Liebe, Roman, Jerusalem, Ssmadar Herzfeld, Inta Omri, Intifada

Inta Omri

„Inta Omri“ ist in erster Linie eine Geschichte über eine stürmische, verzweifelte, gewalttätige,  hingebungsvolle und schmerzend erotische Liebe, auf dem Hintergrund des Jerusalems der ersten Intifada, die sich im Dezember 1987 entzündete. Die beiden Liebenden sind ein Palästinenser und eine Jüdin. Der politische Hintergrund droht, ihre Liebe zu ersticken, sie zu einem Gleichnis oder einer Allegorie zu machen, aber die beiden Liebenden unterwerfen sich nicht den Erwartungen der Leser, weder denen von links oder jenen von rechts, und streben danach, jedes Hindernis auf dem Weg zur Verwirklichung ihres Bundes zu überwinden. Sie ziehen auf eine lange Reise im verwundeten Israel/Palästina aus, suchen die Ursprünge des Hasses, der das Land zerreißt, und suchen den geheimen Ort, die Zuflucht, den Schutzraum, wo ihre Liebe blühen oder wenigstens Ruhe finden könne.

„Als mein Buch 1994 herauskam, erlebte ich etwas, was ich keinem Schriftsteller wünsche. Fast ein Lynchmord. Die interessierten sich nicht für die Literatur, sondern nur für die Politik, sowohl von links wie von rechts. Ich erlebte, wie extremistisch „kultivierte“ Leute sein können, wenn etwas nicht mit ihrer „Agenda“ übereinstimmt. Man hat mich der Pornographie und des Rassismus beschuldigt, man wollte das Buch öffentlich verbrennen und vernichten. Jemand kam zu mir nach Hause und sagte mir, er werde mir das Gesicht mit Säure verbrennen.“

Der Titel hat eine Doppelbedeutung. Wörtlich heißt er: Du bist mein Omar, aber gleichzeitig ist es der Titel des berühmtesten Liedes von Um Kulthoum, und vielleicht des berühmtesten arabischen Liedes aller Zeiten.

Das Wort „Misrach“ hat im Hebräischen die doppelte Bedeutung von „Osten“ (Windrichtung) und „Orient“. Es wurde hier als „Orient“ übersetzt.

Ssmadar Herzfeld (*1952) hat Judentum und Religionswissenschaften in Jerusalem studiert. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten, und ihr Verlag „Verlag 62“ beschäftigt sich mit dem Leben der jüdischen Frau.

"Als mein Buch 1994 herauskam, erlebte ich etwas, was ich keinem Schriftsteller wünsche. Fast ein Lynchmord." Ssmadar Herzfeld über ihr Buch "Inta Omri". Hier der Beginn davon.

 

Inta Omri

von Ssmadar Herzfeld

Übersetzung: Uri Shani

Die folgende Liebesgeschichte hat sich tatsächlich ereignet, genau wie sich auch die Intifada tatsächlich ereignet hat, in derselben Landschaft, mit denselben Helden, aber das ist nicht wichtig. Der Versuch, die Geschichte schriftlich festzuhalten, ist an und für sich auch nicht wichtig. Was mir wichtig erscheint, ist der Versuch, die tiefe Seele zu erwecken, die wie Grundwasser unter den feineren Unterschieden schlummert. Die Höflichkeitsformeln, die Traditionen, die Kleider, die Sprachen, all dies sind nur feine Unterschiede, so sehe ich das. Unter den Kleidern befindet sich immer der Geruch des Körpers, dieser Hauch, der aus den kleinen Zellen hochsteigt, aus den Taschen und Fugen, die wir immer mit uns tragen: aus den Ohrläppchen und den Achselhöhlen, den Kniehöhlen, den Knöcheln, vom dünnen Spalt zwischen den Hinternbacken und von der haarigen Region des Geschlechts. Meine Liebesgeschichte ereignet sich an diesen Stellen: In den weichen, versteckten und riechenden Rundungen der Welt. Und im Herzen des schrecklichen Getöses des Beginns der Intifada, im politischen, verlogenen und wie eine schöne Hexe bösen Jerusalem kosteten wir beide, plötzlich, diesen verhüllten Geruch. Und atmeten ihn mit langen Atemzügen. Wir sprachen nicht viel.

