Yossi Sucary, Großmutter, Lybien, Shoa, Weltkrieg, Israel, Schule, Diskriminierung

Emilia und das Salz der Erde

„Emilia und das Salz der Erde“ (Babel, 2002) ist ein Meilenstein in der neuen hebräischen Literatur. Der Ausdruck „das Salz der Erde“ ist dem deutschsprachigen Leser vielleicht aus der Bergpredigt bekannt, ist aber auch im neuen Hebräisch gut bekannt als Bild für die Besten des Volkes. In diesem Buch erscheint zum ersten Mal eine Jüdin aus einem arabischen Land (in diesem Fall Libyen), die im Gegensatz zum Stereotyp der arabischen Juden steht. Sie ist eine schwarze, kaltblütige Jüdin, sehr klug, hasst das Kochen, fechtet die israelische aschkenasische Hegemonie an und ist keine Zionistin. Sie ist eine intellektuelle Großmutter und keine Quelle von Barmherzigkeit, Gutmütigkeit oder emotioneller Wärme. 2006 erschien das Buch auf Französisch.

Yossi Sucary ist Schriftsteller und Dozent, erhielt 2014 den Brenner-Preis, 2015 den Preis des Ministerpräsidenten und 2015 den Preis des israelischen Institutes in Washington.

In "Emilia und das Salz der Erde" (Babel, 2002) schreibt Yossi Sucary über seine Großmutter, eine schwarzen, kaltblütigen Jüdin aus Lybien, die sehr klug ist, das Kochen hasst, die israelische aschkenasische Hegemonie anfechtet und keine Zionistin ist.

Emilia

von Yossi Sucary

Übersetzung: Uri Shani

Ich hob meinen Blick zum Himmel, um den Wortfluss aus mir hinauszuschütteln, damit er in einem tiefen Loch in meinem Bewusstsein verschwinde. Aber stattdessen überfiel mich mit aller Kraft der Eindruck einer der letzten Begegnungen, die ich mit ihr hatte: Sie, meine Mutter und ich schauen fern am Abend des Unabhängigkeitstages, in der nackten Wohnung in Pardess Katz, und als die Nationalhymne ertönte, setzte sie sich in ihrem Stuhl gerade auf und sagte mit einem missachtenden Blick und sachlicher Stimme: „Benghasi. Ich muss nach Benghasi fahren. Der Mensch muss dort begraben werden, wo er gelebt habt, nicht, wo er gestorben ist.“

Ich verstand, dass ich Emilia erst werde gedenken können, wenn ich die Grabstätte im Friedhof in Givatayim verlassen würde. Ich betrat das Restaurant im Stadtviertel, wo tripolitanisches Essen serviert wird. Ich war enttäuscht: Die Mahlzeit war ausgezeichnet, aber ermöglichte mir nicht, von meiner Großmutter zu entkommen. Es erinnerte mich daran, wie unzureichend ihre Hände waren, was das Kochen anging. Für sie war die Küche eine Falle. Auch in den schwersten Wintern öffnete sie weit die Fenster, damit die Kochgerüche nicht dort gefangen blieben und sie im gängigen Bild der orientalischen warmherzigen Frau erstickten. Mehrmals sagte sie, dass all diese Marokkanerinnen, die nicht aus der Küche hinauskommen, dort ihre Familien zerkochen, sie den Mündern der Aschkenasen mit scharfer, Schuldgefühle auslöschender Sauce servierten.

