Israel, Terror, Shoa, Jerusalem, Haifa,

Chic Paris

Im Zentrum dieses Romans steht Daniela, die in Haifa geboren und aufgewachsen ist und deren Eltern die Shoa überlebt haben. Miranda ist ihre Mutter, und im folgenden Auszug aus dem Buch treffen wir Miranda mit ihrer Freundin Margit. Daniela lebt schon seit Jahrzehnten in Jerusalem, das in den neunziger Jahren unter Terroranschlägen leidet. Ihr Mann heißt Ariel.

„Als Künstlerin, Dozentin über Kunstgeschichte, Schriftstellerin und Mutter von Töchtern, lernte ich, wie Phoenix, der sich aus der Asche seiner selbst wiederbelebt, mir ein neues Leben zu geben, aus den schrecklichen Erinnerungen und den existenziellen Ängsten, um eine Welt von künstlerischer Gestaltung und Lebenslust zu schaffen.“

Zwei Ausschnitte aus "Chic Paris" von Ayana Friedman, über Daniela in Jerusalem, mit den Terroranschlägen der Neunziger Jahre, und in Haifa, wo sie aufgewachsen ist, mit Eltern, die den Holocaust überlebt haben.

Chic Paris

von Ayana Friedman

Übersetzung: Uri Shani

Jerusalem blutet

Vom Balkon von Danielas und Ariels Haus sah man auf die Straße, die zum Krankenhaus „Hadassa“ in Ein Karem führte. Als wieder Sirenengeheul von Krankenwagen von draußen eindrangen, war klar, dass sich ein Terroranschlag ereignet hatte und Verletzte ins Krankenhaus gebracht wurden. Ariel riss den Schlüsselbund vom Schlüsselbrett neben der Tür und eilte zum Auto, hinter sich die dampfende Kaffeetasse mit dem heißen Kaffee lassend, von dem er noch nicht getrunken hatte.

Daniela, mit reicher Erfahrung in ähnlichen Situationen, bot ihm nichts an, auch nicht ihren Abschiedsgruß, an den sie sich gewöhnt hatten. Sie stellte das Radio lauter, das immer auf den Militärsender eingestellt war, und hörte sich den Bericht der aufgeregten Reporter an. Einer der Reporter war am Ort des Anschlags, sein Kollege am Eingang des Krankenhauses. Der Reporter am Ort des Anschlags beschrieb die Verletzten in allen Einzelheiten, die verstreuten blutverschmierten Gegenstände und das neugierige Publikum, das von der Polizei zurückgedrängt wurde, um den Rettungshelfern Platz zu machen.

Die verschiedenen Radio- und Fernsehsender brachen ihre Programme ab und überschwemmten die Augen und Ohren der Zuhörer und Zuschauer mit den Schreien der Verletzten und der Sirenen, dem Weinen und den Zeugenaussagen von solchen, die daneben gestanden waren oder solchen, die den Anschlag überlebt hatten, da sie glücklicherweise durch etwas aufgehalten wurden und den Bus nicht bestiegen hatten.

Im Fernsehen waren schwer zu bewältigende Bilder zu sehen. Mütter, die am Eingang der Intensivstation auf Auskunft warteten, wie es ihrem Kind gehe; Männer, die versuchten herauszufinden, was mit ihren Frauen geschehen war, die im Markt zum Einkaufen waren; verängstigte Bürger, Leute, die an kleinen Radios hingen. 

Die Telefonleitungen stürzten ab, weil so viele zugleich versuchten herauszufinden, wo ihre Nächsten waren, die in dieser Zeit im Zentrum der Stadt gewesen waren. Daniela stand unter Druck, denn sie wusste, dass ihre Familie in Haifa eine beruhigende Meldung erwartete, dass alle in Ordnung seien, so wie sie es nach jedem Terroranschlag tat. Die Töchter waren in der Schule, Ariel im Krankenhaus, und Daniela stand in der Küche und kochte, was sie sehr beruhigend fand. Wie bei vielen anderen Kindern von Shoa-Überlebenden waren die Küchenschränke voll von Nahrungsmitteln, Trockenes, das lange hält, Wasserflaschen und andere Getränke und mehrere Tafeln Schokolade. Diese Haufen von Lebensmitteln in das „abgedichtete Zimmer“ gewandert, als der Golfkrieg ausbrach.