Danach wollten wir berühren. Wir wollten den Ursprung des Geruchs finden, woher er kommt. Wir streckten die Arme aus und suchten, streichelten und wühlten im anderen.

Auch heute ist er der meine, mein Araber, nah und intim wie eine Zigarette im Mund, und ich bin seine Jüdin. Aber wir treffen uns nicht mehr. Drei Sommer sind seither vergangen, und auch jetzt ist Sommer, aber damals begann der Sommer, und jetzt ist er vorbei. Die starken Farben verbleichen, gelb wird weiß, und hellblau wird grau. Am Nachmittag kommt ein kühler Wind und bemalt die Stadt mit porzellanenem Rosa. Die Intifada ist nicht niedergeschlagen, aber sie wird alt. Ich wohne in einer renovierten Wohnung, im vierten Stock eines alten Wohnhauses, ich habe einen weißen Schreibtisch und ein großes Fenster zur Altstadt. Von hier kann ich die Moscheen der umliegenden Dörfer sehen, die wie Kerzen zwischen kleinen flachdachigen Steinhäusern in den Himmel stechen. Ich sehe die kahlen Hügel, die die Dörfer voneinander trennen, und ich weiß, dass dort, auf den felsigen Terrassen Ziegen, Schafe, Esel und Hirtenkinder umherziehen. Und ich weiß, dass hinter all dem, weit hinter den Dörfern und den kahlen Hügeln, der Orient ist.  

Ich kann ihn nicht sehen, aber ich weiß, dass hier, an diesem Punkt, der Orient beginnt. Dass er sich von hier in große, fremde und fürchterliche Weiten entfernt. Ich wusste immer, dass von dort, von diesen Weiten, böse Menschen kommen werden. Die bösen Menschen werden mit Kefije bekleidet sein, sie werden in einer Reihe dem Orient entlang stehen, einer neben dem andern, und uns wütend anblicken. Um mich herum wird man schreien, sich verstecken, mit Booten entfliehen, aber ich werde nicht schreien, mich nicht verstecken und nicht fliehen. Ich werde zum Orient gehen, werde vor einem dieser bösen Menschen stehen und ihm gerade in die Augen sehen, werde einen Schritt nach rechts gehen und dem nächsten in die Augen sehen. Und so werde ich es mit einem nach dem andern machen, Schritt um Schritt, werde allen bösen Menschen in die Augen sehen. Ich wusste immer, dass sich irgendwo entlang dieser Menschenmauer mein Araber befindet, der eine, der es nicht zulassen wird, dass ich sterbe. Der nicht meinen Tod will, sondern mein Leben. Der sein Leben für meines geben wird. In dessen Augen ich das „Ja“ sehen werde, das „Ja“, das der Grund ist, warum Menschen einander vertrauen und alle möglichen Dummheiten für den andern machen, und sogar dafür sterben. 

Die Jahre vergingen, und mit ihnen viele Augen. Es gab Augen von Akademikern, scharfe und beschuldigende, und es gab die Augen von allen anderen – Kellner, Lastenträger, Bauarbeiter, Straßenwischer – immer zur Seite fliehend, nach unten gerichtet, erniedrigt. Jahrelang studierte ich an der Universität, verliebte mich in Männer und vergaß sie danach, ich schrieb ein Buch über Gott, ein Buch über Kinder, ich reiste nach Amerika und kam zurück, verbrannte das Buch über Gott, verbrannte das Buch über Kinder, grub in den Schränken und fand Hunderte von Seiten mit Gekritzel, Lektionen, Artikel, ich sammelte sie in Kübeln und warf sie in den Eimer. Und als es nichts mehr zu verbrennen oder wegzuwerfen gab, kam eine seltsame Ruhe über mich.

