Israel, Roman, Depression

Die blaue Höhle

Der unerwartete Tod seines Vaters, die Schließung der Start-Up-Firma, die er gegründet hatte, und die Trennung von seiner Verlobten, drei Wochen vor der geplanten Trauung, brachen Itzchak Gawischi das Herz und warfen ihn in eine Depression. In den Jahren danach, nachdem er endgültig die Krise überwunden hatte, schrieb er die Trilogie „Die blaue Höhle“ (Koral, 2020): „Schwangere Männer“, „Die blaue Höhle“, und „Der Ort“. Der folgende Auszug ist der Beginn des dritten Buches „Der Ort“. Der Name bezieht sich auf den Ort: das Krankenhaus in Kalifornien, wo die Hauptfigur sich erholt, aber auch auf den geistigen „Ort“ seines Bewusstseins. Im zweiten Buch erfährt der Leser, wie die Realität vom Bewusstsein verändert wird, im ersten Buch lernt der Leser die Figuren und ihren reichen und komplizierten Hintergrund kennen.

Die Trilogie verfolgt die Beziehungen der Hauptfigur, Mosche Rosman, vom Alter von achtzehn Jahren bis zum Alter von vierzig Jahren, mit den drei Frauen seines Lebens: Juliet, wie im Lied der „Dire Straits“, die er als Soldat kennenlernt, ist eine Libanesin tscherkessischen Ursprungs. Karen ist eine amerikanische Jüdin, die er in einem Kibbuz im Süden des Landes kennenlernt, und nach seinem Militärdienst fliegt er mit ihr in die USA, um dort mit ihr zu leben. Hila, die „vollkommene Israelin“, lernt er in Tel-Aviv kennen, und sie ist es, die ihm – wieder zurück in den USA – das Herz bricht.

Die Trilogie ist fiktiv mit Elementen von Science-Fiction. Aber in jeder erfundenen literarischen Handlung ist auch ein Kern von Wahrheit, so wie der Traum Teil der Realität ist.

Heute, der 16.10., ist Mosches Geburtstag. 

Die Trilogie "Die blaue Höhle" von Itzchak Gawischi verfolgt die Beziehungen der Hauptfigur, Mosche Rosman, mit den drei Frauen seines Lebens: Juliet, eine Libanesin tscherkessischen Ursprungs, Karen, eine amerikanische Jüdin, und Hila, die "vollkommene Israelin".

Die blaue Höhle

von Itzchak Gawishi

Übersetzung: Uri Shani

Schwarz

In den ersten Tagen, man könnte sagen in den ersten Wochen, schmiss Hila den Betrieb wie ein richtiger Kerl, obschon sie nicht weniger als ich verloren hatte, und vielleicht sogar noch mehr – das Baby, und jetzt vielleicht noch mehr.

Sie hatte „umgeschaltet“, in ihrem Bewusstsein, in ihrer Einstellung. Was ja eigentlich nur beweist, dass es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, oder zumindest zwischen Mensch und Mensch, sodass zwei Menschen in einer ähnlichen Situation ganz anders reagieren.

In Wahrheit bin ich wegen der Lüge so tief hinabgesunken.

Nur schon der Gedanke, dass ich mit einer Frau lebe, die ich liebe und die mich schon seit fast einem Jahr belügt, das hat mich zertrümmert, mehr noch als der Verlust des Kindes, und mehr noch als die Untreue – die Lüge!

Wie konnte sie ganz normal weitermachen, mich lieben und mir die ganze Zeit sagen: du bist mein Einziger, du bist mein Schatz… das ist unser Kind, das in meinem Bauch wächst, und die ganze Zeit wusste sie, dass es nicht meines war, wie?

Das konnte ich nicht verstehen.

Auch die Seele oder das Bewusstsein, oder wie man das nennt, wollten es nicht verstehen, denn es widersprach meiner Auffassung über Lüge und Wahrheit.

Diese dünne Grenze zwischen dem, was geschieht, und dem, was geschehen könnte, war so verschwommen, dass ich nicht mehr wollte.

Ich sank und sank und sank.

Ich wollte nichts mehr.

Aber sie, im Gegensatz dazu, handelte aus einem Beschluss heraus, vielleicht war es der Überlebensdrang, oder vielleicht aus Schuldgefühlen, ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall operierte sie, wie gesagt, wie eine Amazone.