Als ich den leichten Wind von Mitte November verspürte, schlich sich bei mir der Gedanke ein, dass meine Großmutter ihr Leben für mich aufs Spiel gesetzt hat, ähnlich wie das die Großeltern meiner Klassenkameraden getan hatten. Sie spielte dieselbe Rolle – nur in einer anderen Welt: schwarz statt weiß. Die leuchtenden und stolzen Buchstaben, die meiner Großmutter Namen auf dem Grabstaben ergaben, drängten sich mir in ihrem Tod auf, so wie ihre trotzige Haltung sich mir in ihrem Leben aufgedrängt hatte. In meinem Kopf schwebte jetzt langsam eine ihrer ständigen Äußerungen: „So belogen sie Großvater Docha. Sie brachten uns in der Nacht, vortäuschend, es sei so geschehen, damit die Araber uns nicht verschwinden sähen, und wir gingen ihnen wie Blinde hinterher. Aber in Wahrheit brachten sie uns so, damit wir unseren Grabstein nicht sähen, damit wir dächten, dass nach der Dunkelheit das Licht käme.“ Plötzlich schienen mir diese Worte von ihr eindringlicher denn je. Sie jagten mir sogar eine gewisse Furcht ein. Ich versuchte, mich an eine andere Aussage von ihr zu erinnern, dass sie ein Gegengewicht darstelle, sie erweiche, aber alles, was mein Gedächtnis mir gab, verstärkte diese Worte nur. Mein Versuch, eine Parallele zwischen ihr und den Aschkenasen zu ziehen, machte sie wütend. Auch sie dachte zwar, dass sie und die Aschkenasen am gleichen Spiel mitspielten, aber für sie waren jene die Spieler und sie die Ausgetrickste, jene waren die Hände, die an den Stricken zogen, und sie war ein nebensächlicher Bauer auf ihrem Schachbrett, damit sie etwas im günstigen Moment zu opfern hätten. Ich schob den Teller Chraime von mir weg und nahm einen Schluck Mineralwasser. Ich nahm an, dass ich am Ende der Emilia einen Strich spielen und ihre Figur aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel erfassen könnte. Abends, als ich nach Hause kam, erschien sie mir in verschiedenen Versionen, die, so glaube ich, noch nie so öffentlich gesehen wurden, und in allen diesen Versionen blieb ihre Seele immer noch durchlöchert.

Am nächsten Morgen, als ich Bücher in meine Tasche steckte, tauchte in meinem Kopf ein Erinnerungssplitter von ihrem Duft auf. Ich dachte an ihn, bis das Regal der hebräischen Literatur in meiner Bibliothek mein Blickfeld erfasste. Es war mir plötzlich unwohl dabei, das Regal und der Duft meiner Großmutter konnten nicht friedlich unter einem Dach weilen. In allen diesen Büchern gab es keine einzige Zeile, mit der sich meine Großmutter hätte identifizieren können. Sie hätte Abscheu gegenüber dem meisten empfunden, was dort geschrieben stand, vor allem gegen die Beschreibung der orientalischen Juden. Sie war alles andere als die gastfreundliche, herzliche, falsches Hebräisch sprechende, naive Frau, die voller blumiger Fantasie war und nicht fähig, die Realität richtig zu sehen. Nein, sie war kalt, ihr Hebräisch war perfekt, sie verdächtige obsessiv Fremde, und vor allem – sie hatte eine wunderbare Fähigkeit, ganz genau den Kontrast zwischen den äußerlichen Phänomena und ihrer tatsächlichen Natur zu erkennen. Anstatt zur „Kamera obscura“ zu fahren, wo ich begann, Philosophie zu unterrichten, setzte ich mich auf einen Stuhl und versuchte in mir die Eigenschaften zu orten, die ich von ihr geerbt hatte, aber ich kam zu keinem Schluss, und als schon eine eindeutig gemeinsame Beschaffenheit an den Pforten meines Hirns erschien, zog ich es vor, sie nicht zu zählen, denn vielleicht würde sich herausstellen, dass sie nur aus blinder Selbstliebe resultierte. Ich tauschte diesen Versuch mit allgemeinen Gedanken über das Verhältnis zwischen mir und Emilia aus. Auch in dieser Angelegenheit kam ich nicht zu einer klaren Folgerung. Nur zu einer: dass ihre durchlöcherte Seele der Grund ist, auf dem ich mein ganzes Leben stehe.

Der erste Ausdruck davon wurde mir klar, als ich sieben war, in der Zeit vor dem Sechs-Tage-Krieg. An jedem Tag ging ich in die Schule, in mir den Konflikt tragend, für den meine junge Seele zu klein war. Einerseits wusste ich, dass ich wieder hören werde, wie die meisten Lehrer und die Rektorin Zwia, die mich mit großer Liebe und ohne jegliche Überheblichkeit förderte, über die Araber wie über einen Teufel sprachen, der nur Juden umbringen will; andererseits widerhallten in mir die Worte meiner Großmutter, die immer wieder sagte, dass wir den Arabern viel näher seien als diesen Juden, die hier die Dinge beherrschten. Während der Jahre entwickelte ich verschiedene Wege, mich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Alle waren nur Zeitzünder. Im besten Fall würde ich morgen explodieren. Im weniger guten Fall – nach ein paar Minuten. Manchmal, an einem Tag, an dem ich die notorisch gleiche Rede der Rektorin gehört hatte, kam ich nicht direkt von der Schule nach Hause. Ich musste zuerst Emilia treffen, sie wieder über die Araber ausfragen. Von ihr ein Geständnis hören, dass sie sich geirrt habe. Das gelang mir nie. Sie wiederholte immer wieder die gleiche Version: Wie in jedem Volk gibt es auch bei den Arabern verschiedene Menschen, aber alles in allem habe sie von den Arabern ein tausendmal besseres Entgegenkommen als von den Juden in Israel erhalten.