Mein Leben verlangsamte sich. Ich arbeitete in einem kleinen Buchladen. Ich hegte Pflanzen in Töpfen und Vögel in Käfigen. Ich hatte hellblaue Papageie, ein Paar rosa Kanarienvögel, und eine Paradiesvogelblume, die ich Engel nannte. Und an den langen Winterabenden begann ich zu zeichnen. Mit hautfeinen, fast haarlosen Pinseln zeichnete ich kleine, farbige, fantastische Zeichnungen des Paradieses und der Hölle. In beiden Welten fand ich eine erstaunliche Vielfalt von Engeln und Hexen. Die Engel erschienen als Störche, Schmetterlinge, weiße Schlangen, sprechenden Pferden verkleidet. Die Hexen kamen aus der Erde und der Nacht und waren rot oder schwarz. Meine Nächte brodelten wie vulkanische Ausbrüche. Morgens wachte ich glühend und schmerzend auf, mit feuchten Augen. Und die ganze Zeit sehnte ich mich.

Jetzt sitze ich am Tisch mit kurzen Hosen, in der grässlichen Hitze des ausgehenden Sommers, und sehne mich nach dem Winter. An jedem Tag, zur Dämmerung, wird es ein wenig kühler. An jedem Tag wird es ein wenig früher kühler, ein wenig mehr, als am vorigen Tag. Jeder Gedanke, jede Bewegung und jedes Wort, das ich schreibe, bringen mich dem näher, wonach ich mich sehne: dem Winter. Ich sehne mich nach dem Winter, so wie ich mich damals nach der Liebe sehnte, nach meiner Liebesgeschichte, mit derselben äußerlichen Ruhe, mit demselben süßen Gefühl von etwas ganz Geheimen, etwas überhaupt nicht Rationalem, mit demselben Klumpen im Bauch, wenn ich an ihn denke.

Ich spreche über Zeit: Über zwei seltsame Jahre, während derer ich wie ein Schmetterling in einem geschlossenen, von Engeln und Ungeheuern gefüllten Raum herumflatterte. Ich spreche über die Zeit, als wir uns noch nicht getroffen hatten: Über die Tage, an denen ich das Kaffeehaus von Herrn Elischa betrat und eine Hand sah, nur eine Hand, die mir einen Kaffee auf einer Untertasse vorsetzte. Ich spreche von Blindheit: Wie sah ich keinen Körper, kein Gesicht, keine Augen, nur etwas, von dem ich wusste, dass es „Araber“ hieß. Ich spreche von der blinden Zeit vor dem Ausbruch, über die Inkubationszeit der Liebesgeschichte. Und ich spreche über eine Sehnsucht, erzähle wie ich vor lauter Sehnsucht blind geworden war, bis zu jenem Moment, der jedem andern glich, als ich mich auf die Theke stützte und von meinem Kaffee schlürfte, ihn sagen hörte: „Du hast Cappuccino-Augen.“

Ich blickte ihn an. Und als ich verstand, was geschah, erschrak ich und versteckte mich. Ich kam aus dem Versteck nach zwei Wochen, stützte mich wieder auf die Theke und schlürfte vom Kaffee, den er mir vorsetzte. Omar. Ja, er heißt Omar. Ich sah in seine Augen und sah ein „Ja“. Nach der Arbeit trafen wir uns zu einem ersten verbotenen Treffen. An jedem Tag, mittags, gingen wir in der zentralen Postzentrale verloren, und an diesem so beschäftigten Ort trafen wir uns, schlichen uns hinaus, und gingen herum.  