Sie hielt sich mit den Fingernägeln am „uns“ und an der „Einigkeit“ fest, wie wenn nichts geschehen wäre: „Wir“ schaffen das zusammen, sagte sie. „Ich werde es nicht vergessen, wie du mir die Hand hieltest, die ganze Zeit bis zur Geburt, die nicht stattfand… aber du warst für mich da. Du liebst mich wirklich, und ich werde alles tun, damit wir es wieder gut zusammen haben.“

Aber sie sagte nicht mehr, dass sie mich liebe, und ich fühlte es, dass sie mich nicht mehr liebte. Wie?

Das kann man nicht erklären.

Ich liebte sie immer noch, obschon ich nicht sollte, denn sie war es ja, die mich angelogen und hintergangen hatte, und ich, was hatte ich gemacht?

Ich war da, für sie, und liebte sie, und ich liebte sie auch jetzt noch.

Warum?

Weil ich sie liebe, weil ich sie gewählt hatte.

Als sie uns die abendliche Mahlzeit vorbereitete und sagte: „Ich mache uns ein verwöhnendes Abendbrot, zum Glück haben wir eine Menge Konservendosen mit Dingen, die du magst.“ Und zehn Minuten danach, als wir den Chowder, die sämige Fischsuppe löffelten, die ich normalerweise sehr gern habe und mich immer wieder wundere, wie die Amerikaner so gutes Essen aus Konservendosen machen, und sie servierte auch die Erbsen und den Thunfisch, und alles war so schnell bereit, da sie ja eigentlich nur alles aufgewärmt hatte – da konnte ich es nicht mehr genießen, die Mahlzeit hatte keinen Geschmack, und ihr Lächeln schien mir aufgesetzt.

Ich aß ein wenig, wie eine Maschine, die Benzin braucht, obschon ich absolut keine Lust hatte, und dann, von nirgendwo, ganz unerwartet, erinnerte ich mich an Juliet. Warum habe ich Juliet verlassen?

Wozu brauchte ich diesen ganzen anstrengenden Marsch durch diese Beziehungen?

Juliet hätte uns niemals etwas aus Konservendosen aufgetischt, Juliet war das Wahrhaftigste, das es gibt, und sie lächelte nie, nur damit ich zufrieden sei. Was so gut mit Juliet war, das war sie! Und sie versuchte nie, eine Andere zu sein, für niemand.

Sie war so jung, aber auch sehr erwachsen: Ich sehne mich nach Juliet!

Warum bin ich hier?

Warum bin ich mit dieser Frau mit dem falschen Lächeln, was ist mit meinem Leben geschehen?

Hila gab sich Mühe, aber wie lange kann man sich Mühe geben, wenn dein ‚Partner‘ schon in einer anderen Welt ist? Nicht einfach, das Ganze.

Als sie aufgab, nahm ich es ihr nicht übel. Ich rege mich überhaupt nicht mehr auf. An jenem Tag, als John versuchte, mit mir zu sprechen, hörte ich schon gar nicht mehr zu.

John und Dick sprachen noch und noch, und mir war es egal, worüber sie sprachen.

Plötzlich klopfte jemand an der Tür. John sprach mit jemandem, der dann eintrat. Und nach ihm noch zwei, zusammen drei, zwei sehr große Männer und eine Frau, alle schwarz.

Sie trugen keine Krankenschwesterschürzen, wie man es in den Filmen sieht, es sah eher wie Polizieuniformen aus, aber mehr grün als blau.

Sie baten mich, in den Krankenwagen zu steigen, und trotzdem der größte unter ihnen, wirklich groß, sogar grösser als John, immer wieder sagte: „Please, Sir“, war es klar, dass seine Höflichkeit mit diesen beiden Wörtern aufhört.

Er brauchte nicht einmal den Revolver, den er im Gürtel hatte, um mich zu überzeugen, dass ich seiner Aufforderung folgen „wolle“…

Ich wusste, dass es egal ist, wohin sie mich bringen würden; die Nazis verschleppten Viktor Frankl nach Auschwitz, aber er hatte noch immer die Gewalt über sein Bewusstsein, und genauso konnte ich in eine grenzenlose Welt fliehen – davon konnten sie mich nicht abhalten. Schon im Krankenwagen schloss ich die Augen und versuchte, mich an Juliet zu erinnern. Ich versuchte, zu einem Leben mit ihr zu entfliehen, zu dem Leben, das wir hätten haben können, und wenn ich mich genug anstrengen würde, war es vielleicht noch möglich. Wenn ich es schaffen sollte, zu ihr zurückzukehren und bei ihr zu bleiben. Für einen Moment konnte ich mir die Wendung in der Handlung vorstellen, dass wir uns gar nicht getrennt hätten, und dann, noch bevor ich angekommen war, wohin sie mich brachten, hatte ich auch schon logische Bestätigungen gefunden, wie unser gemeinsames Leben sich entfaltet hatte.