Gegen Ende dieser Zeit spürte ich, dass ich mit diesem Konflikt nicht mehr alleine fertig werde. Ich enteignete aus meinem Kopf seine Exklusivität. Ich organisierte ein Gespräch zwischen meiner Großmutter und der Rektorin. Die meiste Zeit existierte zwischen den beiden die gewohnte wohlwollende und zugleich herablassende Haltung einer aschkenasischen Frau gegenüber einer orientalischen Frau, aber während des Gesprächs wechselten sie die Rollen. Zuerst war die Rektorin sehr wohlwollend Emilia gegenüber, und Emilia antwortete mit Feindseligkeit. Sobald das Thema „Araber“ auf den Plan kam, kehrten sich die Verhältnisse um: Emilia wurde plötzlich weich. Sie erzählte der Rektorin in freundschaftlichem Ton, wie Ssuha, ihre arabische Nachbarin, ihr Leben für sie aufs Spiel gesetzt und ihre Kinder in einem geheimen Keller in ihrem Haus versteckt hatte, als die Deutschen sie in ganz Benghasi gesucht hatten. Sie legte sogar, im Gegensatz zu ihrer Gewohnheit, ihre Hand auf diejenige der Rektorin, während sie davon erzählte, und sagte ihr in herablassendem Ton, dass es ihr leid tue für die Aschkenasen, dass sie nicht die Araber als Nachbarn gehabt hätten. Die Rektorin reagierte mit einem zornigen Gesichtsausdruck. Großmutter ignorierte das und fuhr in gleichem Ton fort zu erzählen, dass in Libyen die Juden und die Araber aneinandergebunden waren wie siamesische Zwillinge, und die Zionisten waren es, die sie auseindergerissen hatten, in einer Operation, die vor allem die Narkose des Bewusstseins beinhaltete. Nach etwa drei Minuten unterbrach die Rektorin Emilia und behauptete, die Araber bedrohten unsere Existenz hier, und alle Wege, sie zu besiegen, seien erlaubt. Emilia blieb auf ihrem Kurs, bis Zwia sie mit einem herausfordernden Ton fragte, wo sie denn gewesen sei, als ihre Kinder sich versteckt hätten. Emilie richtete sich auf, krempelte den Hemdsärmel hoch, zeigte einen mit einer Zahl tätowierten Unterarm und sagte mit mechanischer Stimme: „Ich war mit den Aschkenasen zusammen in Bergen-Belsen. Schon damals wolltet ihr mich zu Dreck machen.“  

  

In "Emilia und das Salz der Erde" (Babel, 2002) schreibt Yossi Sucary über seine Großmutter, eine schwarzen, kaltblütigen Jüdin aus Lybien, die sehr klug ist, das Kochen hasst, die israelische aschkenasische Hegemonie anfechtet und keine Zionistin ist.
Foto: Sharon BH (Sharon Stern)

Uri Shani ist in der Schweiz geboren und lebt seit 35 Jahren in Israel. Er ist professioneller Übersetzer für Literatur aus dem Hebräischen ins Deutsche. Sein "Übersetzer-Credo" könnt ihr im Link nachlesen:

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Rosebud
Rosebud
4 Jahre

Sehr interessant! Ausser falschen Klischees ueber sefardischen Juden wird hier – am Schluss des Auszugs – auch eine selten besprochene historische Episode erwaehnt, naemlich die Nazi-Besatzung im Nahen Osten, einschliesslich Ghettos und Konzentrationslager. Leider gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg – so wie in Polen – Pogrome gegen Juden, zB in Tripoli (1945 und 1948)…

Rosebud
Rosebud
4 Jahre

PS der Titel im Original ist uebrigens ein Wort laenger als hier uebersetzt: „Emilia und das Salz der Erde. (Ein) Gestaendnis.“

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