Seit mehreren Monaten schon chauffierte Daniela ihre Töchter in die Schule und zurück, zum Tanzkurs, zum Erste-Hilfe-Kurs, und zu Freunden, wegen der Angst vor Terroranschlägen. Ariel sagte immer, wenn er aus dem Haus ging: „Fahr nicht neben Autobussen her, fahr nicht ins Stadtzentrum“, und Daniela versprach ihm, dass sie vorsichtig sein werde.

Die Vorwarnungen kamen von verschiedenen Seiten: Von Freunden, die im Nachrichtendienst dienten, vom Informationszentrum des Magen David Adom [dem israelischen pendant des Roten Kreuzes, U.S.], wo ihre jüngste Tochter Ofrit arbeitete, und von den Händlern im Stadtviertel, die manchmal etwas wussten, weil arabische Angestellte nicht zur Arbeit erschienen, oder mitten am Tag plötzlich verschwanden, da sie offenbar etwas wussten und sich vor Racheakten fürchteten.

Ariel, Spezialist für Gefäßchirurgie, wandte sich an einen Patienten, dessen Gesicht blutverschmiert und aufgebläht war, seine Arme und Beine bluteten, und er murmelte unverständliche Worte. Eine der Krankenschwestern flüsterte Ariel zu, dass dies der Terrorist sei, der sich im Markt in die Luft gesprengt habe.

Das Bewusstsein des Verletzten war getrübt, sein Bauch zerfetzt, seine Augen aufgequollen und verschlossen, und er versuchte, seine Finger zu bewegen. Die wenigen Sekunden, während derer er den Patienten betrachtete, schienen Ariel unerträglich, besonders nachdem er von dem Mädchen mit den Locken kam, das beim Attentat ein Bein verloren hatte, und die Ärzte kämpften um ihr Leben. Ein Soldat stand neben dem Terroristen, hielt sein Gewehr fest an seine Brust gedrückt, und von einem seiner Arme tropfte Blut. Ariel ließ einen zusätzlichen Arzt rufen und forderte ihn auf, den Soldaten zu behandeln, der darauf bestand, dass er auf den Terroristen aufpassen müsse. Ariel beruhigte ihn und sagte, dass der Terrorist in seinem Zustand sich nicht aufrichten und keine seiner Glieder bewegen könne.

Die Operationssäle waren schon mit anderen Patienten belegt, und Ariel wartete, dass man ihm einen Operationssaal geben würde. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Terroristen behandeln musste, und trotz verschiedener Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, während das Morphium in den Arm des Terroristen tröpfelte, begann er schnell mit der Vorbereitung der Operation.

Das Klischee „Hass macht blind“ schien in diesem Fall zuzutreffen. Ariel hatte noch nie verstanden, wie ein Mensch so abgründig tief Menschen und Kinder hassen konnte, die er noch nie getroffen hatte, dass er fähig war, sie umzubringen. In seinen Ohren widerhallten die Worte eines Dozenten aus seiner Studienzeit: „Hier ist der Operationssaal, wo wir den Patienten behandeln müssen, und dort ist der Gerichtssaal, der ihn behandeln wird, nachdem wir ihn wieder auf die Beine gestellt haben.“

Jedes solches Ereignis, in dem unschuldige Kinder, Frauen und Männer getötet wurden, erweckten in Daniela die Existenzängste, mit denen sie im Haus von Shoa-Überlebenden aufgewachsen war. Ihre Existenz, so verstanden die Kinder, war nicht gesichert, in dieser Welt, in der die Werte fließend waren und das Leben in den Augen der Terroristen keinen Wert hatte. Und so erinnerte sie sich jetzt wieder an Margits Geschichte, der Freundin der Familie.  

Der Durst nach einem innigen Gespräch in ihrer Muttersprache führte Miranda, Danielas Mutter, manchmal zu ihrer Nachbarin Margit vom Wohnhaus, dessen Garten neben dem von Miranda und Benesch lag, in der Wohnung im Erdgeschoss, dessen Fenster auf Mirandas Haus gerichtet waren. Es war eine kleine Zweizimmerwohnung, die tiefer als die Wiese lag, und es war ein Wunder, dass das Regenwasser sie nicht überschwemmte.