Irgendwann nahm ich wahr, dass jemand aus „jener“ Welt mit mir sprach, aber ich fand keinen Grund, warum ich ihn an meiner „neuen Welt“ teilnehmen lassen sollte. Mit allem Respekt vor diesem Menschen, egal, ob es ein Beamter, ein Polizist, ein Psychologe oder ein Psychiater war, er konnte nicht verstehen, wovon ich sprach…so dachte ich. Wer konnte schon verstehen, dass die Welt quantisch war?

Ich erhielt eine Spritze – diese Menschen leben in einer chemischen Welt, gib dem Menschen eine Spritze, und er wird sich besser fühlen.

Aber das funktioniert nicht so!

Der Mensch ist keine Maschine, die physische Existenz des Menschen ist nur ein winziges Partikel in seinem Sein, Tatsache: ich kann in der Zeit herumfliegen!

Aber das, wie gesagt, sagte ich ihnen nicht. Auch wenn sie mich an einen elektrischen Stuhl anschnallen würden, würde ich es ihnen nicht sagen. Warum sollte ich?

Wer sagt schon, dass ich über alles, was in meinem Kopf vor sich geht, berichten muss?

Wie verändert das die Tatsache, dass ich mein Baby verloren hatte?

Das ja eigentlich gar nicht meines war…

Und schlimmer als das, ich verlor meine geliebte Frau!

Und egal, was jetzt geschehen würde, eines war klar – ich hatte die Einigkeit verloren, die zwischen uns war, und die konnte ich nicht mehr zurückerlangen!

Sie war die eine und Einzige, und ich hatte sie verloren.

Und wenn es die Eine nicht gab, so hatte ich sie trotzdem verloren, denn ich hatte den Begriff der „Einzigen“ verloren, auf jeden Fall hatte ich die Liebe meines Lebens verloren.

Hühner vor der Schlachtbank

Nach einiger Zeit öffnete ich ein Auge ein wenig und fand mich auf einem alten Eisenbett wieder. Im Zimmer waren noch sieben andere Betten (vier auf jeder Seite).

Es war schlimmer als in den Filmen.

Der Gestank war grässlich, man kann es sich gar nicht vorstellen. Die Filme geben die Gerüche noch nicht wieder, wer will schon einen stinkenden Film sehen? Der Gestank war so schlimm, dass die meisten Menschen lieber sterben würden, anstatt das aushalten zu müssen.

Aber mir machte es nichts aus, im Gegenteil, ich versuchte herauszufinden, was ich rieche. Es war eine Mischung von Ammoniak, Kot und sonstigen Exkrementen, die ich nicht identifizieren konnte. Die anderen Patienten sahen eher wie Hühner vor der Schlachtbank als wie Menschen aus. Ich weiß nicht warum, aber man hatte mich an Händen und Füssen ans Bett gefesselt. Es war mir egal, aber es war merkwürdig. Es schmerzte nicht, denn ich fühlte nichts.

Es waren dort auch ein paar schwarze Angestellte, weniger groß und weniger furchterregend als diejenigen, die mich abgeholt hatten, aber mit hinterhältigerem Blick in den Augen.

Wenn die vorigen sozusagen Gesandte des Teufels waren, waren diese niedriger eingestuft, und ich war offenbar schon dort, in der Hölle!

Das Bett war eher eine Folterbank als ein Bett. Das rostige Eisen und die Lederriemen, mit denen ich an das Eisen gebunden war, erinnerte mich an die Inquisition. Merkwürdig, dachte ich, in der Zeichnung von Leonardo da Vinci, die die Vollkommenheit definiert, liegt der Mensch genauso wie ich, nur dass seine Arme und Beine von einem Kreis begrenzt sind. Wenn sie mich wie in der Zeichnung festgebunden hätten, bräuchten sie ein rundes Bett – das macht keinen Sinn! Nicht, dass es überhaupt einen Sinn macht, dass ich festgebunden bin…

Dvorin sagte mir in einem unserer Gespräche: Du stehst auf dem äußersten Punkt der Klippe, dort ist zwar die Aussicht am Schönsten, aber denk daran, dass es dort auch am Gefährlichsten ist. Ich möchte dich nicht eines Tages in einem Irrenhaus an ein Eisenbett gebunden besuchen, nachdem du dich mit den Gorillas geschlagen hast, die dich abholen kamen.

