Maayan Ben Arie, in Tel-Aviv in einer aus Persien eingewanderten Familie geboren, lebt seit 25 Jahren in einem kleinen Dorf in Galiläa. Sie ist holistische Chiropraktikerin und leitet Kurse zum Thema „heilende Geschichten“. „Ein riesiges Zimmer öffnet sich – heilende Geschichten“ ist ihr erstes Buch. Es enthält 38 Kurzgeschichten, begleitet von schönen Zeichnungen, die Netta Zino. Die Geschichten beschreiben den persönlichen Lebensweg der Verfasserin, auf dem sie verschiedenen Situationen und Personen begegnet ist.
„Der Fuchs“ wurde in einer Zeit der Krise geschrieben, er ist eine der persönlichsten und enthüllendsten Geschichten im Buch.
Der Fuchs
von Maayan Ben Arie
Übersetzung: Uri Shani
Frühmorgens liebe ich es, alleine zu sein. Mit mir, in Stille, bevor ich in die Welt hinaustrete. An jenem Tag war dieses Bedürfnis besonders stark. Das Haus, das ich während zwanzig Jahren gebaut hatte, zerfiel in den letzten Monaten vor meinen Augen, und in jener Woche sah ich es so richtig, wie ein Kartenhaus, in sich zusammenfallen. Ich wusste nicht mehr, wie ich es retten sollte, ich wusste nicht einmal, ob ich es wollte. Tief unter den Trümmern hörte ich manchmal eine Stimme, die mir deutlich zurief: „Nein, nicht retten. Du willst es nicht mehr.“
Ich hörte die Stimme, aber wollte ihr nicht folgen, wühlte wieder und wieder in den Trümmern, suchte etwas, das ich längst verloren hatte.
Über mir kreisten die Fragen, hackten im Sturzflug auf dem herum, was vielleicht im Sterben lag. War diese Partnerschaft noch zu retten? Wie werde ich alleine über die Runden kommen? Was wird mit meinen Kindern? Wie wird die Auflösung des ihnen vertrauten Hauses auf sie einwirken? Wie sollte ich ihnen erzählen, dass alles vorbei ist? Die wissen ja gar nichts. Wir hatten sie in den letzten Monaten so gewissenhaft davor beschützt, hatten diesen Prozess zwischen uns fern von ihnen gehalten. So viele Schreie, die ich schreien wollte und nicht schrie, so viele Leviten, die ich ihm lesen wollte und nicht las. Jenseits von Übermorgen sah ich nur einen Haufen schwarzer Wolken. Die Trennung schien unausweichlich. Das Seil musste offenbar gekappt werden. Aber ich wusste nicht, dass die Operation so schmerzhaft sein würde, und, oh Gott, so beängstigend.
Schabat. Frühe Morgenstunde, alles still um mich herum. Die Sonne ging auf, und ich schritt schon eine Stunde, versuchte nicht zu denken, nur schreiten, nur atmen, nur das Blut in den Adern pochen hören. Genug mit den Gedanken. Genug mit der Angst. Genug.
Ein leichter Wind, Vogelgezwitscher, von weitem eine muhende Kuh, ich schritt auf der alten Straße, die zum Dorf führte. Ein Vogelschwarm kreiste über mir, und ich war zu Tränen müde. Ich wollte schon nach Hause, zum einzigen sicheren Ort. Nur niemanden treffen. Die Kinder würden erst in ein paar Stunden erwachen. Ich hatte genug Zeit, um die Zeichen der Schlacht abzuwischen, mich zu duschen, mir einen Kaffee zu machen und mich zum Schreiben hinzusetzen. Das Schreiben ist ja ein Zuhause. Dadurch hatte ich mir ja schon so viele Male den Weg hinausgebuddelt, aus den dunkeln Höhlen meiner Seele, vielleicht wird es auch diesmal klappen.
Und da sah ich sie, von weitem, ein Paar mit einem Hund, ein Morgenspaziergang, und sie näherten sich mir gemächlich. Ich erkannte sie, es waren Nachbarn. Oh nein! Ich wollte sie jetzt nicht treffen. Ich wollte niemanden treffen, aber ganz besonders nicht sie. Das schönste Paar, das ich kannte. Zwanzig Jahre waren sie zusammen, und noch immer, wenn ich an ihrem Haus vorbeiging, erzählte mir ihr Lachen, das vom Fenster hinunterkugelte, dass er sie wieder erheitert hatte. Abends sah ich sie Hand in Hand spazieren.
Jetzt war die Straße schmal, und sie kamen mir entgegen. Ich senkte meinen Blick und wolle an ihnen vorübergehen, aber als ich den Blick hob, stand mein Nachbar vor mir, lächelte mich mit seinem schönen, ruhigen Lächeln an. „Hey“, sagte er, alle Signale, die ich schickte, merkwürdigerweise ignorierend. „Wenn du jetzt zurückgehst, siehst du einen Ast am Zaun lehnen, und daneben einen Fuchs, der sich im Zaun verfangen hat. Wenn du nach Hause kommst, wäre es gut, wenn du jemanden rufen könntest, der eine Drahtschere bringen und ihn befreien könnte. Dann hat er eine Chance zu überleben.“
Ich antwortete nicht, ging weiter, dann drehte ich den Kopf und sagte leise: „Ich glaube nicht, dass ich das tun werde.“ Ich hatte keine Lust, mich zu erklären, außerdem war das sein Fuchs, er hatte ihn als Erster getroffen.