Margitka, wie sie Miranda nannte, wurde mit den Jahren zu ihrer nächsten Freundin, der sie ihre Geheimnisse erzählte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft, obschon sie so verschieden waren. Die Gelegenheit, in ihrer Muttersprache, ungarisch, zu sprechen, und die gemeinsame Erfahrung als Shoa-Überlebende, schuf ein enges Band zwischen den beiden.

Margit überlebte Auschwitz und eine der Todesmärsche und schaffte es, nach dem Krieg nach Palästina einzuwandern. Sie erzählte nie Einzelheiten über den Krieg, außer der Geschichte über die Häftlingskleider: Als Margit nach Auschwitz verschleppt wurde, und nachdem die Frauen aus dem Viehwaggon getrieben wurden, wurden sie in Reih und Glied aufgestellt, und die Kapo-Frauen schmissen ihnen Häftlingskleider hin. Sie gaben einer kleinen Frau große Kleider und einer großen Frau zu kleine Kleider, und lachten laut. Eine nannte das grausame Spiel: „Chic Paris!“ Eine der Frauen dachte, dass sie jetzt nach Paris geschickt würden (das „chic“ hörte sich wie schicken an), und das erheiterte die Kapo-Frauen noch mehr.  

Zwischen Miranda und Margit gab es ein stilles Abkommen, dass über die schreckliche Vergangenheit nicht gesprochen werde. Manchmal strich Margits Hand achtlos über die tätowierte Zahl an ihrem Unterarm, in einer rhythmischen Bewegung, der sie sich nicht bewusst war.

Margit hatte keine Kinder oder sonstige Verwandte. Sie hörte sich Mirandas Klagen über die Mühen des Lebens an, über Awners Streiche, über Benesch, der seine eigenen Verwandten bevorzugte und sie finanziell unterstützte, und über die Tyrannei ihrer Schwiegermutter, die tagtäglichen Probleme des Lebens eben.

Am Ende ihres Lebens, nach dem Tod ihres Mannes und nachdem sie keine Kraft mehr hatte, ohne Hilfe den Haushalt zu führen, zog Margit in ein Altersheim, und außer den Schabatleuchtern und ein paar Dingen aus ihrer Wohnung nahm sie nur ihre Kleider mit.  Miranda besuchte sie im Altersheim, wo Margit hell im Kopf blieb, bis zum letzten Atemszug, und nur ihr Körper verwelkte unter dem Druck der Jahre und der Erinnerungen.

Im Altersheim wurden die Kleider der Bewohner in der gemeinsamen Waschküche gewaschen und manchmal willkürlich wieder ausgehändigt. Und einmal, als sie wieder ein zu großes Hemd für ihren schmächtigen Körper erhielt, oder zu kurze Hosen, lächelte sie bitter und sagte Miranda, die gerade zu Besuch kam: „Chic Paris“.

Miranda lächelte, umarmte sie und fühlte, wie ihre Seele zerknüllte und zerknitterte und ihr Atem erstickte.   

Sie sah Margit nicht mehr. Sie starb im Altersheim. Ein entfernter Neffe sorgte sich um die Beerdigung, aber er kannte ihre Bekannten nicht und lud niemanden zur „Schiw’a“ ein.

Zwei Ausschnitte aus "Chic Paris" von Ayana Friedman, über Daniela in Jerusalem, mit den Terroranschlägen der Neunziger Jahre, und in Haifa, wo sie aufgewachsen ist, mit Eltern, die den Holocaust überlebt haben.

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

0 0 Abstimmung
Article Rating
Abonnieren
Informieren Sie mich
guest
2 Comments
Älteste
Letzte Am meisten gewählt
Meinung innerhalb des Texte
Alle Kommentare ansehen
The Dude
The Dude
4 Jahre

Zu den Terroranschlägen in Jerusalem kann ich mich an folgenden Dialog erinnern:
Mutter 1: „der Anschlag war neben der Schule deines Sohnes. Hoffentlich war er nicht in der Nähe…“
Mutter 2: „Nein, er war auf Klassenfahrt nach Polen. Er war sicher- in Auschwitz…“

Vorherigen Artikel

Eine traurige Bestandsaufnahme

Nächsten Artikel

Spätsommernachtstraum

Spätestens abBlog

Ende und Anfang

Seew, ein Mossadagent auf dem Höhepunkt seiner Karriere und in der Mitte seines Lebens, erkrankt plötzlich

2
0
Was denken Sie? Wir würden gerne Ihre Meinung erfahren!x