Von Benjamin Rosendahl
Die finnische Essenskurierdienst-Firma ist zum Gesicht der israelischen Corona-Krise geworden. Sie bringt etwas Normalität in den israelischen Alltag, hat aber auch dunkle Seiten.
Die große Freiheit
April 2020. Wir schreiben den ersten Lockdown in Israel (und weltweit): In der Großstadt hört man weder Flugzeuge fliegen noch Autos fahren. Der Himmel ist unbetrübt blau, die Luft frisch. Vögel zwitschern. Die einzigen Leute, die man auf der Straße sieht, tragen den Müll heraus oder gehen mit Hund Gassi (es gibt eine 100-Meter-Einschränkung). Autos fahren so gut wie gar nicht, Busse auch nicht.
Diese Idylle wird nur von Fahrradkurieren mit großen Warmhaltetruhen im Gepäcktrager unterbrochen, die wie verrückt durch die Stadt radeln. Sowohl die Warmhaltetruhen als auch die Uniform der Kuriere sind blau, mit dem weißen Logo der Kurierdienstfirma. Wolt ist in Israel angekommen.
Wolt – Teil des israelischen Wortschatzes
Seitdem ist die 2014 in Helsinki (Finland) gegründete Firma Teil des israelischen Corona-Wortschatzes, genauso wie Chalat (unbezahlter Urlaub), Zoom und der R-Faktor. Bestellt wird per Handy-App, geliefert per Fahrrad.
Für Restaurants und Cafés – vor allem für die, die bis dato nicht auf Lieferung eingestellt waren – ist seit Corona Wolt die fast einzige Möglichkeit zu überleben – Sitzplätze gibt es mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung seit mehr als einem halben Jahr nicht, Take-Away (auf Neu-Deutsch: ToGo) bis vor kurzem auch nicht. Und so ist man auf Lieferdienste angewiesen. Oder in einem Wort: Wolt.
Die dunklen Seiten der lächelnden Kuriere
Im Grunde genommen klingt es nach einer gelungen Zweckehe: Restaurants können ihr Essen verkaufen und überleben, der Kurierdienst erhält eine Kommission und gibt den fast eine Million Arbeitslosen (ca. 20%) eine Möglichkeit, etwas zu verdienen. Win-Win also? Mitnichten.
Die Gründe sind vielfältig: Zum Einen beläuft sich die Provision von Wolt auf 30%. Mit so einer Summe kann kaum ein Restaurant oder Café überleben – es ist ein Verlustgeschäft. Und wenn die Restaurants die sowieso hohen Preise erhöhen, um doch einigermaßen über die Runden zu kommen, so wird die Kundschaft kleiner: die Arbeitslosigkeit im Land ist groß, und auch diejenigen, die Arbeit haben, müssen oft mit erheblichen Einnahmeverlusten auskommen. Dann kocht man lieber zuhause als sich Essen zu bestellen.
Aber nicht nur das Geschäftsmodell ist problematisch. In letzter Zeit häufen sich die Berichte von Demonstranten gegen Netanjahu, die von Wolt-Kurieren verbal oder physisch attackiert wurden; einige wurden auch bespukt. Warum nehmen sich Wolt-Kuriere diese Freiheit, während man so gut wie nie ähnliche Geschichten von der in Israel gegründeten Konkurrenzfirma Tenbis hört?, fragte die Journalistin Leah Lev in der Fernsehsendung „me haZad HaSheni“ (andererseits) von Guy Zohar. Die Antwort, argumentierte Leah Lev, liege im Anstellungsmodell von Wolt: Bei Tenbis sind die Kuriere Angestellte der Firma, die auch das Recht haben, eine Gewerkschaft zu gründen. Nicht so bei Wolt, wo jeder der ca. 1500 Kuriere als Selbständiger angestellt wird, ohne Arbeitnehmerrechte. Wenn man nicht Teil der Firma ist, dann kümmert man sich auch nicht um das Firmen-Image.
WeWork – Out. Wolt – In.
Seit November hat Wolt Israel eine neue Geschäftsführerin: Lior Eschkol heisst die gerademal 34-Jährige, auf deren Lebenslauf ein MBA-Titel der renommierten Harvard-Universität und Arbeitserfahrung bei Proctor und Gamble. Symbolisch für den größeren wirtschaftlichen Trend, den die Corona-Krise mit sich brachte, ist aber ihr letzter Arbeitsplatz: bis vor kurzem arbeitete Eschkol im Hauptquartier von WeWork in New York.
WeWork ist bekanntlich eine Firma, die sich auf Co-Working-Spaces spezialisierte. Bereits vor Corona war die Firma in der Krise, die sich auch in der Trennung vom Gründer und bis dato Geschäftsführer Adam Neumann zeigte. Die Corona-Krise mit der Maxime des Social Distancing, wo immer mehr Firmen ihre physischen Büros aufgeben, und ihre Mitarbeiter von zuhause arbeiten lassen, wird sich nach Meinung vieler Wirtschaftsexperten wohl als Coup de Grâce für Firmen wie WeWork erweisen.
Das Vakuum werden Firmen wie Wolt sein, die sich auf die neue Realität einstellen. Leute wie Lior Eschkol haben bereits das sinkende Schiff verlassen. Ihr werden viele folgen. Aber keiner kann garantieren, dass die neuen Schiffe nicht auch sinken.
Bis dahin heisst es: WeWork-Out. Wolt-In.
Falls es nicht klar ist: Tenbis ist die israelische (also in Israel entstandene und dort aktive) Konkurrenz von Wolt.
Hier das Video von Leah Lev: https://www.facebook.com/100Tzad/videos/421627032162473/
Super Artikel!
Wer Hebraeisch liest – auf Yedioth ist heute ein Interview mit Lior Eschkol (der neuen Geschaeftsfuehrerin von Wolt Israel, siehe Artikel):
https://m.ynet.co.il/articles/5870388