Das schmerzt, ich kriege fast keine Luft. Ich kehre zum Rhythmus zurück, nicht Zweierrhythmus, sondern Dreierrhythmus: ‚Gebe nicht auf‘, ich zähle einen Schritt für jedes Wort. Falle fast, aber: ‚Gebe nicht auf.‘ Weniger als hundert Meter bis zum Ziel. Schwere Schritte auf der Bahn. Jemand nähert sich von hinten. Ich spüre seinen schweren Atem. Er ist schwer. Er kommt fast nicht voran. Auch er ist am Ende. Aber siehe da, er ist neben mir. Ich kenne ihn. Ein Hemd von „Tichon Chadasch“. Das war der letzte, den ich überholt hatte. Er überholte mich. Eine Schwäche überfiel meine Muskeln, in der einen Sekunde machte er noch Anstrengungen, mich zu überholen, in der nächsten lief ich schon wie rückwärts. Er überholte mich mühelos. Alles ist zu Ende. Jetzt bestimmt noch einer, und dann noch einer….
‚Gebe nicht auf.‘ Ich versuche zu zählen und schaffe nur zwei Atemzüge. ‚Gebe nicht…‘ Nicht einmal zwei, mit kreischendem Pfiff atmete ich aus, und schon versuchte ich wieder zu atmen.
Noch sechzig Meter. Rechterhand die Publikumstribüne. Lärm. Anfeuerungen. Die Ersten sind sicher schon da, ich bin in der Mitte. Fünf vor mir und sechs hinter mir. Der Schmerz zieht vom Bauch in die Beine. Ich laufe wie eine Ente. Aber ich atme auch nicht mehr. ‚Gebe nicht auf‘, versuche ich mir vorzumachen. ‚Gebe nicht auf‘, versuche ich es wieder, bluffend. ‚Gebe nicht auf‘, auch wenn ich bluffe, ich versuche es wenigstens. Noch ein Meter weiter, jemand ruft aus der Tribüne: „Vorwärts, Gimnassia Herzliya!“
‚Die kann mich am Arsch lecken, die Gimnassia Herzliya‘, wer denkt schon an die Gimnassia. ‚Gebe nicht auf’….
Und wieder eine einzelne Stimme, eine dünne Mädchenstimme: „He, Gimnassia, lass ihn nicht an dir vorbei!“
‚Soll sie flöten gehen, die Gimnassia!‘ Ich mache weiter. ‚Lass ihn nicht vorbei.‘ ‚Soll sie flöten gehen, die Gimnassia.‘ ‚Gebe nicht auf.‘ ‚Lass ihn nicht.. Gebe nicht auf… flöten gehn.. flöten gehn …gebe nicht auf…‘ Noch dreißig Meter, weniger, ‚gebe nicht…‘ und da kommt er, der Schweinehund, der mich gestoßen hat, er ist schon auf einer Linie mit mir, „Lass ihn nicht an dir vorbei!“ schreit wie wild die ‚einzelne Stimme‘, ‚diesen Schweinehund – niemals!‘ Und ich ziehe an meinem schmerzenden Bein, und ich stoße mit aller Kraft das andere, und die Beine erheben sich, und ich verliere den Atem, und jetzt; nur eins – das Ziel. Und ich sehe sie dort stehen, die Schiedsrichter. Die Linie. Und alles nähert sich. Und er ist neben mir. Und ich denke nicht. Und kein Atem. Und kein Zählen. Und kein Schmerz. Und keine Kraft, und plötzlich ist da schon fast die Linie, Zentimeter nur noch und – ich springe!
Ich bin rüber, ein paar Zentimeter vor ihm, ich weiß nicht wie. Aber Chemi und Ewen-Sahaw waren sofort neben mir, sie hielten mich, dass ich nicht falle. Chemi wollte mich vor Freude umarmen, und Ewen-Sahaw schüttete Wasser auf mir aus und schrie: „Geh. Halte nicht! Geh weiter! Sprich nicht – atme!“ Und währenddessen hielt er mich, während ich mich beugte und wieder streckte. „Einatmen, ausatmen. Einatmen. Ausatmen“, immer Befehle…
Ich konnte gar nicht denken. Ich machte, was er befahl. Ich röchelte wie ein Verrückter, der Schmerz kam wieder und der bittere Geschmack im Mund, es war schrecklich.
Die beiden begleiteten mich während meines schlappen Ganges. Ich war wie ein entleertes Gerät, und Ewen-Sahaw sagte über mir hinweg zu Chemi: „Siehst Du? Ich wusste, dass der das Zeug dazu hat. Er ist erst in der Fünften und siehst so klein und mager aus, aber da drin, da hat er was Anderes.“ Und Chemi freute sich, dass ich es für die Gimnassia geschafft hatte und dass die Gimnassia nicht disqualifiziert wurde, und dass der sechste Platz der Gimnassia sogar einen Punkt bringen würde. Und da antwortete ihm Ewen-Sahaw: „Vergiss die Gimnassia! Ich bin ein Lehrer, schau dir diesen Burschen an, er hat es geschafft – das ist, was zählt!“ Und plötzlich wandte er sich an mich, vielleicht in der Hoffnung, dass ich es wahrnähme, und sagte im selben väterlichen Ton, mit dem er es geschafft hatte mich zu überzeugen zu laufen:
„Verstehst du jetzt? Du hast das Zeug. Das ist in dir drin, im Herzen – ich wusste das. Jeder hat seinen Beruf, seinen Leisten. Chemi läuft ausgezeichnet hundert Meter, du – tausend. So ist das im Leben, jeder hat seinen Leisten. Du wirst mal was erreichen, denn du wirst immer ein Langstreckenläufer sein.“
Sehr schoene Geschichte – vor allem der Wechsel der Zeiten und „stream of consciousness“ ist sehr gelungen! Ein Kommentar noch zu Migdal Shalom: es war seinerzeit das hoechste Gebaeude des Nahen Osten (heute steht es im Schatten zahlreicher Hochhaeuser)…