Ich sagte ihm: Du hast zu viel Filme gesehen.

Und er sagte: Nein, das habe ich erlebt, es geschah meinem Vetter….

Aber in Dvorins Geschichte schlug sich sein Vetter mit den Gorillas, so hatten sie sozusagen eine „Rechtfertigung“…

Damals entsprangen auch die ersten Keime der „Rechtfertigungs“-Theorie, die besagt: Nur in der Zukunft wird man wissen, was die Rechtfertigung für Dinge in der Gegenwart ist….

Aber jetzt, wie konnte ich die Begründung für etwas finden, in dem ich mich noch immer befand? Und es sah so aus, als würde diese schreckliche Geschichte erst ein Ende nehmen, wenn mein Leben ein Ende nähme.

Im Krankenhaus

‚Juliet, Juliet, when we were young‘, sang ich traurig. Manchmal hörten die Ohren andere Geräusche, die nicht mit mir und mit Juliet zusammenhingen. Manchmal waren sie so laut, dass ich sogar den schrecklichen Gestank nicht roch. Was bedeutet, dass die Sinne auf den Grad der Heftigkeit reagieren – was am Heftigsten auf die Sinne einbricht, das wird von diesem Sinn aufgenommen. Es ist bekannt, dass zwei Geräusche im Hirn zu einem werden. Irgendwann während dieser schrecklichen Nacht kamen die Leute mit den grünen Uniformen ins Zimmer, und diesmal wütete und kreischte der Mann, der mit ihnen war, und dies erst, als die Polizisten ihn mit Handschnellen ans Bett gekettet hatten.

Die Ereignisse hörten nicht auf, und ich empfand Einsteins Relativitätstheorie an meinem Leibe: eine Nacht von zehn Stunden (im kam etwa um zehn Uhr nachts an, und der Albtraum hatte etwa um acht Uhr morgens ein Ende) kann in Windeseile ein Ende nehmen, einschlafen-aufwachen, und schon waren zehn Stunden vorüber, oder sie war wie diese hier, und nur schon über diese Nacht könnte ich ein ganzes Buch schreiben, denn die Ereignisse folgten aufeinander ohne Unterbruch, und deshalb war meine Zeitauffassung davon beeinflusst. Der Begriff der Zeit, der das Resultat der Erdbewegung in Beziehung zur Sonne ist, hatte keinen Einfluss auf meine individuelle Empfindung der Zeit.

Was hätte wohl meine Mutter jetzt gedacht, wenn sie dieses schreckliche Theater hier sehen würde?

Ihr genialer Sohn, der Physiker, liegt in einem Irrenhaus (keine Ahnung wo), und die Ereignisse um ihn herum sind die schrecklichsten, die man sich nur vorstellen kann, und er erklärt sich physikalische Begriffe. In jener Nacht brachten sie noch einen ins Zimmer, und so waren am Morgen alle Betten voll.

Diesmal war es eine Frau, eine schwarze, eine schöne.

Sie schrie, brüllte, dass man sie vergewaltigt habe, und zeigte auf den Polizisten, der sie gebracht hatte. Der Dürre, den sie davor gebracht hatten, wütete so auf seinem Bett, bis er es schaffte, sich umzudrehen und das ganze Bett mit ihm umzukippen.

Ich hielt es nicht mehr aus und drückte die Augen so fest zu, wie ich konnte.

Die Trilogie "Die blaue Höhle" von Itzchak Gawischi verfolgt die Beziehungen der Hauptfigur, Mosche Rosman, mit den drei Frauen seines Lebens: Juliet, eine Libanesin tscherkessischen Ursprungs, Karen, eine amerikanische Jüdin, und Hila, die "vollkommene Israelin".

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Erst einmal Mazal tov an den Autor! Moege das neue Lebensjahr ihm bessere Nachrichten als die des bisherigen Lebens – sowohl seines privaten als auch das seiner Figuren – bringen..

Rosebud
Rosebud
4 Jahre

…eine Frage an den Autor habe ich – er muss sie natuerlich nicht beantworten – als Moshe den grossen Betrug von Hila, seiner dritten Liebe realisiert, da sehnt er sich nach Juliet, der ersten Liebe. Warum „ueberspringt“ er Karen, die zweite Liebe? Sie wird zumindest in dem Ausschnitt nicht erwaehnt…

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