Wir trafen uns immer in der glühenden Hitze des Sommers, ich in hauchdünnen, rosaroten und weißen Kleidern, er in Jeans und gebügelten Hemden mit Knöpfen und kurzen Ärmeln. Ich erinnere mich besonders an ein lila-farbiges kariertes Hemd, und an ein weißes Oberhemd, halb durchsichtig, das betonte, was darunter war. Ich liebte es, wie er sich unter dem weißen Stoff wie ein unheimliches Tier bewegte, liebte den Gedanken an eine Frau in einem weißen, geschmeidigen Hemd und schwarzen Unterhosen. Ich sprach nicht viel in den ersten Treffen mit Omar, aber ich dachte viel. Während einiger Wochen zogen wir herum, berührten uns nicht, aber dachten viel. Und die ganze Zeit flanierten wir. Wir spazierten wieder und wieder auf denselben leeren Wegen, saßen wieder und wieder auf denselben Bänken und auf denselben Felsen, gingen durch den kurzgeschnittenen  Rasen im Jemin-Mosche-Quartier und wieder zurück und über die Hügel weiter östlich, im gefährlichen Gebiet, das einmal Niemandsland war, und langsam langsam berührten wir uns. Wir begannen, uns zu berühren.

Und an einem der Samstage, einige Monate nach Beginn der Intifada, machten wir, Omar und ich, eine Reise im Land.

Ich erinnere mich an die Luft. An die Farben. An den Geruch. 

Ich erinnere mich, dass die Luft höllisch brannte. Ich erinnere mich, wie die grünen Farben verschwanden, und wie golden-braun-schwarze Farben wie eine Tabakmischung begannen, die Welt zu beherrschen, und ein Brandgeruch steht mir in der Nase, dringt in meine Kehle und erfüllt mich mit süßer Trockenheit. In jenem Jahr war der Geruch des Brandes besonders stark. Junge Araber brannten Felder und Wälder nieder, von der Straße konnte man schwarze Flecken in den Wäldern sehen, und hässliche Brandstellen verbreiteten sich auf der gelblichen Haut der satten Weizenfelder.

Zunächst schlossen wir die Fenster, schalteten Klimaanlage und Radio ein, und die Welt zog an uns vorüber wie ein Verwandter, der verreist ist und farbige Postkarten schickt. Unbekannte Personen betrachteten uns schweigend wie altes Fotopapier. Vom Radio ertönten Klaviermusik und sanfte, unwirkliche Klänge, die unsere Gesichter wie Seide einwickelten. Omar lachte: Jetzt sterben wir wie Kinder im Versteckspiel, die Tür des Kühlschranks schließt sich und die Temperatur sinkt.    

"Als mein Buch 1994 herauskam, erlebte ich etwas, was ich keinem Schriftsteller wünsche. Fast ein Lynchmord." Ssmadar Herzfeld über ihr Buch "Inta Omri". Hier der Beginn davon.
Ssmadar Herzfeld. Photo: Debbie Cooper

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Benjamin
Benjamin
4 Jahre

Sehr interessant! Inta Omri hat uebrigens noch eine dritte Bedeutung, naemlich „du bist mein Leben“ (Omar ist ein Name, der als Bedeutung „Leben“ hat, wie Chaim in Hebraeisch).
Ueber die Geschichte des Liedes kann man ganze Bibliotheken fuellen. In Zusammenhang mit dieser Geschichte sei nur erwaehnt, dass es DAS arabische Lied ist, aber auch SEHR beliebt in Israel, und es gibt auch einige Hebraeische Versionen.
Es ist gewissermassen eine Nahost-Version von „Lili Marleen“, auch das ein Lied, das auf allen Seiten der Fronten gesungen wird (und in Fassbenders wunderbarem Film des gleichen Titels thematisiert wurde).
Ob die Liebe – wie bei „Inta Omri“, ein Liebeslied – staerker ist als der Hass, vielleicht sogar der Tod? Wie wird dieser „Romeo und Julia“ ausgehen?
Man kann gespannt sein…

Anonymus
Anonymus
4 Jahre

Nebenbei wird Literatur hier nicht normalerweise freitags veroeffentlicht (heute ist Mittwoch)

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