„Na gut“, sagte er. „Ich machs, wenn ich zurückkomme.“
Ich kannte ihn. Ich wusste, dass er in ein paar Minuten seine allmorgendliche Runde beenden, zum Fuchs zurückkehren und ihn befreien würde, er würde ihn nicht dahindarben lassen.
Ich wollte nach Hause. Ich hatte keine Lust, mich mit Füchsen oder Nachbarn zu beschäftigen.
„Geh weiter“, befahl ich mir. „Schau nicht nach links, nur geradeaus, die ganze Zeit geradeaus. Du kannst jetzt nicht anhalten, du musst nach Hause, du musst dich selber retten.“
Ich war schon nah bei der Schranke. Bald würde ich zu Hause sein. Ich konnte ein bisschen nachlassen.
Ich drehte meinen Kopf ein wenig, und da, direkt vor mir, lehnte ein großer Ast am Zaun, und darunter blickte mich das winzige Gesicht eines Fuchswelpen an, der seinen kleinen Kopf neugierig ins Zaunloch gesteckt hatte und jetzt feststeckte.
Ich stand wie angewurzelt da, blickte in seine verängstigten Augen, und konnte nicht weiter. „Hey, du bist ein Welpe. Warum hat er mir nicht gesagt, dass du ein Welpe bist?“
Mein Blick liebkoste das süße Gesicht des Welpen, und mit großer Klarheit wusste ich, dass ich nicht von hier weggehen würde, bevor ich ihn befreit hätte. Ich ging zu ihm, kniete mich hin, bot ihm meine Hand und streichelte sanft den kleinen Kopf, der im Zaunloch stak. Die Worte flossen aus mir heraus, wie Tränen, die alles wegwaschen, und ich spülte sie auf den kleinen Welpen: „He, du Süßer, ich bin ja da mit dir, ich werde dich retten, du bist nicht allein, ich bin mit dir.“
Der kleine Welpe erstarrte vor Schreck. Er blickte mich an, angespannt.
„Ich gehe nicht fort, mein Kleines“, sagte ich wieder und versprach ihm: „Ich werde dich befreien, auch wenn ich den Zaun mit meinen bloßen Händen aufschneiden muss.“
Ich hörte ein Motorengeräusch, ein Auto kam aus dem benachbarten Beduinendorf. Ich sprang auf die Straße, stellte mich vor das Auto und wedelte mit den Armen. Hier kommt keiner an mir vorbei, ohne anzuhalten!
„Nein“, sagte der Fahrer. „Walla, tut mir leid, ich habe keine Drahtschere.“
Ich ging zum Welpen zurück. „Keine Bange, Süßer, bald befreie ich dich.“
Und wieder sprang ich auf die Straße, hielt noch ein Auto und noch eines an. Die Fahrer aus dem Beduinendorf erschraken ob meiner wilden Sprünge. Aber einer nach dem andern schworen sie, walla, sie hätten wirklich keine Drahtschere im Auto.
Und da kam noch ein Auto. Nachbarn. Sie beeilten sich. Und wenn schon! Auch sie mussten anhalten! „Ja, ich habe eine Drahtschere“, sagte mein Nachbar. „Aber das ist gefährlich, der Fuchs kann dich beißen.“
„Keine Sorge“, sagte ich ihm und riss ihm das Gerät aus den Händen. „es wird schon alles gut.“
Ich kniete mich hin und blickte dem Welpen in die Augen. „He, Süßer“, flüsterte ich. „Steh still, noch einen Moment, und du bist frei.“
Mit zwei entschlossenen Bewegungen durchschnitt ich den Zaun. Der kleine Welpe schaute mich ungläubig an, schüttelte seinen befreiten Hals, dann wandte er sich und verschwand mit drei leichten Sprüngen im Gebüsch, er und sein haariger Schwanz.
Ich ging nach Hause zurück. Mein Gang war leicht, das Blut wogte in den Adern, der Himmel über mir war blau und hell.
Zu Hause erwartete mich die Dusche und das Heft, aber es gab etwas, das ich zuvor überprüfen musste.
Ich glaube schon immer daran, dass die Welt um mich herum, die Tiere, die Pflanzen, sogar leblose Dinge, mir eine Nachricht vermitteln, mit mir in einer Sprache sprechen, die nur die Seele versteht. Ich öffnete das Buch der indianischen Karten, „Karten der Kraft“, und las darin, dass der Fuchs die Familie bewahre. Seine Aufgabe sei es, die Einheit der Familie und die Sicherheit der Familienmitglieder zu beschützen. Ich war berührt. Diese Worte enthielten eine tiefe Bedeutung für mich, sie erinnerten die „Füchsin“ in mir, dass – egal was geschieht – sie alles in ihrer Macht tun werde, um ihre Kinder und die Einheit der Familie zu beschützen, auch wenn diese Familie ihre Form tausendmal änderte.
Jetzt war mir klar, warum dieser Fuchs mir über den Weg gelaufen war. Jetzt wusste ich auch klar, was meine nächsten Schritte sein würden. Aber davor wollte ich noch eine Kleinigkeit erledigen…
„Danke“, schrieb ich meinem Nachbarn und klebte die Nachricht an seine Tür, „danke, dass du mir meinen Fuchs gelassen hast.“
Sehr schoene Geschichte! In der Zwischenzeit sind die Menschen zuhause, und die Tiere haben die Natur zurueckerobert – was das wohl symbolisiert?